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MARXISTISCHE BLÄTTER/556: "Extra Doof" - Der Krieg, die NSA und die Bundesregierung


Marxistische Blätter Heft 5-13

"Extra Doof"
Der Krieg, die NSA und die Bundesregierung

von Klaus Wagener



Die Kanzlerin ist bekanntlich die ungekrönte Meisterin des ebenso schlichten, wie kontrafaktischen Deklarativsatzes. "Deutschland geht es gut", "Griechenland ist auf einem guten Weg", "Die deutschen Atomkraftwerke sind sicher", Guttenberg habe ihr "volles Vertrauen". Das sind Highlights.

Und nun: "Deutschland ist kein Überwachungsstaat. Deutschland ist ein Land der Freiheit." Das ist keck und dürfte angesichts der nun bekannt gewordenen, globalen Vollüberwachung selbst von jenen nicht mehr so schlank behauptet werden, die angeblich nie etwas zu verbergen haben. Wirklich froh dürfte die düstere Erkenntnis wohl niemanden machen, dass die Begriffe Privatheit und Intimsphäre schon seit geraumer Zeit der Vergangenheit angehören. Selbst die FAZ mokiert sich über "die Strategie der Koalition, sich im Zuge des NSA Skandals extra doof zu stellen."


Klassenangst und Massenparanoia
Seit es Klassengesellschaften gibt, gibt es die Angst der Herrschenden vor den Beherrschten. (Das gilt naturgemäß insbesondere auch für Gesellschaften, in denen ausnahmsweise einmal die ehemals Beherrschten ihre noch immer mächtigen Beherrscher - zeitweise - niedergezwungen haben.) Im Imperialismus gesellten sich zu dieser Klassen-Angst mindestens drei weitere. Zum ersten die Angst vor den ins Kolonialjoch gepressten Völkern. Zweitens die vor imperialistischen Konkurrenten und schließlich - nach 1917 - die Angst vor der Staatsmacht gewordenen Systemherausforderung.

Ins Stadium imperialer Expansion getreten, bleibt es nicht bei der Markierung der (im Herrschaftssinn) realen Bedrohungslagen. Als konstitutives Element imperialistischer Machtausübung ist die gewaltlegitimierende Massen-Furcht durch die Konstruktion eines aggressiven, moralisch disqualifizierten Gegners immer neu herbeizuberichten. Naturgemäß unabhängig von der Faktenlage. Die Geschichte des Aufstiegs der "Einzigen Weltmacht" ist nicht nur eine Geschichte des Landraubes, des Völkermordes und der Sklaverei, sie ist auch eine der Angst und der Massen-Paranoia.


Enthüllung
Am 6. Juni diesen Jahres veröffentlichten "Washington Post" und "Guardian" Teile der von Edward Snowden kopierten NSA-Dokumente. Der Systemadministrator hatte weitreichenden Zugang zu klassifizierten NSA- und CIA-Informationen. Nun kam sukzessive immer mehr über die globale Kommunikationsüberwachung der US-Dienste und ihrer verschiedenen Hiwis zu Tage. Klar wurde vor allem, dass sich diese Überwachung keineswegs auf ihre PR-Funktion, die Jagd nach Terroristen, beschränkte, sondern dass eben alle Daten, die gewonnen werden konnten, auch gewonnen wurden und werden. Und dass auch alle übrigen Zwecke, die sich mit diesen Daten verfolgen ließen und lassen, die Mittel heiligen. Und zwar von der Industriespionage bis zu G20-Schnüffelei. Die Vorstellung, dass die USA für ihre 16 Geheimdienste, offiziell 80 Mrd. Dollar ausgeben, um einige ihrer ehemaligen, oder auch noch aktiven Warlords ausfindig machen zu können, mutete auch reichlich verwegen an.

Neben den Diensten der "Five Eyes" (USA, GB, Kanada, Australien, Neuseeland) sind die in der IT-Branche "üblichen Verdächtigen" naturgemäß mit an Bord. Bei den Microsoft, Apple, Google, Facebook und Co. sammeln sich, ähnlich den traditionellen Telefonkonzernen, einfach viel zu viele Daten an, als dass man sich eine solche Quelle ohne Zugriff der US-Dienste ernsthaft vorstellen könnte. NSA und GCHQ (Government Communications Headquater, GB) sitzen an den Schnittstellen der transatlantischen Kommunikationsströme, die das Rückgrad des globalen Datenaustausches bilden. Nach dem was bislang nach außen drang, bei Geheimdiensten kann ja sui generis von einer realen Kontrolle keine Rede sein, sollen Prism, Mainway, Marina, Nucleon, Stellarwind, Tempora, X-Keyscore nicht weniger als eine globale Totalüberwachung in Echtzeit realisieren.

Die engen Beziehungen zwischen CIA und Mossad sind hinlänglich bekannt. Aber auch Japan, Norwegen, Südkorea und Türkei dürfen sich als assoziierte Mitglieder dieses exklusiven Schnüffelclubs verstehen. Falls es eines Beweises für die Kooperationsbereitschaft der deutschen Dienste (BND, BfV) bedurft hätte, so wurde er auch in diesem Falle hinlänglich erbracht.


Geschichte
Mit der Errichtung zentralistisch organisierter Staatsstrukturen im frühneuzeitlichen Europa begann auch der Aufbau zentral gesteuerter Polizei-Organisationen. Seither wuchsen Bevölkerung, Produktion und Mehrwert und es wuchsen die Widersprüche und mit ihnen die Repressionsapparate. Und innerhalb der Repressionsapparate naturgemäß die Informationsbeschaffungsorgane, vulgo: Spionageabteilungen. Staatliche Macht wurde zu einer unmittelbaren Funktion ökonomischer Kennziffern. Lokomotiven, auch dieser Geschichte, waren die großen Kriege. Der Erste und der Zweite Weltkrieg und vor allem der durchaus nicht nur kalte Kalte Krieg gegen die Arbeiterbewegung, die sich erstmals in der Geschichte auch auf Panzer und Kampfflugzeuge stützen konnte. Zur Unterstützung der Hoovers und McCarthys hörte die NSA (Projekt SHAMROCK) nach 1945 sämtliche Auslandsgespräche der US-Bürger ab. Die globale Perspektive wird hier deutlich.

Die digitale Revolution sorgte dann für den entscheidenden Quantensprung. Der elektronische Rechner ermöglichte zum ersten Mal eine maschinelle Auswertung von Informationen. 1943 gelang es den Kryptoanalytikern in Bletchley Park mit dem speziell dafür entwickelten Colossus Mark II den Code der deutschen Enigma zu knacken. Damit war die Kumpanei der IT-Branche mit den Schlapphüten besiegelt. Mitte der 1970er Jahre eröffnete der serienmäßig produzierbare Mikroprozessor den Weg in die Miniaturisierung und Privatisierung. (Hier begann der Sozialismus eine entscheidende Schlacht zu verlieren.) Computer wurden privat bezahlbar und verfügbar und die IT-Revolution wurde zu dem großen Geschäft des 5. Kondratjew-Zyklus.

Informationen wurden damit in einem bis dahin nicht gekanntem Umfang maschinell speicherbar. Zwar war die Tonaufzeichnung und -wiedergabe schon Ende des 19 Jh. möglich, seit Anfang des 20. Jh. gab es Tonband- bzw. Drahttongeräte, aber nun wurden die gewonnenen Informationen auch maschinell bearbeitungs- und interpretationsfähig. Dadurch wurde die Analyse der geheim ermittelten, ungeheuren Datenmengen bspw. nach Schlüsselbegriffen, Verbindungsdaten oder Stimmprofilen überhaupt erst möglich. Und es wurde möglich, die verschiedenen Datensammlungen zusammenzuführen und mit einander abzugleichen. Die Raster- und Schleppnetzfahndung war geboren.

Kommunikationsdaten können nun mit Daten der Handystandortbestimmung, der öffentlichen Raum- und Objektüberwachung, der Autobahnmauterfassung, der Einwohnermeldeämter, der Straßenverkehrsbehörden, der Energie- und Wasserversorger, der Kranken- und Rentenversicherer, mit Bankdaten, Steuerdaten, mit Daten der Kreditkartenbetreiber, der GEZ, von Rabattsystemen, von biometrischen Passangaben etc. pp. zusammengefügt und zu einem beachtlichen Bild geformt werden, lange bevor ein Schnüffler losgeschickt werden muss.

Mit der Kommerzialisierung und Privatisierung des ehemals pentagongesteuerten Internet (www), der Verbauung entsprechender Netz-Infrastrukturen seit Beginn der 1990er Jahre, ergab sich die einzigartige Möglichkeit den globalen, in digitalisierter Form vorliegenden Datenfluss in Echtzeit abzugreifen und zu überwachen. Gleichzeitig explodierten die verfügbaren Datenmengen geradezu. Die Fähigkeiten, digitalisierte Informationen weltweit im Netz allgemein bereit zu stellen, sie - auch in der Cloud - jederzeit verfügbar zu halten, sie allgemein und gezielt auszutauschen und sie (auch für Produktion, Handel, Verkehr und Logistik) in Echtzeit abzugleichen, veränderten das gesellschaftliche Leben radikal. Das Internet wurde zum wichtigsten gesellschaftlichen Medium - und zur Quelle für die Geheimdienste. Die Beobachtung der globalen informationellen Vitalfunktionen, sozusagen am "offenen Gehirn", wurde möglich.

Das offenbar tief verankerte Bedürfnis, seine Erkenntnisse, Befindlichkeiten und Intimitäten einer mehr oder weniger großen Zielgruppe mitzuteilen, hat das Geschäft mit "sozialen Nerzwerken" boomen lassen. Facebook bspw. verfügt bei einer angeblichen globalen Marktdurchdringung von 11,7 Prozent und 1,11 Mrd. Nutzern offenbar über die hinreichende Werbewirksamkeit, die eine aktuelle Marktkapitalisierung von 81,01 Mrd. Dollar ermöglicht (29.7.13). Zwar dürfte ein nicht unerheblicher Teil der dort stattfindenden Kommunikation für die NSA-Analytiker nicht unbedingt von brennendem Interesse sein, aber darum geht es bekanntlich nicht. So etwas erledigen Maschinen. Aber schon die zu Marketingzwecken entwickelten Algorithmen geben einen Eindruck von der maschinellen Analysefähigkeit. Der Einblick in sowohl individuelle wie auch kollektive Befindlichkeiten und Bewusstseinsstrukturen dürfte historisch einzigartig sein.


Utah Data Center
Das Problem von NSA und GCHQ dürfte seither weniger die globale Datenerfassung als vielmehr die Speicherung und Auswertung dieser riesigen, täglich neu anfallenden Datenmengen sein. Für 2016 wird für die jährliche globale Internetkommunikation das Erreichen der ZB-Grenze prognostiziert (1 Zettabyte = 1018 Bytes). Im September diesen Jahres soll das 2 Mrd. Dollar teure, gigantische Utah Data Center (UDC) der NSA, eine Art riesige Festplatte, bei Bluffdale (Utah) fertiggestellt werden. Plus vermutlich noch einmal 2 Mrd. für Maschinen, Rechner, Software und Einrichtung.

Offiziell angestrebt ist eine Kapazität von "mehr als 100 Petaflop/s" (1 Petaflop/s = 1015 Rechenoperationen/Sekunde). Das ist mehr als das Dreifache des bislang leistungsstärksten Rechners der Welt, des chinesischen Tianhe-2 (Milchstraße-2) mit 33,86 Petaflop/s. In ihrer geheimen "Oak Ridge Facility" möchte die NSA bis 2018 die erste Exaflop-Maschine bauen (1018 Rechenoperationen). Hier geht es um die Dechiffrierung des AES 256-bit-Verschlüsselungsstandards in einer operativen Zeitspanne. (So etwas dürfte sich vermutlich eher als Hase-und-Igel-Spiel herausstellen.) Was bislang für das UDC durchsickerte, ist die angestrebte Speicherkapazität von 20 Terabyte/s (1012 Byte/s) bei einer Gesamtkapazität von 5 Zettabytes (1021 Byte). Das entspricht in etwa 710 Gigabyte pro Erdenbürger. Das reicht natürlich nicht. Das Fernziel der US-Schnüffler lautet: 1 Yottabyte: (1024 Byte, oder um es sinnlicher zu machen 1 000 000 000 000 000 000 000 000 Byte. Das entspricht einer Speicherkapazität von 700 handelsüblichen PC-Festplatten pro Erdenbürger) Womit auch klar ist, wozu derartige Super-Rechner überhaupt gebaut werden.

Klar ist aber auch, dass es hier nicht um die Abwehr einiger ominöser Verwirrter von der "Sauerland-Linie" (Hans-Peter Friedrich) geht. Wer die Kapazitäten aufbaut, die globale Kommunikation zu speichern und zu analysieren, der meint auch die globale Kommunikation. Und nicht weniger.


Zwecke
Nun mag sich nicht jeder Otto Schilys Meinung anschließen, die Angst vor dem Staat trage "wahnhafte Züge", doch die Frage nach dem "Warum?" dürfte manchem weniger klar sein. Hierzulande. In anderen Weltgegenden sieht das anders aus.

Der ehemalige US-Offizier Barton Osborn über das in Süd-Vietnam installierte computergestützte Mordprogramm "Phönix": "Ich wüsste von keinem Häftling, der während der Durchführung all dieser Operationen ein Verhör überlebt hätte. Sie starben alle. Es gab niemals eine überzeugende Begründung für die Behauptung, dass irgend eines dieser Individuen tatsächlich mit dem Vietcong zusammenarbeitete, aber sie starben alle, und die Mehrheit wurde entweder zu Tode gefoltert oder aus dem Helikopter geworfen." Die geforderte Quote (Body Count) lag 1969 bei 1800 pro Provinz. (Es gab 44 Provinzen in Südvietnam.)

Wie schon in Vietnam stützte sich auch das lateinamerikanische Mordprogramm Condor (ab 1975) auf ein ausgefeiltes US-amerikanisches Computersystem, diesmal unter der Bezeichnung "Condortel". Dokumentiert sind 50.000 Ermordete und 30.000 Verschwundene.

Die Bereitschaft imperialistischer Staaten, ihre Gegner notfalls physisch aus dem Weg zu räumen, ist hinlänglich bekannt. Die "Sicherheitsdienste" der USA glänzen auf diesem Gebiet nicht durch besondere Zurückhaltung, wie schon die Liste der von ihnen ermordeten Staatsoberhäupter zeigt. Nach dem Ende der SU gibt es nunmehr machtpolitisch wenig effektive Begrenzungen. Und nach dem 11. September dazu so etwas wie einen Blanco-Persilschein. Wie der US-Autor Jeremy Scahill (Blackwater, Dirty Wars) ermittelte, sind US-Killereinheiten in über 70 Staaten der Welt aktiv. Darüber hinaus, dort, wo es laut-Obama keine "american boots on the ground" gibt, besorgen Killerdrohnen das "dreckige" Geschäft. Der Drohnen-Body-Count liegt laut Senator Lindsey Graham derzeit bei 4700.

Natürlich gibt es nicht nur das JSOC (Joint Special Operations Command) und Hellfire-Raketen. Da gibt es nach wie vor die ganze Palette imperialer Herrschaftsausübung von der Bestechung über die Einschüchterung, die Rufschädigung und Zermürbung, die ökonomische Ruinierung wie ideologische Einflussnahme. Das klassische Programm hierzu heißt COINTELPRO und wurde von FBI-Chef Hoover gegen die KPUSA und die SWP (Socialist Workers Party), später auch gegen linke Studentenorganisationen und die Black Panther in Gang gesetzt. Das Arsenal reichte von der Unterwanderung über den Psychoterror, Justizwillkür, Schlägertrupps bis hin zum Mord. Mit dem "Krieg gegen den Terror" sind die alten Landsknechtstugenden zurück: Verschleppung, Folter, offener und geheimer Mord. Abu Ghuraib, Bagram und Guantanamo - auch hier braucht man Namen.

Auch nach dem vorläufigen Untergang der großen Herausforderung bleiben von den oben genannten großen Ängsten des Imperialismus mindesten drei übrig. Von der üblichen Massenparanoia-Produktion ganz abgesehen. Noch verfügt der US-Imperialismus über ein ökonomisches Potential, dessen BIP in etwa dem Doppelten der Volksrepublik entspricht. Doch die Gewichte verschieben sich schnell. So viel wie seine drei Verfolger (Ch, J , D) zusammen, wie noch vor wenigen Jahren, bringt er nun längst nicht mehr auf die Waage.

Noch verfügen die USA über Stärken im Agrar- und Energiesektor und die Dominanz im Bereichen IT, Massenkultur und Militärkapazität (inkl. Spionage). Doch all das ist nicht in Stein gemeißelt. Der US-Anteil an den globalen High-Tech Exporten ging im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts um 7 auf 15 Prozent zurück. 2002 forderte Donald Rumsfeld in seiner Militärdoktrin die Fähigkeit, auf vier größeren Kriegsschauplätzen Abschreckung zu erreichen und in der Lage zu sein "zwei Aggressoren gleichzeitig zu besiegen". Nun, nach Irak und Afghanistan, musste US-Stabschef Martin Dempsey für etwas Realismus in der Kriegshetze gegen Syrien sorgen. Von Iran ganz zu schweigen.

Anfang der 1990er Jahre sahen sich die Vordenker der "Einzigen Weltmacht" in einer historisch einzigartigen Position. Niemals zuvor hatte eine imperiale Macht derartige globale Dominanz besessen. Nun neigt sich diese Phase ihrem Ende zu. Es ist angesichts der Lage nicht gerade wahrscheinlich, dass sich die angestrebten Bündniskonstellationen realisieren lassen Brzezinski: Strategie Vision). Wie auch immer, sind die USA offenbar entschlossen im Gegenzug zum Schwund ihrer ökonomischen Dominanz ihre machtpolitischen Trümpfe nach Kräften zu verstärken. Das gilt für ihre Killerkapazitäten und selbstverständlich auch ihre Spionagefähigkeiten. Industriespionage inklusive.


Reaktionen
Als der NSA-Agent Perry Fellwock alias Winslow Peck 1971 im Magazin "Ramparts" die globale geheime Spionage von NSA und CIA aufdeckte, war auch er der Verräter. Fellwock war Freiwilliger in Vietnam, hatte aber sein Gehirn nicht am Kasernentor abgegeben. Motiviert durch die Enthüllungen Daniel Ellsbergs (Pentagon-Papiere) legte er das weltumspannende CIA/NSA-Programm "ECHELO" offen. Seither haben mutige Whistleblower immer wieder über den Stand der Überwachung berichtet. Dem Ziel, die globale Kommunikation abhören zu können, kam man mit einem Netz geostationärer Spionagesatelliten (zusätzlich zu den bodengestützten Kapazitäten) schon in den 1960er Jahren deutlich näher. Wer das wissen wollte, konnte es selbst aus der Zeitung wissen. Fellwock verschwand 1976 spurlos. Ein Schicksal, das Bradley Manning nun ganz offiziell droht. Und auch das von Julian Assange und Edward Snowden scheint nur graduell besser.

Der Kalte Krieg hatte Anfang der 1970er Jahre einen weiteren Höhepunkt erreicht und hätte mit den von Henry Kissinger angeregten Kernwaffenangriffen auf Nord-Vietnam schnell in eine heiße Phase übergehen können. Der aufopferungsvolle Kampf der Befreiungskräfte hatte die imperialistischen Meinungsmacher in eine Wagenburgmentalität gedrängt und eine Kritik an der US-Spionage über die Linke hinaus verunmöglicht.

Im Taumel des gewonnenen Kalten Krieges und den Illusionen des globalen Weltdorfes befangen, waren die Kenntnisse über den Charakter des Imperialismus, speziell der entsprechenden US-Einrichtungen, einer naiven Gutgläubigkeit gewichen. Sozialdemokraten, Grüne und auch manch gewendeter Linker wollte nun im Verein mit Merke] und Kohl und mit Hilfe der US-Army das Heil in die Welt bomben. Nach dem 11. September 2001 hieß das bei Schröder "uneingeschränkte Solidarität". Zu deutsch: "Killt wen ihr wollt, wir halten euch die Stange."

Die Krise hat, wie so vieles, auch diese Perspektive ausradiert. In einer Weltwirtschaftskrise ist sich jeder (Imperialist), ob man das mag oder nicht, erst einmal selbst der Nächste. Die großen Geschäfte macht man, wenn das Blut auf der Straße fließt. Hier geht es um die Neujustierung von Renditebedingungen, Macht, Einfluss und Ressourcen. Ausgerechnet jetzt wird einer breiten Öffentlichkeit durch Edward Snowden bewusst, dass auch wir das Fadenkreuz auf der Stirn tragen. Wir, wieso wir? Wir sind die Guten. "Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht", bringt Regierungssprecher Steffen Seibert die enttäuschte Naivität auf den Punkt, "Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg." Richtig, nicht im Kalten.

Erkenntnisse sind manchmal unangenehm. Besonders wenn sie die eigenen Verdrängungen betreffen. Ganz ähnlich, wie es 2007 unangenehm war, nicht bemerkt zu haben, im ordinären Kapitalismus zu leben, und nicht, wie Ayn Rand und ihre Adepten behaupteten, im "einzige(n) System, das dem Leben eines rationalen Wesens entspricht", oder noch besser, im "einzig(en) moralische(n) System der Geschichte". Dieses Unbehagen an der eigenen Blindheit ist bei einigen, noch immer zu einer gewissen gestrigen Nachdenklichkeit neigende Zeitgenossen, wie etwa dem FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, gut zu spüren. Sein Buch "Ego" erzählt davon.

Dem Berliner Personal, einer Frau Merkel und ihrem Herrn Friedrich ist so etwas natürlich fremd: "Wir haben ein tolles Datenschutzgesetz." Das Peinliche am NSA-Skandal ist ihnen ihr völliger Offenbarungseid, den vor allem der Herr Friedrich in Washington und besser noch bei seiner Rückkehr auf offener Bühne zelebrieren durfte und der selbst die FAZ zum einem "extra doof" hinriss.

Die Behauptung, dass bei "Prism" und "Tempora" alles "nach Recht und Gesetz" zuginge, bemüht einen hilflos-albernen Legalismus. Wir sind im Krieg. Ausgerechnet dort, wo in bester Schmittscher Tradition der angebliche "Krieg gegen den Terror" als eine Art "unverfügbare Grundentscheidung" jeden Mord legitimiert, soll nun der Legalismus das Feigenblatt spielen. "Jede Nation hat eine Entscheidung zu treffen. Entweder ihr seid mit uns, oder ihr seid mit den Terroristen." Ist diese Bush-Regel, nach der die Welt nun leben muss, eine Frage von Recht und Gesetz? Ist also der Krieg gegen alle und alles was von Pentagon und CIA als Feind des American Way of Life, vulgo als Feind von Big Money, identifiziert werden kann, eine Frage der Legalität? "Unverfügbaren Grundentscheidungen" zur Geltung zu verhelfen war schon im Deutschland der 1930er Jahre nach Auffassung des Plettenberger "Kronjuristen" Carl Schmitt nicht nur legitim, sondern geradezu die Aufgabe staatlichen Organe. Und eben nicht eine formale Legalität zu verteidigen. Genauso sieht es, auch wenn sie es vermutlich nicht weiß, eigentlich auch Angela Merkel. Schmitts Diktum: "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus", ist geradezu zum Leitmotto der Deutschen Europapolitik geworden.

Wie in der Euro-Krise, macht sich auch in der NSA-Affäre in weiten, ehemals streng loyalen Bevölkerungsteilen das Gefühl breit, sich auf nichts und niemanden mehr verlassen zu können. Die Kommentarspalten der Internetauftritte von FAZ & Co. sprechen Bände. Da bei der Bundestagswahl nicht einmal mehr ein kleineres Übel erkennbar ist, dürfte Frau Merkel allein mit Adenauers "Keine Experimente" gewinnen. Zur absoluten Mehrheit, wie 1957, dürfte es aber diesmal wohl kaum reichen. Der Delegitimierungsprozess hat weite Teile des (klein)bürgerlichen Spektrums erreicht. Sie sind und fühlen sich als die Verlierer der Globalisierung und des europäischen Zentralisationsprozesses. Sie fühlen sich verraten, auch wenn sie nicht zu einem Verständnis seiner politökonomischen und machtpolitischen Grundlagen gelangen können.

In der Abhöraffäre ist es ähnlich. Solange es gegen die Saddams ging, hatte man allenfalls ein gewisses Unbehagen am offenen Zynismus, den einige (gefilmte) US-Boys bei ihren Schlächtereien zur Schau trugen. Deutsche bauen präzise Maschinen und schöne Autos, sind korrekt, machen solide Geschäfte. Wir sind die Guten. Was soll das, uns einfach abzuhören? Dazu noch unsere Geschäftsgeheimnisse Und das, wo wir den Amys durch jeden Scheißhaufen der Nachkriegsgeschichte in Nibelungentreue propagandistisch nachgestapft sind. Und nun auch in Nato-Oliv. Die Erkenntnis, dass es dafür im Imperialismus keinen Bonus gibt, setzt sich erst langsam durch.


Klaus Wagener, Dortmund, Redaktion Marxistische Blätter

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-13, 51. Jahrgang, S. 36-41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2013