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MARXISTISCHE BLÄTTER/580: Argentiniens Schulden sind ein politisches Problem


Marxistische Blätter Heft 5-14

Argentiniens Schulden sind ein politisches Problem

Von Günter Pohl


Als Argentinien Ende 2001 nach der Staatspleite, die in eine politische Krise mit drei Präsidentenstürzen innerhalb von einer Woche mündete, Bilanz ziehen musste, wurde in der Folge zunächst die Dollarparität des Pesos beendet. Diese hatte dem Land in den 1990er Jahren die Möglichkeit auf Export genommen. Die Auslandsschulden des Landes, das in den 1950er und 1960er Jahren zu den fünf reichsten Ländern der Erde gehört hatte, mussten jedoch in US-Dollar zurückgezahlt werden. Und keine Regierung des Landes hat die Legitimität von Schulden je in Frage gestellt, die eine Diktatur aufgenommen hatte und die heute von deren Opfer, dem Volk, abgegolten werden. 2003 war es die Präsidentschaft von Néstor Kirchner, der in der neoliberalen Menem-Ära Gouverneur in Santa Cruz war, die sich statt einer Begleichung der gesellschaftlichen Schuld anschickte, die Wirtschaft anzukurbeln, auf dass die Schulden noch effektiver beglichen werden konnten. Auch dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden Ende 2005 etwa 9,8 Milliarden US-Dollar überwiesen, womit sich das Land dort schuldenfrei machen konnte. Die Hoheit des IWF endete jedoch nicht. Weiterhin kamen dessen Berater und Gutachter nach Buenos Aires.

Argentiniens Wirtschaft erholte sich ab Mitte des letzten Jahrzehnts nach und nach, vor allem durch Rohstoff- und Agrarexporte. Und das Land zahlte Schulden ab, als ob es keinen zweiten Grund für seine Existenz gäbe. Die heutige Präsidentin Cristina Fernández, Kirchners Ehefrau, spricht stolz von bislang 190 Milliarden US-Dollar, die dadurch natürlich dem Sozialetat entzogen sind.

Néstor Kirchner und seine Ministerriege versuchten die Problematik von einer anderen Seite her anzugehen: mit einer definitiven Regelung der Schulden, die 2001 als "nicht rückzahlbar"deklariert worden waren. Dazu wurde beim "Mega-Canje" (Großumtausch) 2005 den Gläubigern angeboten auf zwei Drittel ihrer Ansprüche zu verzichten. 76 Prozent der Anleger machten das mit, weil sie davon ausgingen, dass später aus dem Land schon gar nichts mehr herauszuholen war. S0 sank die offene Summe aus den 2001er Schulden beim ersten Schuldendeal von 82 auf 18 Milliarden US-Dollar. 2010 wiederholte die Regierung das Experiment, womit sie gegen die Zusage verstieß, die man den Gläubigern fünf Jahre zuvor gemacht hatte. Weitere 12 Milliarden wurden so geregelt; jedenfalls scheinbar. Diese Anleger, die 2005 und 2010 nur etwa 30 Prozent ihres Geldes zurückbekommen hatten, machen insgesamt 92,4 Prozent der Gläubigersumme aus. Aber die Regierung Argentiniens hatte noch 7,6 Prozent an Anlegern gegen sich, und diese sollten Recht behalten - beziehungsweise diejenigen, die deren Schuldtitel aufkauften.

Beim zweiten Tausch (2010), jetzt unter der Präsidentschaft von Cristina Fernández, war nämlich deutlich geworden, dass es damit nicht getan sein konnte: zum einen hatte Argentinien selbst betont, dass zur vollen Gültigkeit der Abkommen mit den Anlegern 100 Prozent ihre Zustimmung geben müssten - zum anderen hatten viele derjenigen, die nicht zustimmten, ihre Titel an Spekulanten veräußert. Schon damals war somit klar, dass es zu Klagen kommen würde.

Nachlesbar ist das in einem Beitrag in der sozialistischen Wochenzeitung "Unsere Zeit" vom 16. Juli 2010: "Die erste Umschuldungsaktion ist Betrug, wenn es trotz der gegenteiligen, damals im Umschuldungsgesetz festgelegten Ankündigung das Kapitel 'für immer' abzuschließen, später doch noch eine zweite gibt. Zumal zwar nur in etwa ein Drittel der Summe rückerstattet wird, aber dafür die seit 2001 aufgehäuften und jetzt fälligen jährlichen Zinsen mit zwischen neun und elf Prozent je nach Anleger deutlich höher bewertet wurden als die sechs Prozent, die die Regierung als Verhandlungsziel angekündigt hatte. Damit haben die Gläubiger an dieser Front erheblich mehr erhalten als zu erwarten war.

Und dann gibt es da noch das 'an wen': wer sind denn die Gläubiger? Argentinische Rückzahlungsgegner hatten gerichtlich versucht, darüber Auskunft vom Wirtschaftsminister Amado Boudou zu erhalten, was aber nach dessen Aussage gar nicht möglich war. Denkbar ist in der Tat, dass die argentinische Regierung es nicht weiß, weil Geierfonds nach dem 2005er 'Mega-Canje' in Erwartung einer weiteren Tauschaktion anonym Schuldentitel gekauft haben um nun das große Spekulationsgeld zu machen. Es würde also nun Geld an andere gezahlt als die ursprünglichen Geber. Diejenigen, die 2005 nicht getauscht hatten, später aber an Spekulationsfonds verkauft hatten, könnten nun sogar eine Annullierung des ganzen Vorgangs einklagen. Ohnehin gibt es international zum Teil erfolgreiche Klagen von Haltern von insgesamt 4,5 Milliarden US-Dollar aus diesen Anleihen, die den ganzen Umschuldungskomplex nicht akzeptieren".[1]

Genau das trat ein: kaum ein Prozent der Gläubiger ging vor Gericht, aber Argentiniens Regierung wurde Ende 2012 von einem New Yorker Distriktgericht zur Zahlung des vollen Schuldbetrags an die verbliebenen 7,6 Prozent verurteilt. Eine Berufung dagegen scheiterte später, und das Urteil wurde im Juni 2014 in letzter Instanz bestätigt, als sich der Oberste Gerichtshof der USA in dem Fall für nicht zuständig erklärte. Dass ein New Yorker Gericht über Argentiniens Wohl und Wehe entscheidet, ist dabei im Übrigen eine freiwillige Entscheidung Argentiniens, sind doch in allen Verträgen ausländische Gerichtsstände vereinbart worden, sowohl bei den Schuldenabkommen als auch bei neueren ausländischen Direktinvestitionen, wo das Schiedsgericht des ICSID/CIADI ("Internationales Zentrum zur Streitschlichtung bei Investitionen" - engl.: ICSID, span.: CIADI) angerufen wird.

Am 30. Juli endete nun die Frist, wonach Argentinien 1,6 Milliarden US-Dollar an Spekulationsfonds, die nach den Großumschuldungsaktionen der Jahre 2005 und 2010 Schuldtitel von Gläubigern aufgekauft hatten, die sich nicht auf einen Verzicht von bis zu 70 Prozent ihres Geldes einlassen wollten, zu zahlen hatte. In Argentinien werden sie "Fondos Buitres" (Geierfonds) genannt. Der Name illustriert ein wenig ihre Vorgehensweise, die Inkassobüros nicht unähnlich ist: wer im Privatgeschäft Außenstände hat, wo er eine Rückzahlung über den Einsatz eines Gerichtsvollziehers nicht erwartet, der greift gern zu den Diensten eines solchen Inkassobüros, dem er einen Teil der ausstehenden Summe abtritt. Das stellt dann erst einmal, für die Nachbarschaft deutlich sichtbar, ein entsprechend beschriftetes Auto vor die Tür, aus dem nach einer Weile zur Unterstreichung der Ernsthaftigkeit des Anliegens ein paar entschlossen dreinblickende Herren aussteigen, denen man in diesem Leben eigentlich nie hatte begegnen wollen.

Die Schlägertrupps wären im Beispiel von Staaten Kriegseinsätze, aber die waren im Falle Argentiniens nicht nötig. Die Fonds gingen nämlich davon aus, eines Tages Recht und den ganzen großen Gewinn zu bekommen - das ist ihr Geschäftsmodell. Und es hat sich durchgesetzt. Immer vorausgesetzt, Argentinien könnte und wollte zahlen, denn es geht tatsächlich um weit mehr als die 1,6 Milliarden US-Dollar. Es geht wohl um das Hundertfache.

Medial wurde viel debattiert, ob Argentinien mit dem Verstreichen der Zahlungsfrist zahlungsunfähig sei. Dem ist nicht so, denn Argentinien deponierte 539 Millionen US-Dollar in der Mellon-Bank in New York. Diese 539 Millionen entsprechen zwar nicht der Summe von 1,6 Milliarden, sondern sehr bewusst nur etwa dem Prozentsatz davon, den auch diejenigen bekommen hatten, die sich auf die beiden Schuldenabkommen eingelassen hatten, weshalb die Spekulantenfonds - den Spruch des New Yorker Gerichtes in der Tasche - natürlich ablehnten. Die 539 Millionen sind jetzt erst einmal eingefroren; sie gehen bis auf weiteres weder an Argentinien zurück noch dienen sie der Tilgung.

Warum aber der Versuch einer Teilzahlung, der scheitern musste? Die Regierung wollte mit dem Zahlungsangebot an die Spekulanten zu einer Gleichbehandlung kommen - mit dem Ziel zu verhindern, dass die anderen 92,4 Prozent nun von einem in den Umschuldungen 2005 und 2010 verbrieften Recht Gebrauch machen: im RUFO ("Rights Upon Future Offers", dt.: Rechte hinsichtlich späterer Gebote) wird geregelt, dass diejenigen, die die Minderungen zuvor akzeptiert haben, ein Recht auf Erhöhung ihres Anspruchs auf den Prozentsatz haben, den später gegebenenfalls andere für sich aushandeln. Diese Klausel läuft aber zum Jahresende 2014 aus, weshalb die Regierung Zeit gewinnen wollte. Gelingt das nicht und die Spekulationsfonds erhalten jetzt tatsächlich 100 Prozent ihrer Forderungen, stünde Argentinien bei den 92,4 Prozent mit zwischen 120 und 500 Milliarden US-Dollar in der Kreide - je nachdem, wie hoch diese ihre Ansprüche durchsetzen können, so Julio Gambina, Vorsitzender der argentinischen "Stiftung für Gesellschaftliche und Politische Forschung" (FISYP).

Präsidentin Fernández ist gewillt den Spekulanten das gesamte Geld zu zahlen. Wenn es mit diversen Verfahrenstricks gelange, das nach 2014 zu machen, könnte Argentinien die eigentliche Masse an Schuldtilgungen sparen. Allein darum scheint es noch zu gehen. Diejenigen, die sich ursprünglich mit Argentinien auf eine erhebliche Minderung eingelassen hatten (selbstredend nicht alle aus edlen Motiven, sondern schlicht, weil ihnen erfolgreich die Zahlungsunfähigkeit des Landes an die Wand gemalt wurde), wären die Dummen. Eduardo Lucita von den "Ökonomen der Linken" wies aber in einem Interview Ende Juli darauf hin, dass im so genannten "Schlussgesetz" von 2005 eine dem RUFO gleichgewichtige Klausel verankert wurde - allerdings, ohne dass darin ein Ablauftermin genannt wurde. Damit könne nur eine gesetzgeberische Annullierung des Schlussgesetzes helfen, wofür eine Mehrheit im Parlament gebraucht wird. Die hat Cristina Fernández nach den letzten Wahlschlappen nicht mehr so sicher wie früher.

Lucita sieht Argentinien wirtschaftlich vor dem Kollaps. Die Regierung habe sich derart bemüht politisch und wirtschaftlich nicht akzeptable Schulden abzuzahlen, nur um auf den Märkten wieder an Kredite zukommen - und müsse nun angesichts angeblicher Zahlungsunfähigkeit um die angestrebte Wiedererlangung von Kreditwürdigkeit bangen, weshalb die Rezession anhalten und massiver Arbeitsplatzverlust unvermeidlich würde.

Die Schuldenlage ist weit mehr politisch denn ökonomisch, weil sie nicht politisch in Frage gestellt wird. Die Arbeiterklasse zahlt die Zeche, und das Kapital wird sich schneller erholen als seine Gegner.


Günther Pohl, Hattingen, Internationale Kommission des Parteivorstandes der DKP


Anmerkung

[1] "Immer Schluss im Viertelfinale", in: Unsere Zeit vom 16. Juli 2010

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-14, 52. Jahrgang, S. 23-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2015

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