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OSSIETZKY/943: Die Offene Gesellschaft und ihre Mauern


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 4 vom 18. Februar 2017

Die Offene Gesellschaft und ihre Mauern

Von Werner Rügemer


Die Offene Gesellschaft war die Leitideologie, mit der sich die transatlantischen Eliten gegen die sozialistischen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang und hinter der Berliner Mauer abgrenzten und sich als schöner und freier inszenierten. Die jetzt immer noch darauf beruhende Kritik am Mauerbau des US-Präsidenten Donald Trump ist heuchlerisch. Diese Kritiker verdrängen, dass bereits seit 1994 die Propagandisten der Offenen Gesellschaft einen bis zu sieben Meter hohen Hochsicherheitszaun zwischen den USA und Mexiko betreiben. Er wurde begonnen unter dem US-Präsidenten William Clinton. Der Zaun, auch The Wall oder Tortilla Wall genannt, ist mit Flutlicht, Kameras, Bewegungsmeldern, Bodensensoren, mobilen Wachtürmen und Drohnen bestückt. Staatliche Mauerschützen dürfen Flüchtige abknallen, ohne jemals verurteilt zu werden. Migranten lässt man in Flüssen ertrinken und in der Wüste verdursten. Offiziell wurden 6029 Tote bis 2013 registriert. In der achtjährigen Amtszeit des US-Präsidenten Barack Obama schob die US-Administration hier pro Jahr im Durchschnitt 400.000 Migranten ab, insgesamt über drei Millionen Menschen.

Und während erst jetzt die lediglich ergänzenden Mauerpläne des Präsidenten Trump zurecht als unmenschlich angeklagt werden, schotten die Europäische Kommission und die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten die EU weiter ab. Jährlich iässt man dort an den Festungsgrenzen tausende Flüchtlinge ertrinken. Gleichzeitig werden an den Außengrenzen von EU-Staaten neue Barrieren aus Zäunen und Stacheldraht und bewaffneten Posten errichtet. Erbarmungs- und gewissenlos arbeiten die neuen Mauerbauerinnen und Mauerbauer dafür auch mit dem türkischen Unrechtsregime zusammen. Die Offene Gesellschaft ist mit Diktatur offensichtlich vereinbar.

Begleitend wird eine eiserne Mauer des politischen und medialen Schweigens um die Ursachen der Flucht errichtet. Menschen flüchten vor den Kriegen, die von den Propagandisten der Offenen Gesellschaft in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen geführt und gefördert werden, genauso wie aus den von Wirtschaftskriegen überzogenen und verarmten Staaten des Balkans und Afrikas.

In den Staaten der selbsternannten Offenen Gesellschaft lassen die Superreichen Mauern um ihre Gated Communities errichten, um sich vor den Armen zu schützen, auf deren Ausbeutung der abgeschottete Reichtum beruht. Und die Offenen Gesellschaften des Westens werden durchzogen von Mauern um die Gated Communities des Militärs, sei es um Camp Bondsteel (mit Fitnesscentern, Imbissketten-Restaurants, einem PX-Kaufhaus, Kinos und einer Kapelle mit religionsverschiedenen Gottesdiensten) im ausgeplünderten Kosovo oder um die Drohnen-Zentrale Ramstein im deutschen Rheinland-Pfalz. Ubrigens Bondsteel: Der Namensgeber war ein US-"Held" im Krieg gegen die vietnamesische Befreiungsbewegung.

Und warum wurde eigentlich die erste große Mauer nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut? Der antikommunistische Hetzer Winston Churchill popularisierte den Begriff Eiserner Vorhang. Er griff die Vorgabe des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels auf, der damit das Ergebnis der herannahenden Roten Armee angeprangert hatte. Diese kontinentale Mauer wurde errichtet, um die sowjetischen Vorschläge für ein neutrales und abgerüstetes Deutschland und damit für ein friedliches Nachkriegseuropa zu verhindern. Begleitet wurde die Mauer der transatlantischen Offenen Gesellschaft mit der Öffnung für die alten Nazi-Eliten, die in ihre alten oder neuen Funktionen gelangten. Und das nicht nur in der von den Westmächten gegründeten Bundesrepublik. Die Offene Gesellschaft war auch offen für die Wiedereinsetzung von NS-Kollaborateuren in verantwortliche Funktionen in Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien, Griechenland zum Beispiel. Die faschistischen Regimes in Spanien und Portugal nahm die Offene NATO-Gesellschaft sowieso mit offenen Armen auf. Für den möglichen Wahlsieg eines gemäßigten Mitte-Links-Bündnisses nach demokratischer Prozedur in Griechenland war 1967 die Offene Gesellschaft nicht offen, sondern organisierte mit einheimischen Faschisten einen Militärputsch.

Dem Eisernen Vorhang folgten für ungerechte Kriege und für weitere Eroberungen weitere Mauern. In Korea hatte die Befreiungsbewegung die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Nur durch die völkerrechtswidrige militärische Intervention der USA mit Unterstützung der Westmächte, auch der christlich geführten Bundesrepublik Deutschland, konnte die Befreiungsbewegung zumindest zum Teil besiegt werden. Für Demokratie und Volkswillen und das nationale Interesse war die Offene Gesellschaft nicht offen, sondern nur für die westliche primitive Gewalt. Die Mauer trennt das Land bis heute.

Und während der Fall der Berliner Mauer endlos weiter gefeiert wird, baut der israelische Staat seit 2002 eine bis acht Meter hohe neue Mauer - völkerrechtswidrig, zu drei Vierteln jenseits der Waffenstillstandslinie, Palästinenser werden widerrechtlich enteignet. Mit der Mauer soll die völkerrechtswidrige, seit 50 Jahren andauernde Besetzung der Westbank verewigt werden. Auch hier dürfen Scharfschützen ungestraft Menschen abknallen. Die Laut-Sprecher der Offenen Gesellschaft rechtfertigen und dulden diese Mauer, und für Bundeskanzlerin Angela Merkel ist sie sogar Teil der eigenen Staatsraison. Dazu gehören auch die etwas kleineren Mauern um die widerrechtlich errichteten Siedlungen und um die 27 hochgerüsteten Checkpoints innerhalb der Westbank.

"Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde" hieß das Buch des vergessenen Philosophen Karl Popper. Er hatte nach dem Ende des Faschismus im Westen Konjunktur, weil er den Bruch der Anti-Hitler-Koalition begrüßte und die Sowjetunion und den Sozialismus überhaupt als totalitär, kollektivistisch, undemokratisch und als "geschlossene Gesellschaft" anprangerte. Doch die Offene Gesellschaft des transatlantischen Kapitalismus entbarg sich als das, was sie von Anfang an war: Sie wurde ihren halluzinierten Feinden immer ähnlicher als diese in Wirklichkeit jemals waren. Diese Offene Gesellschaft ist an ihr moralisches Ende gekommen. Ihr muss das faktische Ende gemacht werden.

Eine offene Gesellschaft, die demokratisch und selbstbestimmt ist und bleiben will, muss zunächst ihre Grenzen regeln und schützen. Denn die Gesellschaften der Moderne haben sich unterschiedlich, beginnend vor einigen Jahrhunderten, als einzelne, nationale Gesellschaften herausgebildet. Innerhalb dieser Grenzen haben sich bisher die besten, wenn überhaupt, demokratischen Prozeduren herausgebildet und können sich weiter herausbilden und festigen. Das darf aber nicht der Endzustand sein. Doch nur nach den Prinzipien der universellen Menschenrechte und des Völkerrechts dürfen, müssen und können Mauern und auch Grenzen schrittweise abgebaut werden, kontinental und planetarisch.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwanzigster Jahrgang, Nr. 4 vom 18. Februar 2017, Seite 123 bis 125
Herausgeber: Matthias Biskupek, Rainer Butenschön, Daniela Dahn,
Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Otto Köhler
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Jürgen Krause (Korrektor)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2017

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