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ROTFUCHS/207: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 254 - März 2019


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

22. Jahrgang, Nr. 254 - März 2019



Aus dem Inhalt

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Hände weg von Venezuela!
Kriegstreiber stoppen!

Innerhalb weniger Tage gingen Ende Januar, Anfang Februar 2019 Nachrichten um die Welt, die eine sprunghaft erhöhte Gefahr für Stabilität und Frieden signalisierten. Sie zeigten an, daß sich kurz- und langfristige Bedrohungen des Friedens in außerordentlicher Weise zusammenballen. Die internationale Konterrevolution unter Führung von USA und EU versucht, das Rollback gegen den Sozialismus, gegen Rußland, China und unabhängige Nationalstaaten zu verstärken.

Erstens: Seit dem 23. Januar versuchen die USA mit Hilfe eines von ihnen gelenkten Putsches, Venezuelas sozialistischen Präsidenten Nicolas Maduro und dessen Regierung zu stürzen. Nach jahrelanger Destabilisierungspolitik erkannte US-Präsident Donald Trump Minuten nach der Selbsternennung eines ultrarechten Politikers zum "Übergangspräsidenten" den Contra als Staatsoberhaupt an. Führende EU-Staaten folgten dem am 4. Februar, einige Mitgliedsländer weigerten sich. Mißlungen ist der Versuch, die Fehler, die von der Regierung Maduro zweifellos gemacht wurden, zu nutzen, um die Solidarität mit dem Angegriffenen zu schwächen. Bei einem akuten imperialistischen Angriff auf ein Land tauchen stets wohlmeinende Zeitgenossen auf, die zuerst "Reformen" verlangen und dann Solidarität erwägen. Ähnlich funktionierte auch die Konterrevolution gegen die DDR.

Die Kanonenbootpolitik gegen Venezuela jetzt führte aber dazu, daß selbst in einem imperialistischen Hauptland wie der Bundesrepublik in der Bevölkerung vor allem Stimmen der Solidarität zu hören waren. Hierzulande nutzten die Konzern- und Staatsmedien die Ereignisse, um ihrer Haßpropaganda gegen Rußland und China neuen Schwung zu verleihen. Sie machten beide Staaten dafür verantwortlich, daß Maduro sich bis zum Verfassen dieses Textes am 6. Februar im Amt halten konnte. Trump hat mehrfach betont, daß er sich einen militärischen Angriff vorbehält. Im Deutschlandfunk nannte ein Kommentator das verantwortungslose Treiben von USA und EU einen "Rückfall in kolonialistische Zeiten". Er war in den hiesigen Bürgermedien eine einsame Ausnahme.

Zweitens: Am 1. Februar kündigte der US-Präsident unter Wiederholung der Lügen von einer Verletzung des INF-Abkommens über atomare landgestützte Mittelstreckenraketen durch Rußland diesen Vertrag. Am folgenden Tag erklärte Wladimir Putin, sein Land antworte "symmetrisch" und setze das Abkommen ebenfalls aus. Es handelt sich um eine US-Attacke auf das gesamte Geflecht von Abrüstungsvereinbarungen. Hintergrund ist die NATO-Auffassung, der auch die Bundesregierung folgt, daß atomare Kriege durch neu entwickelte, "taktische" Atomwaffen wieder führbar werden. Das soll nach dem Willen Washingtons allerdings nur in Europa geschehen. Berlin macht willig mit. Eine Konsequenz ist, daß der Abzug von US-Atombomben aus der Eifel von deutscher Seite offensichtlich nicht mehr verfolgt wird.

Drittens: Am 5. Februar wurde bekannt, daß der deutsche Kriegsetat bis 2024 auf etwa 60 Milliarden Euro steigen soll. Das kommt fast einer Verdoppelung innerhalb eines Jahrzehnts gleich, noch höhere Steigerungen sind in der Diskussion. Einzige Begründung: die angebliche russische Bedrohung.

Viertens: Am 6. Februar wurde Nord-Mazedonien in die NATO aufgenommen, der Kriegspakt expandiert weiter nach Osten und Südosten in Europa.

Fünftens: In seiner Rede zur Lage der Nation kündigte Trump am gleichen Tag nach dem Rekordkriegshaushalt der USA 2018 mit weit über 700 Milliarden Dollar weitere starke Rüstungssteigerungen an. Er wiederholte seine Drohungen gegen Venezuela, feierte den "Sieg über den Kommunismus" und erklärte, ohne seine Gespräche mit Kim Jong Un gäbe es längst einen "großen Krieg" in Korea. Mit Krieg drohen und ihn auch führen - das ist die Sprache, die imperialistische Politiker wieder verwenden.

Angesichts all dessen bleibt es in der Bundesrepublik bisher bemerkenswert ruhig. Noch mehr Nachrichten dieser Art oder gar die reale Gefahr, daß neue US-Atomraketen in Europa und in der Bundesrepublik stationiert werden, könnten das mit Hilfe aller am Frieden Interessierten rasch ändern.

Arnold Schölzel

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Solidarität mit Venezuela!

In einer Presseerklärung der CPUSA (Kommunistische Partei der USA) von Ende Januar heißt es:

Die ohnehin gefährliche Lage in Venezuela hat sich in den letzten Tagen plötzlich zugespitzt, während der legale, gewählte Präsident Nicolas Maduro sich auf eine neue Amtszeit vorbereitete.

Am 21. Januar versuchte eine kleine Gruppe Angehöriger der venezolanischen Nationalgarde, einen Militärputsch durchzuführen. Dabei wurden sie nicht nur von der venezolanischen Rechten, sondern auch von reaktionären Führern und Regierungen in den Nachbarländern sowie von US-Präsident Donald Trump, Vizepräsident Mike Pence, Außenminister Mike Pompeo und US-Sicherheitsberater John Bolton ermutigt.

Am 23. Januar verkündete die Trump-Regierung, daß sie einen bis dahin kaum bekannten rechtsextremen Politiker, Juan Guaidó, als legitimen Präsidenten Venezuelas anerkenne. Guaidó, Teil der faschistischen Elemente der von den USA unterstützten Opposition, erklärte sich aufgrund eines angeblichen verfassungsmäßigen Mandats illegal zum Präsidenten. Er ist der neue Präsident der Nationalversammlung, eines Organs, das der Oberste Gerichtshof Venezuelas 2016 als rechtswidrig eingestuft hat.

Als nachvollziehbare Reaktion auf das Vorgehen der Trump-Regierung hat die venezolanische Regierung die diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten abgebrochen. Die US-Diplomaten wurden aufgefordert, das Land innerhalb von 72 Stunden zu verlassen. Aber in einem weiteren gefährlichen Schritt gab ihnen die US-Regierung unter dem Vorwand, daß Maduro kein rechtmäßiger Präsident sei, die Anweisung, zu bleiben, und verhängte einseitig weitere Sanktionen. Tausende Venezolaner strömten auf die Straße, um ihren Widerstand gegen das Vorgehen der USA zu bekunden.

Das Eingreifen der Trump-Regierung ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und die Souveränität sowie die Unabhängigkeit Venezuelas. Diese Maßnahmen stimmen überein mit ihrer Mißachtung aller Formen der Demokratie und ihrer Verletzung der verfassungsmäßigen und demokratischen Rechte in den USA sowie international. Sie erinnern an die lange Geschichte imperialistischer Arroganz der USA, den Sturz von Regierungen, Einmärschen, Kanonenbootdiplomatie und die Installierung serviler Militärjuntas.

Es besteht die Gefahr, daß diese überhebliche imperialistische Handlungsweise der Trump-Regierung das Vorspiel für noch brutalere Eingriffe der USA und ihrer rechtsextremen Verbündeten in Brasilien, Kolumbien und anderswo in innere Angelegenheiten Venezuelas ist.

Die jähe Eskalation der Angriffe auf Venezuela folgt einer langen US-Kampagne zur Destabilisierung der venezolanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Der Imperialismus will in seinem "Hinterhof" keine Regierungen dulden, die den Reichtum ihrer Nationen nutzen, um das Leben der arbeitenden Bevölkerung und der Armen zu verbessern, anstatt mit diesem Reichtum die Kassen transnationaler Unternehmen zu füllen.

Die Destabilisierung Venezuelas mit dem Ziel eines "Regimewechsels" und die Einführung einer weiteren arbeiterfeindlichen Rechtsregierung wie der von Jair Bolsonaro in Brasilien und Ivan Duque in Kolumbien ist weder im Interesse der arbeitenden Menschen Venezuelas noch der USA. Unter Präsident Maduro und seinem Vorgänger, Hugo Chávez, hat Venezuela wiederholt seine Bereitschaft gezeigt, freundschaftliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und seinen Bürgern zu pflegen, und ist sogar so weit gegangen, armen Gemeinden in den Vereinigten Staaten zu helfen, indem sie ihnen preisgünstiges Heizöl zur Verfügung stellte.

Die Kommunistische Partei der USA ruft alle ihre Mitglieder und Freunde auf, sich unverzüglich mit ihren Senatoren und Abgeordneten in Verbindung zu setzen, um ein Ende dieser illegalen und gefährlichen Einmischung in Angelegenheiten einer souveränen Nation zu fordern.

(Gekürzt und red. bearbeitet)

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Bürgerliche Medien als Putschhelfer in Venezuela

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Venezuela im Visier der internationalen Reaktion

Deutschland erkennt den venezolanischen Umstürzler Juan Guaidó als "Übergangspräsidenten" an und erklärt damit den gewählten Präsidenten Venezuelas, Nicolás Maduro, für entmachtet. Mit dem am 4. Februar offiziell verkündeten Schritt folgt die Bundesregierung der US-Administration sowie diversen rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas, darunter die vom Militär kontrollierte Regierung Brasiliens. Darüber hinaus haben inzwischen weitere EU-Staaten Guaidó anerkannt, darunter Großbritannien, Frankreich und Spanien. Das Europaparlament hatte den Schritt schon eine Woche zuvor vollzogen. Die Unterstützung für den Schritt ist im Westen breit, aber nicht ungeteilt; so haben Italien und Neuseeland ausdrücklich bekräftigt, nicht zur offenen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes bereit zu sein. Weltweit handelt es sich bei den Staaten, die Guaidó anerkennen, um eine Minderheit, die freilich über außergewöhnliche militärische sowie ökonomische Machtmittel verfügt und in der Vergangenheit mehrfach bewiesen hat, daß sie bereit ist, diese gewalttätig einzusetzen.

Die freihändige Anerkennung von Umstürzlern in fremden Staaten ist in der Geschichte auch Deutschlands nicht beispiellos. So hatten etwa vor rund fünf Jahren deutsche Stellen den Umsturz in der Ukraine nicht nur gefördert, sondern sofort nach seinem rechtswidrigen Vollzug die Protagonisten zur "legitimen" Regierung der Ukraine erklärt. Neu ist freilich, daß ein Umstürzler schon in aller Form anerkannt wird, während der gewählte Präsident noch im Amt ist. Mit ihrer Anmaßung, Regierungen fremder Staaten frei nach Gutdünken ab- und einzusetzen, kehren die Länder Europas faktisch zu Herrschaftspraktiken ihrer Kolonial-Ära zurück. Zu ihnen zählen außer der EU-Hegemonialmacht Deutschland die ehemalige Kolonialmacht über Venezuela, Spanien, sowie weitere Staaten, die sich bis heute Kolonien in der Region leisten: Frankreich unterhält mit Französisch-Guayana ein "Überseedepartement" nicht weit im Osten Venezuelas; Großbritannien beherrscht mit Bermuda, den Cayman und den Virgin Islands und einigen weiteren Inseln gleich mehrere "Überseegebiete" in der Karibik direkt nördlich von Venezuela; auch das Königreich der Niederlande beansprucht dort noch diverse Inseln mit unterschiedlichem Rechtsstatus für sich. Durch die Anerkennung von Guaidó rauben sie nun auch Venezuela seine Souveränität und erniedrigen es faktisch auf seinen früheren Status einer Kolonie.

Der Hintergrund des kolonialen Auftretens der europäischen Mächte läßt sich Berichten in US-Medien entnehmen. Demnach ist die jüngste Welle von Umsturzversuchen in Venezuela durch die Drohung von US-Präsident Donald Trump im August 2017 ausgelöst worden, die Vereinigten Staaten behielten sich einen militärischen Überfall auf das Land vor. Bereits im Herbst 2017 seien einige venezolanische Offiziere, von der Kriegsdrohung ermutigt, auf dem Umweg über eine US-Botschaft in Europa an die Trump-Administration herangetreten, hätten Putschpläne dargelegt und um technische Unterstützung gebeten, hieß es vor fünf Monaten in der "New York Times". Demnach hat Washington zwar materielle Hilfe verweigert, die putschwilligen Militärs jedoch befeuert. So äußerte der damalige Außenminister Rex Tillerson am 1. Februar 2018, es sei denkbar, daß "die militärische Führung einen friedlichen Übergang organisiert". Der republikanische Senator Marco Rubio behauptete auf Twitter, "die Welt" werde "die Streitkräfte in Venezuela beim Sturz ihres Oberbefehlshabers unterstützen". Der Putschversuch ist im Frühjahr 2018 allerdings rechtzeitig aufgedeckt worden. Laut Darstellung der "New York Times" sind von den ungefähr 300 bis 400 Militärs, die in ihn involviert waren, rund die Hälfte festgenommen worden. Auf die zweite Hälfte, die unerkannt blieb, zielen offenbar die aktuellen Appelle von Juan Guaidó an oppositionelle Offiziere, jetzt rasch aus der Deckung zu kommen und den Putsch erneut zu wagen.

Die Aufdeckung des Putschversuchs hat die Umsturzbemühungen allerdings nicht beendet. Wie es in einem Bericht des "Wall Street Journal" heißt, hat ein Teil der politischen Opposition, die sich vor allem aus den weißen, wohlhabenden Eliten des Landes rekrutiert, weiterhin nach Möglichkeiten gesucht, Präsident Maduro aus dem Amt zu jagen.

Ende Dezember hätten sich dann, schreibt das US-Blatt, Mitarbeiter der Trump-Administration an die umsturzwilligen venezolanischen Politiker gewandt, die der Auffassung waren, sie benötigten in Ermangelung hinreichender eigener Stärke "die Rückendeckung der internationalen Gemeinschaft", um die für den angestrebten Umsturz erforderliche "politische Dynamik in Venezuela" zu erzeugen. Die gewünschte Rückendeckung erhielten sie umgehend aus Washington, wo insbesondere Senator Rubio, Außenminister Mike Pompeo sowie der Nationale Sicherheitsberater John Bolton mit den Planungen für die eigenmächtige Anerkennung von Juan Guaidó als "Präsident" und für begleitende weitere Schritte wie etwa die inzwischen in Kraft gesetzten Erdölsanktionen begannen.

Das Wall Street Journal zitiert eine Notiz des US-Außenministeriums vom 12. Januar: "Es ist Zeit, den geordneten Übergang zu einer neuen Regierung zu starten." In den folgenden Tagen ging Guaidó bei seiner Selbstproklamation sowie bei allen weiteren Schritten in engstem Schulterschluß mit Washington vor. Unklar ist noch, inwieweit deutsche Stellen in die Operationen eingebunden oder zumindest über sie informiert waren. Zuvor hatte Berlin immer wieder eng mit venezolanischen Umstürzlern kooperiert.

Am Bestreben, durch auswärtige Unterstützung die notwendige "politische Dynamik" für den Umsturz zu erzeugen, beteiligen sich mit ihrer Anerkennung des Umstürzlers Guaidó nun auch in vollem Umfang Deutschland sowie weitere europäische Staaten. Dabei geht es nicht nur darum, eine mißliebige Regierung auszutauschen. Wie ebenfalls das "Wall Street Journal" unter Berufung auf interne Regierungsquellen berichtet, soll der ersehnte Sturz der Regierung in Caracas nur der erste von drei Enthauptungsschlägen sein, deren folgende den Regierungen Kubas und Nikaraguas gelten werden. Hintergrund sei, berichtet die US-Zeitung, daß alle drei Staaten engere Beziehungen zu Rußland und zu China aufgebaut hätten. Diese Beziehungen sollten nun mit allen Mitteln unterbunden werden. In der Tat stellt der wachsende Einfluß nicht nur Moskaus, sondern auch Beijings zunehmend die globale Vorherrschaft der alten Kolonialmächte Europas und Nordamerikas in Frage. Als dies zum ersten Mal in den Jahren des kalten Kriegs geschah - damals begehrten sozialistische Bewegungen in vielen Ländern Lateinamerikas gegen die neokoloniale Herrschaft der transatlantischen Mächte auf -, da stützten sich die USA und die Staaten der EU, um ihre Hegemonie zu sichern, häufig auf blutige Militärregime. Aktuell setzen sie, um Rußland und China zurückzudrängen, auf Umsturz - und treten beim Bestreben, ihre alte, in der Kolonialzeit am deutlichsten ausgeprägte Weltherrschaft zu zementieren, erneut mit ihrem alten kolonialen Herrschaftsanspruch über die einstigen Kolonien auf.

Gestützt auf german-foreign-policy.com

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Daniel Ellsberg über US-amerikanische Atomkriegspläne

Aus der Feder von Daniel Ellsberg erschien 2017 ein Buch mit dem Titel "The Doomsday Machine" ("Die Weltuntergangsmaschine"). Daniel Ellsberg? Dieser Name stand bislang für den Herausgeber der sogenannten Pentagon-Papiere, die 1971 der Weltöffentlichkeit präsentiert wurden und einen umfassenden Einblick in die vom US-Imperialismus insgeheim getroffenen Vorbereitungen des Krieges in Vietnam sowie seine Eskalation in den 60er Jahren boten.

Bislang war weitgehend unbekannt, daß Daniel Ellsberg seit 1959 als Mitarbeiter der "Denkfabrik" RAND Corporation tätig und seit Anfang der sechziger Jahre als Berater an das Pentagon und das Außenministerium delegiert worden war. Dort erhielt er bald Zugang zu Dokumenten der höchsten Geheimhaltungsstufe ("Keyhole"). Im Rahmen seiner Arbeitsaufträge traf er den damaligen Verteidigungsminister Robert McNamara sowie den Sicherheitsberater der Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, McGeorge Bundy. Im Oktober 1962 gehörte er zu einer Arbeitsgruppe des permanent tagenden Krisenstabes, der während der Kuba-Krise gebildet worden war. Daniel Ellsberg, der als "kalter Krieger" sozialisiert wurde und drei Jahre lang freiwillig als Offizier bei der Marine-Infanterie gedient hatte, erlebte die Jahre als Berater höchster Regierungsstellen als eine Zeit der Desillusionierung.

Schon bald erkannte er, daß die von den politisch Verantwortlichen mit großem medialem Aufwand proklamierte "Raketenlücke" gegenüber der UdSSR frei erfunden worden war. Während der Öffentlichkeit ständig vorgegaukelt wurde, jederzeit könnte ein "atomares Pearl Harbor", ein Überraschungsangriff sowjetischer Interkontinentalraketen und Langstreckenbomber die USA heimsuchen, entnahm Ellsberg streng geheimen Dokumenten, daß die Sowjetunion am Anfang der sechziger Jahre über lediglich vier einsatzbereite Raketen verfügte, die in der Lage waren, US-amerikanisches Territorium zu erreichen. Anderslautende Bekundungen des 1. Sekretärs der KPdSU, Nikita Chruschtschow, waren ein reiner Bluff, was die damals ausgewerteten Fotos der U-2-Flugzeuge und - bald darauf - der ersten Spionagesatelliten bestätigten.

Dagegen stellte die US Air Force zur gleichen Zeit vierzig Interkontinentalraketen in Dienst, deren Ziele in der Sowjetunion lagen. Die Propaganda um die angebliche "Raketenlücke" diente lediglich dem Zweck, immer höhere Militärausgaben gegenüber Senat und Repräsentantenhaus zu legitimieren und die Öffentlichkeit in Furcht und Schrecken vor dem "Reich des Bösen" zu versetzen. Eine "Raketenlücke" bestand tatsächlich bis zum Anfang der 70er Jahre - allerdings auf seiten der UdSSR.

Die wichtigsten Kapitel des Buches befassen sich mit den Atomkriegsplänen der USA in den 60er Jahren. Ellsberg war erschüttert angesichts der Planungen, die eine physische Vernichtung von mindestens 600 Millionen bis 1 Milliarde Menschen vorsahen bzw. billigend in Kauf nahmen. Zur Erinnerung: Die Weltbevölkerung zählte damals etwa 3 Milliarden Menschen.

Worum ging es dabei? Daniel Ellsberg erhielt Zugang zu den konkreten Zielplanungen des Pentagons, die eigentlich nur eine Handvoll hoher Regierungsvertreter und Militärs kennen durfte. Manche dieser Dokumente trugen sogar den Zusatz "For President's Eyes Only!" Ihnen entnahm er unter anderem die Einschätzung, daß Finnland infolge des radioaktiven "fallouts" der über Leningrad abgeworfenen Atombomben ausgelöscht ("wiped out") werden würde.

Ellsberg war außerdem bei "Kriegsspielen" des Strategischen Bomberkommandos (SAC) anwesend, die den Ablauf eines Aggressionskrieges gegen die UdSSR, China und die sozialistischen Staaten in Europa simulierten. Hier wurde die Eisenhower-Doktrin der "massiven Vergeltung" geprobt, in deren Ergebnis mindestens die Hälfte der Bevölkerung in der Sowjetunion und 100 Millionen Bewohner in Osteuropa getötet werden würden. Besonders erschütterte ihn, daß die Kriegspläne vorsahen, zusammen mit der UdSSR auch China atomar zu vernichten. Dies galt ausdrücklich sogar für den Fall, daß China an einem US-amerikanisch-sowjetischen Konflikt, der atomar zu eskalieren drohte, überhaupt nicht beteiligt gewesen wäre. Die Passagen zum Verlauf dieser "Kriegsspiele", die Selbstverständlichkeit, mit der die Generäle des SAC agierten, der menschenverachtende Zynismus der Offiziere sowie der anwesenden politisch Verantwortlichen sowie ihre Unfähigkeit, die globalen Folgen eines solchen totalen Atomkrieges in Rechnung zu stellen (z. B. unzählige Verletzte, die nicht hätten versorgt werden können; Entstehung eines "atomaren Winters" mit jahrelangen Mißernten und weltweiten Hungersnöten), gehören zu den eindrucksvollsten Kapiteln.

Eine weitere Erkenntnis drängte sich ihm auf. Während wider besseres Wissen die Gefahr eines atomaren Überraschungsangriffs der UdSSR an die Wand gemalt wurde, handelte es sich bei den Atomkriegsplänen der USA vor allem um "Erstschlagspläne", deren Berechtigung intern damit legitimiert wurde, man müsse im Krisenfall einem bevorstehenden Angriff der UdSSR auf das Territorium der USA zuvorkommen ("preemptive attack"). Doch derartige Planungen wurden zu einer Zeit vorgenommen, als die UdSSR zu einem solchen Angriff gar nicht fähig war bzw. eine solche theoretische Möglichkeit auch für eine absehbare Zukunft nicht bestand.

Alles das veranlaßte Daniel Ellsberg, ihm zugängliche, streng geheime Dokumente zu kopieren und an wechselnden Orten aufzubewahren. Manches davon ist mittlerweile besonders vom National Security Archive und auf Daniel Ellsbergs Website publiziert worden, manches wird zum ersten Mal in seinem Buch mitgeteilt, wobei vor allem die Schilderung seiner Gespräche mit führenden Politikern im Pentagon und aus der Umgebung des Präsidenten wertvoll ist.

Aber der Autor sorgt sich mit Recht auch um die gegenwärtigen Atomkriegsplanungen der USA. Er verweist darauf, daß alle Administrationen seit den Zeiten Harry S. Trumans sich beharrlich geweigert hätten darin einzuwilligen, niemals als erste Atomwaffen einzusetzen. Dies galt auch für Barack Obama, unter dessen Präsidentschaft eine groß angelegte "Modernisierung" der Atomwaffen beschlossen worden sei - und es gilt selbstverständlich für Donald Trump. Ellsberg warnt in seinem Buch dringend davor, die Bereitschaft der Herrschenden in den USA zu unterschätzen, als erste Atomwaffen einzusetzen: Zumindest indirekt gab es in den letzten Jahren verschiedentlich öffentliche, an die Adresse des Iran und Nordkoreas gerichtete Warnungen, daß auch diese Option "auf dem Tisch liege". Der Autor zitiert aus ent sprechenden Bekundungen gegenüber den Medien. Ausschließen wollten den Ersteinsatz von Atomwaffen im Vorwahlkampf 2015/2016 lediglich zwei Kandidaten, die allerdings nur auf jeweils ein Prozent Wählerstimmen hoffen durften und bald aus dem Rennen um die Präsidentschaft ausgeschieden waren.

Die mehrfach vom russischen Präsidenten Wladimir Putin formulierte Warnung, Hauptaufgabe der internationalen Politik müsse es sein, einen Atomkrieg zu verhindern, erhält nach der Lektüre von "The Doomsday Machine" eine beklemmende Aktualität.

Es bleibt abschließend zu hoffen, daß in nächster Zeit eine deutsche Übersetzung vorliegen wird.

Dr. Reiner Zilkenat
(Aus "Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke", 1/2019)

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Es droht ein neuer nuklearer Rüstungswettlauf

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Petition an die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag
Keine Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland und Europa!

1. Der INF-Vertrag zwischen den USA und der Russischen Föderation zum Verbot nuklear bestückbarer Mittelstreckenraketen muß gerettet werden.

Der INF-Vertrag muß lediglich um ein erneuertes Inspektionsregime ergänzt werden, um Verdachtsfälle vor Ort aufklären zu können, statt spekulative Ferndiagnosen zu leisten.

2. Sollten die USA dennoch den Vertrag einseitig aufkündigen, muß die Bundesregierung klar und deutlich einer Stationierung dieser Waffensysteme auf deutschem Boden eine Absage erteilen.

3. Zugleich muß sich die Bundesregierung auf EU- und NATO-Ebene gegen eine Stationierung dieser Waffensysteme in Europa engagieren.

Warum ist das wichtig?

Der INF-Vertrag ist der zentrale Baustein der europäischen Abrüstung im nuklearen Bereich aus den späten 80er Jahren. Wird der Vertrag gekündigt, so droht ein erneuter nuklearer Rüstungswettlauf. Eine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa/Deutschland verkürzt die Vorwarn- und Reaktionszeiten (Flugzeit einer Rakete vom Startort bis zum Zielobjekt) auf unter zehn Minuten - abhängig davon, wo sie stationiert werden würden. Damit stiege die Gefahr eines unbeabsichtigten Nuklearkrieges erheblich. Europa wäre, wie auch schon im ersten kalten Krieg, das Zentrum der nuklearen Zerstörung. Die europäischen Länder können mit der Ablehnung einer Stationierung dieses Waffensystems in Europa der US-Regierung deutlich machen, daß sie sich nicht den Vorgaben der US-Regierung unterwerfen, und die einseitige Aufkündigung des INF-Vertrages praktisch ins Leere laufen lassen.

In den frühen 80er Jahren protestierten Hunderttausende gegen die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen Pershing II. Obschon seinerzeit die Stationierung 1983 trotz der Massenproteste beschlossen wurde, war der Widerstand in Deutschland ein doppelter Erfolg:

Niemals zuvor sind so viele Menschen für den Frieden auf die Straße gegangen. Und Ende der 80er Jahre wurde mit dem INF-Vertrag die vollständige Verschrottung aller Mittelstreckenraketen der USA und der damaligen UdSSR beschlossen und vollzogen.

Die Petition kann im Internet unterzeichnet werden unter:
https://t.co/LReRIN5RwX

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Über den Unterschied zwischen zwei Klassendiktaturen

Mit einer gewissen Ernüchterung beobachten Marxisten, wie Teile der Partei Die Linke ihre Positionen und Auffassungen zum Staat und zur bürgerlichen Demokratie ändern oder verwässern. Dahinter stehen Vorstellungen, als Koalitionspartner für Regierungsbündnisse auf Bundes- und Landesebenen kompatibel zu sein bzw. zu bleiben.

Für eine Teilnahme an einer Bundesregierung hat es bisher jedoch nicht gereicht. Die Eintrittskarte dafür ist die Bereitschaft zu noch größerer Selbstverleugnung der eigenen Vergangenheit und die Aufgabe von Grundpositionen, wie etwa in der Friedensfrage bzw. hinsichtlich der Teilnahme der BRD an Kriegseinsätzen, z. B. im Rahmen von UNO oder NATO. Die Herrschenden würden auch gern sehen, daß die Frage nach dem Eigentum an den wesentlichen Produktionsmitteln keine Rolle in den politischen Vorstellungen mehr spielt.

So bietet diese Partei ein Bild einer in sich zerrissenen Kraft ohne klare theoretische Positionen. Ein gewisses Gottvertrauen in die bürgerliche Demokratie der BRD und in die Europäische Union ist schon lange vor den Wahlen 2019 festzustellen. Dahinter verbirgt sich bei manchen die Hoffnung, mit der Eroberung von Parlamentssitzen und Posten in Regierungsverantwortung tatsächlich etwas ändern zu können. Doch wer sich darauf einläßt, wird objektiv selbst zum Teil des Systems und dient seiner Erhaltung, auch wenn er subjektiv meint, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu gestalten oder gar das gesellschaftspolitische System erneuern zu können.

Die vermeintlich halblinke Partei Die Grünen ist diesen Weg gegangen und hat ihr Profil als Friedenspartei aufgegeben, um an die Fleischtöpfe der politischen Macht zu gelangen. Sie ist heuteeineParteiwiealleanderenbürgerlichen Parteien, einschließlich der SPD, die angetreten sind, die kapitalistische Gesellschaftsordnung am Leben zu erhalten.

Fidel Castro gab in den 60er Jahren dem amerikanischen Journalisten Lee Lockwood ein Interview, in dem er den Unterschied zwischen den Klassendiktaturen in den USA und in Kuba analysierte. Auch wenn Castro über die USA und Kuba spricht, haben seine Gedanken zum Staat eine hohe Aktualität und einen großen Verallgemeinerungswert für die Gegenwart.

"Wir sind Marxisten und betrachten den Staat als ein Instrument der herrschenden Klasse zur Ausübung von Macht. Was Sie 'repräsentative Demokratie' nennen, ist nach unserer Meinung die Diktatur des Kapitalismus, und der nordamerikanische Staat ist ein Instrument dieser Klassenherrschaft, in innenpolitischer Hinsicht ebenso wie in internationaler. Ich halte dies nicht nur für theoretische Positionen. Die herrschenden Klassen üben ihre Macht mit Hilfe des Staates und aller Mittel aus, auf die sie sich zur Verteidigung ihres Systems verlassen können. Sie verlassen sich dazu nicht nur auf den Staat, seine Administration, seine Streitkräfte, sondern auch auf all die anderen Instrumente, die dem System zur Verfügung stehen: die vorherrschenden politischen Parteien, die komplett von diesen Klassen kontrolliert werden und sich an der Macht abwechseln, alle Kommunikationsmittel - die Presse, Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen, Magazine, Filme, Verlage, technische und wissenschaftliche Gesellschaften, öffentliches Bildungswesen, die Universitäten. Alle diese Medien sind einem System zu Diensten, das von den Reichen in den Vereinigten Staaten kontrolliert wird.

Natürlich könnten Sie mir jetzt entgegenhalten, daß es in den Vereinigten Staaten möglich ist, ein Buch gegen die Regierung zu veröffentlichen oder ein paar kritische Artikel zu schreiben. Das gefährdet die Sicherheit des Systems nicht im geringsten. Alles, was das System gefährden könnte, wird, wie bewiesen wurde, unterdrückt. (...)

Es gibt Kritik in den Vereinigten Staaten, ja, aber innerhalb des Systems, nicht gegen das System. Das System ist etwas Unberührbares, Heiliges, gegen das sich nur wirkliche Ausnahmen zu äußern wagen. Deshalb frage ich mich, ob es sich hier nicht wirklich um eine Klassendiktatur handelt, um die Durchsetzung eines Systems mit allen materiellen und moralischen Mitteln. In den Vereinigten Staaten wählen die Menschen alle vier Jahre einen der Kandidaten, die von den beiden Parteien aufgestellt werden, aber das bedeutet keinen Wechsel.

Wir andererseits halten den revolutionären Staat für ein Machtinstrument der Arbeiter und Bauern, das heißt der körperlich und geistig Arbeitenden, gelenkt von einer Partei, die sich aus den Besten dieser Menschen zusammensetzt."

Castro betonte im weiteren Verlauf des Gesprächs, daß er als Regierungschef und Staatspräsident bestimmte Funktionen in Staat und Partei ausübt, seine Entscheidungsbefugnis jedoch tatsächlich geringer ist als die des Präsidenten der Vereinigten Staaten. "Wenn wir über persönliche Macht sprechen: In keinem anderen Land der Welt, nicht einmal in absoluten Monarchien, hatte je eine Person so viel Macht wie der Präsident der Vereinigten Staaten. Der Amtsinhaber (...), kann das Land sogar in einen thermonuklearen Krieg führen, ohne den Kongreß zu konsultieren. Das ist in der Geschichte einmalig. (...)

Folglich verkörpert der Funktionär, den Sie Präsident nennen, den umfassendsten Ausdruck einer Klassendiktatur, die gelegentlich deutlich wird, wenn sie einem einzelnen Mann die absolute Macht überläßt." (Lee Lockwood: Castros Kuba, Taschen-Verlag, Köln 2016, S. 187-188) Fidel Castro brachte zum Ausdruck, daß er das kubanische System als demokratisch betrachtete, weil es den Willen der großen Mehrheit des Volkes, der Armen und nicht der Reichen widerspiegelt.

Eine wahrhaft linke Partei braucht eine klare theoretische Auffassung zur Rolle des Staates und der bürgerlichen Demokratie unter den heutigen Bedingungen der Friedensbedrohung, des Neoliberalismus und der beschleunigten Internationalisierung von Kapital und Arbeit. Die Teilnahme am Parlamentarismus ist wichtig, darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Schwerpunkt muß die außerparlamentarische Arbeit sein, um als linke Kraft in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Anderenfalls ist sie nur opportunistisch, chauvinistisch, fester Bestandteil des staatsmonopolistischen Systems. (Lenin)

Dr. Ulrich Sommerfeld
Bernau

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Einige Gedanken zu einem unerwarteten Wahlergebnis
Das brasilianische Rätsel

Die Wahlen in Brasilien im Jahr 2018 waren von Haß geprägt. Dies wurde vom Bolsonaro-Team effizient genutzt. Vor ein paar Jahren war es schwer vorstellbar, daß Bolsonaro so stark wächst. Seine Unterstützung war nicht großartig. Seine faschistischen Worte fanden mehr Kritik als Unterstützung, die meisten schienen dem darin zum Ausdruck kommenden Haß auf Frauen, Schwarze, Homosexuelle und Kommunisten nicht zuzustimmen.

Bolsonaro war der erste, der seine Kandidatur ankündigte. Sein Team begann seine politische Kampagne lange vor den anderen Parteien und Kandidaten. Bolsonaro reiste in die USA, um Verbündete zu suchen. Bei einer dieser Reisen fand ein Treffen mit Steve Bannon statt. Bannon wurde bekannt wegen seiner faschistischen Ideen und als Stratege von Trumps Wahlkampagne. Während der Wahlen in Brasilien erklärte Bannon seine Unterstützung für Bolsonaro. Es gibt auch Hinweise darauf, daß er in "sozialen Medien" zur politischen Manipulation beigetragen hat.

Das wurde anfangs nur von wenigen unterstützt. Bolsonaro trat verstärkt in den Medien und in "sozialen Netzwerken" auf. Er konzentrierte seine Kommunikation auf Facebook und WhatsApp-Gruppen, ist aber auch in mehreren Fernsehsendungen aufgetreten. Zunächst wurde er für seine von Vorurteilen geprägten Slogans kritisiert. Dann begannen sie sich zu wiederholen, und ihr Sinn wurde durch das Verhalten seiner Mitarbeiter verändert. Es wurde behauptet, daß er so aggressiv spreche, weil er ehrlich sei und nichts zu verbergen hätte. Obwohl er fast dreißig Jahre lang Abgeordneter war, wurde er als ein von außerhalb der Politik Kommender dargestellt. Bolsonaro wurde in ein virtuelles Phänomen umgewandelt. Vieles, was er an Kritik bekam, wurde umgedreht und in den "sozialen Medien" für ihn eingesetzt. Sein Team versuchte recht erfolgreich, seine Ignoranz in eine positive Qualität umzuwandeln. In der Kommunikation im Internet ist es immer schwierig, eine kritische Analyse zu entwickeln. In "sozialen Netzwerken" wirkt das Wiederholen von Informationen viel stärker als das Analysieren von Informationen. In Interviews und bei Debatten im Fernsehen wäre das sehr viel schwieriger: Hier hätte er seine Gedanken gründlicher entwickeln und konkrete Argumente vorlegen müssen. Zu Beginn seiner Kampagne hat Bolsonaro an einigen solcher Veranstaltungen teilgenommen. Seine Beschränktheit wurde dabei offensichtlich. Daher weigerte er sich später, weitere Fernsehdebatten zu bestreiten.

Dann wurde er bei einer Kundgebung durch einen Messerangriff schwer verletzt und fast getötet. Er mußte mehrere Tage im Krankenhaus bleiben. Der Angriff erhöhte seine Popularität, seine Ablehnungsraten sanken. Vor dem Angriff galt er als Favorit der ersten Wahlrunde. Man dachte, er würde in der zweiten Runde von allen anderen Kandidaten besiegt werden, sogar vom Kandidaten der Arbeiterpartei. Die Wahlkampagne von Bolsonaro nahm Fahrt auf und wurde durch das Internet weiter verstärkt - auch auf illegale Weise. Sponsoren bezahlten Unternehmen für das Versenden von WhatsApp-Nachrichten an ausgewählte Empfänger. In den USA lief so etwas bereits über Facebook.

Die "sozialen Medien" wurden dazu benutzt, gegen die Arbeiterpartei gerichtete Nachrichten zu versenden. Auch Fernando Haddad, ihr Kandidat, war Ziel dieser Botschaften. Millionen von Nachrichten wurden versendet. Die Botschaften waren zum größten Teil schreckliche Lügen. Die "Fake news" wurden professionell und skrupellos verbreitet. Die Effizienz politischer Manipulation beruht auf emotionaler Manipulation.

Auch anderes half Bolsonaro. Es war nicht nur der Haß. Es waren auch Vorurteile und Unwissenheit. Bolsonaro hatte wichtige kirchliche Unterstützung. Der größte Teil der brasilianischen Bevölkerung folgt immer noch der katholischen Religion. Die Zunahme des Protestantismus ist besonders in den Neo-Pfingstgemeinden sehr groß. Diese Kirchen haben eine große Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen. Die wichtigste Unterstützung kam jedoch vom Finanzkapital. Der von der Mehrheit dieser Gruppe bevorzugte Kandidat war zunächst Geraldo Alckmin von der brasilianischen Sozialdemokratischen Partei. Aber Alckmin konnte seinen Stimmenanteil nicht erhöhen. Seine Chancen, in die zweite Runde zu kommen, waren gering. Die Agenten des Finanzkapitals beschlossen daher, mit Bolsonaro zu verhandeln. Dieser präsentierte Paulo Guedes, einen Vertreter der Interessen dieser Gruppe, um die Wirtschaftspolitik zu kontrollieren. In Erwartung des Sieges von Bolsonaro in der ersten Runde erfuhr die brasilianische Währung eine Rekordaufwertung. Zwischen dem 13. September und dem 9. Oktober 2018 (zwei Tage nach der ersten Wahlrunde) stieg die brasilianische Währung gegenüber dem Dollar und dem Pfund um mehr als 11 Prozent und gegenüber dem Euro um mehr als 13 Prozent.

Wenn Bolsonaro versprach, die Kontrolle der Wirtschaftspolitik auf das Finanzkapital zu übertragen, was wird dann seine Hauptfunktion in der brasilianischen Regierung sein? Die Antwort auf diese Frage zeigt, wie kompliziert die Situation in Brasilien ist.

Brasilien wird mit seiner Wirtschaftspolitik das Finanzkapital stärken und damit seine internationale Abhängigkeit erhöhen. Es werden auch neue Bedingungen geschaffen, um die Gewinne der einheimischen und ausländischen Kapitalisten zu steigern. Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter werden sich verschlechtern. Die wenigen sozialen Rechte werden abgebaut werden. Die Ausbeutung des nationalen Reichtums durch ausländische Kapitalisten wird verstärkt werden. Aber das reicht nicht aus. Bolsonaro steht für faschistische Werte. Wie er versprochen hat, wird die Unterdrückung zunehmen. Sein erstes Ziel werden Organisationen, Menschen und Ideen der Linken sein. Er will das kritische Denken an Schulen und Universitäten zerstören. Er beabsichtigt, Menschen, die seiner Regierung kritisch gegenüberstehen, festzunehmen, zu verbannen oder zu töten. Er wird Gewalt als Mittel der Einschüchterung und Zerstörung einsetzen. Und diese Gewalt wird nicht nur von institutionellen Körperschaften wie Polizei und Armee ausgehen. Man wird dafür auch paramilitärische Gruppen einsetzen. Viele Menschen wurden bereits von Bolsonaro Anhängern geschlagen, vergewaltigt und getötet.

Die Geschichte verläuft jedoch nicht linear, sie verläuft dialektisch. Es gibt keine Geschichte ohne Widersprüche und ohne Bewegung. Dies gilt auch für Brasilien. Die künftigen Jahre werden wahrscheinlich schrecklich - es kann sich aber auch großer Widerstand entwickeln.

Prof. Henrique Wellen,
Natal (Brasilien)

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Die polnische Reaktion an der Macht

Der polnische Nationalismus hat heute eine erschreckende Dimension erreicht. Erstmals in der modernen polnischen Geschichte ist er - dazu in dieser extremen Ausprägung - durch eine reaktionäre Geschichtspolitik unter der PiS (Partei Recht und Gerechtigkeit) offiziell Staatsraison.

Obwohl er in den letzten 100 Jahren fast nur zu Mißerfolgen und Niederlagen führte, wird er von den meisten Polen angenommen und als Kernstück ihres Patriotismus verstanden.

In Polen gibt es zwei Arten von Nationalismus, die sich gegenseitig ergänzen. Der eine ist ein defensiver Nationalismus und resultierte aus der ökonomischen und politischen Schwäche des Landes nach dessen Dreiteilung im 18. Jahrhundert und mehreren verlorenen nationalen Aufständen. Er entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts und wurde von den Nationaldemokraten unter Roman Dmowski getragen. Ihm zufolge stand nicht der polnische Staat an erster Stelle, sondern die polnische Nation. Sie sollte zusammenhalten - auch unter fremder Besatzung - und die nationalen Traditionen zur Geltung bringen. Hierzu gehörte in erster Linie die katholische Konfession, der jeder Pole angehören mußte.

Die polnische Nation schloß andere nationale Minderheiten, vor allem Juden, aus. In engem Zusammenwirken mit der katholischen Hierarchie wurde über die Religion eine kulturelle Überlegenheit des Polentums gegenüber allen anderen Nachbarvölkern postuliert. Das beinhaltete auch die Ablehnung aller, vor allem progressiver Einflüsse, aus dem Westen, denn diese würden das Polentum nur schwächen. Die katholische Religion sollte alle Klassen und Schichten integrieren, die Arbeiterschaft von christlichen Parteien und Gewerkschaften geleitet werden. Sozialistisches Gedankengut, gar Atheismus, wurde als unpolnisch diffamiert, ignoriert oder als nationale Bedrohung diskreditiert.

Der Hauptfeind war das die Germanisierung polnischer Gebiete forcierende protestantische Preußen-Deutschland. Mit dem zaristischen Rußland, dem man sich überlegen fühlte, wollte man zusammenarbeiten. Im Zuge des Ersten Weltkrieges ging die Nationaldemokratie, die bisher nur für eine Autonomie innerhalb des Zarenreiches votierte, zunehmend auf die Erringung der Staatlichkeit über. Polen sollte in Anlehnung an Rußland die deutschen und österreichischen Teilungsgebiete bekommen.

Nach der Oktoberrevolution war die prorussische Option passé. Zur bisherigen Deutschfeindlichkeit kam noch der Antisowjetismus hinzu.

In den Jahren der Grenzkämpfe 1918 bis 1920 spielten die Nationaldemokraten aber auch eine positive Rolle. Sie hatten wesentlichen Einfluß auf antideutsche Aufstände und kämpften bei Verhandlungen mit dem Westen um jeden Zentimeter polnischen Bodens.

Hinsichtlich der polnischen Ostgrenzen waren die Nationaldemokraten weitaus realistischer als die Regierenden um Marschall Józef Pilsudski. Sie lehnten nicht nur seine Idee einer Föderation der westlichen Randstaaten Sowjetrußlands unter polnischer Ägide ab, sondern mahnten und warnten vor der Eroberung ukrainischer und belorussischer Gebiete. Sie glaubten zu Recht, daß eine Konzentration nichtpolnischer, feindseliger nationaler Minderheiten ein Sicherheitsrisiko nach sich ziehen würde. Immerhin betraf das die Hälfte des neuen polnischen Staatsgebietes.

Die Nationaldemokraten wurden bei den ersten Wahlen mit fast der Hälfte der Wähler stärkste Partei Polens, wurden politisch aber ab 1926 durch das Pilsudski-Lager zurückgedrängt und zu einer faschistoiden und antisemitischen Partei, aus deren rechten Flügel die polnischen Faschisten (Nationalradikales Lager - ONR) hervorgingen. Das ONR gibt es heute wieder.

Während des Zweiten Weltkrieges waren die Nationaldemokraten in der Londoner Exilregierung vertreten. Durch alliierten Beschluß wurden sie als nazistische Partei verboten.

Heute kann man sagen, daß die regierende PiS-Partei nach den meisten Kriterien als Nachfolger der Nationaldemokraten gilt: klerikalpolitisch, antisozialistisch, antideutsch, extrem nationalistisch und autoritär.

Die Russenfeindlichkeit entnahm die PiS einer anderen Spielart des polnischen Nationalismus. Die Ideologie des Pilsudski-Lagers verfügt über die Elemente eines "landläufigen" und aggressiven Nationalismus, dessen Grenzen zum Patriotismus fließend waren und daher leicht bis heute angenommen werden konnte.

Während die Nationaldemokratie die Interessen der Kirche, der Großgrundbesitzer, Unternehmer, Großbauern und besitzenden städtischen Kleinbürgertum präsentierte, entsprang das Pilsudski-Lager ursprüng lich aus der sozialdemokratischen Bewegung, die in Rußland ihren Hauptfeind sah.

Die auch von Pilsudski geschaffene sozialistische Partei PPS hatte starke nationalistische Tendenzen. Die PPS-Linken spalteten sich dann ab und vereinigten sich später mit den Kommunisten. Die PPS-Rechte blieb die politische Hausmacht von Pilsudski, dessen Militärorganisation zunehmend ein Eigenleben entfaltete und sich dadurch zu einer kleinbürgerlich-nationalistischen Bewegung entwickelte, die dann 1926 die stärkste bürgerliche Gruppierung ausmachte. Seine Sympathisanten waren Sozialdemokraten, die linke Bauernbewegungen, das nichtbesitzende Kleinbürgertum und die nichtetablierte Intelligenz. Dadurch kam dieser Nationalismus verstärkt in jene Schichten, die somit seine ideologischen Träger wurden.

Nach Pilsudskis Plänen sollte die staatliche Unabhängigkeit militärisch gegen Rußland erkämpft werden. Deutsche und österreichische Teilungsgebiete forderte er nicht. Polen sollte um russischen Besitz erweitert, und zugleich sollten von Polen abhängige Staaten (Föderation) um Rußland gebildet werden.

Die föderalistische Idee war im Grunde genommen eine mehr oder weniger den veränderten Realitäten entsprechende und getarnte Wiederaufnahme der polnischen feudalistischen Ostexpansion.

Der Nationalismus von Pilsudski war eine modifizierte Form entsprechender Denkweisen des Klein- und Mitteladels (Schlachta) und der Latifundienbesitzer (Magnaten). Ihre Ostexpansion führte um das 16. Jahrhundert dazu, daß Polen zum zweitgrößten Land Europas wurde und sich zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer ausbreitete. Ihnen stellten sich Türken, länger und folgenreicher jedoch die Russen entgegen. Für die Schlachta bedeutete es ständige Kriege und reiche Beute, die Magnanten und Kirche kamen zu unermeßlichem Landbesitz. Die Kirche schuf die ideologischen Grundlagen für eine Überheblichkeit gegenüber den unterworfenen ostslawischen Völkern.

Das katholische Polen sollte als Bollwerk des westlichen Christentums gelten. Durch eine höhere gesellschaftliche Entwicklung, die angeblich bessere Religion und die durch sie postulierte gottgegebene Herrschaft der Polen glaubten sie, sich endlos an russischem Land bereichern zu können. Doch die Russen, später auch die Ukrainer, setzten sich zur Wehr und schlugen zurück. Das immer stärker werdende und arrogant unterschätzte Rußland wurde nun zum Hauptfeind. Den Kampf gegen Rußland bezahlte das polnische Volk 1795 mit dem Verlust seiner Staatlichkeit.

Die einstige Größe Polens wurde nun die Grundlage eines gesellschaftlichen Trotzens gegen die Teilermächte, die den Polen jegliche Fähigkeit zur Staatsbildung absprachen. Die Aufstände 1830 und 1863 wurden besonders von Rußland hart niedergeschlagen. Ende des 19. Jahrhunderts machte sich Resignation breit; gegen Rußland, dem man sich moralisch und anderweitig überlegen fühlte, schien doch kein Kraut gewachsen zu sein.

Mit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit und dem Chaos des russischen Bürgerkrieges 1918 gelangte der Pilsudski-Nationalismus zur vollen Blüte: Polen wollte sich an der angeblichen Konkursmasse des Zarenreiches bedienen, die alten Grenzen von 1772 und möglichst noch mehr einheimsen. Um diese Gebiete besser verwalten zu können, sollten in der Ukraine und in Belorußland Marionettenregierungen eingesetzt werden. Das bedeutete Krieg, und die Mehrzahl der Polen machte gern mit: die Masse der landarmen Bauern, die wirtschaftlich entmachteten Kleinadligen, die Latifundisten und natürlich die katholische Kirche, die das Land der Ukrainer und Belorussen an sich reißen und jene für sich arbeiten lassen wollten. Auch Teile der Arbeiterschaft, die sich Aufsichtsposten im Osten versprachen und die Intelligenz, die eine Vielzahl von zu erwartenden freien Verwaltungsposten besetzen wollte.

Doch es kam anders. Pilsudski konnte trotz erheblicher Landgewinne sein föderalistisches Programm nicht durchsetzen. Die Polen schwelgten im Siegesrausch, denn sie hatten die Rote Armee vor Warschau zurückdrängen können. Pilsudski hingegen kam zu anderen Einsichten, hatte im Gegensatz zu seinen Landsleuten Lehren aus diesen Kämpfen gezogen. Einen Krieg gegen die Sowjets wollte er nicht mehr, da er in der UdSSR eine künftige Weltmacht erblickte. In seinen späten Jahren war er an sachlichen Beziehungen zum östlichen Nachbarn interessiert und erteilte den Nazis, die ihn für einen neuen Ritt gen Osten gewinnen wollten, eine klare Absage. Die Beziehungen zur Sowjetunion gediehen besonders in seiner Zeit und waren weitaus besser als die heutigen zu Rußland. Daher ist eine Berufung auf den Marschall durch die polnischen Rußlandfeinde völlig verfehlt.

Dennoch entwickelte der von ihm initiierte Nationalismus eine Eigendynamik, wurde noch potenziert, als die Sowjetunion immer stärker wurde. Polen wollte daher als Bastion des Westens gelten und eine Sonderrolle in Osteuropa spielen. Aber auch diese Sache ging 1939 schief.

Nach 1944 wurde Polen auch mit erheblicher sowjetischer Hilfe sozialistisch. Daher schwätzen die heutigen Machthaber von einer neuen, die deutsche ablösende sowjetischen Okkupation, die nach 1945 eingesetzt haben soll, denn der Sozialismus sei etwas Unpolnisches. Volkspolen wäre demnach kein souveränes Land gewesen: 1989 galt als das Jahr der wirklichen Unabhängigkeit. Jetzt erst wurde von einem "freien Polen" gesprochen, in Verkennung historischer Tatsachen leider auch von großen Teilen der polnischen Linken. Die von der PiS betriebene extrem nationalistische reaktionäre Geschichtspolitik ist Staatsraison.

Heute hat man in Polen wieder die Illusion, in den Nachfolgestaaten der UdSSR doch noch die Föderation von Pilsudski durchzusetzen. Dem steht aber nicht nur schwaches polnisches Kapital, sondern auch ein wiedererstarktes Rußland gegenüber. Daher der ohnmächtige Haß, mit dem das eigene Regime legitimiert werden und westliche Unterstützung für den neuen Frontstaat fließen soll. Da es hierzu im Westen Bedenken gibt, wird ein direktes Bündnis mit den USA angestrebt.

Dr. Bernhard Majorow

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Der deutsche Imperialismus und die Ukraine

Das deutsche Kaiserreich, nach 1871 zur europäischen Großmacht aufgestiegen, entwickelte sich um die Jahrhundertwende rasch zur führenden Industriemacht des Kontinents mit weltweiten Expansionszielen. Zu diesem Zeitpunkt war die Welt bereits fast völlig aufgeteilt, doch das deutsche Kaiserreich erkannte den bestehenden Status quo nicht an. Die herrschenden Kreise nahmen Kurs auf eine Neuaufteilung der Welt zu ihren Gunsten. Der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bülow, erklärte 1899 im Reichstag: "Aber jedenfalls können wir nicht dulden, daß irgendeine fremde Macht ­... zu uns sagt: Was tun? Die Welt ist weggegeben. Untätig beiseite stehen, wie wir das früher oft getan haben ... träumend beiseite stehen, während andere Leute sich den Kuchen teilen, das können wir nicht und wollen wir nicht. Wir können das nicht aus dem einfachen Grunde, weil wir jetzt Interessen haben in allen Weltteilen ­..." Er meldete den Anspruch Deutschlands auf einen "Platz an der Sonne" an. Ist das alles nur Geschichte?

Nachdem das aufstrebende deutsche Industrie- und Finanzkapital sich sein eigenes politisches System geschaffen hatte, erfolgte die Militarisierung auf der Grundlage des Preußentums. Unter imperialistischen Bedingungen kam es zugleich zu einer wesentlichen Veränderung des allgemeinen Charakters des Krieges. Deutsche Generalität und deutsches Offizierskorps beanspruchten das Recht, über die Politik mitzubestimmen. Zugleich entwickelte sich der deutsche Militarismus in enger Verzahnung mit den Rüstungsunternehmen von Krupp, Thyssen, Stumm-Halberg, Siemens, der AEG u. a. Es entstand die Allianz von Kapitalismus und Militarismus, von Krieg, Politik und großem Geschäft.

Als geistiges Verbindungsglied wurden Organisationen alldeutscher Prägung entwickelt, die Masseneinfluß erlangten. Dazu gehörten: die Deutsche Kolonialgesellschaft (1887), der Alldeutsche Verband (1891 bzw. 1894), der Deutsche Flottenverein (1898), der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie (1904), der Deutsche Wehrverein (1912), der Kyffhäuserbund (1898), Kriegsvereine, Luftfahrtvereine, Jugendvereine. Universitäten und Forschung wurden mißbraucht. Es entwickelte sich ein weitverzweigtes System von politischen, wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Institutionen, Mitteln und Methoden, die das gesamte gesellschaftliche Leben durchdrangen und in den Dienst von Profit, Expansion und Krieg stellten. Diese Tradition wirkt bis heute.

Der preußische General und führende Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi rief in seinem Buch "Deutschland und der nächste Krieg" (1912) u. a. zur "Eroberung von Siedlungsgebieten im von Rußland kontrollierten Osten" auf. Schon 1890 ortete er "den Russen" als "wahren Nationalfeind". "Kampf des Germanentums gegen den Panslawismus, das wird das Wahrzeichen der nächsten Geschichtsperiode sein", hieß seine Erkenntnis.

Das Auswärtige Amt des deutschen Reiches entwickelte Vorstellungen, um diese Ziele zu erreichen. In einer der zahlreichen Kriegszieldenkschriften forderte am 2. September 1914 der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, "Rußland sowohl von der Ostsee als auch vom Schwarzen Meer abzuschließen". Den Weg sah er in der "Befreiung der nichtrussischen Völkerschaften" des Zarenreiches "vom Joch des Moskowitertums und (der) Schaffung von Selbstverwaltung im Inneren der einzelnen Völkerschaften". Er fügte hinzu: "Alles dies unter militärischer Oberhoheit Deutschlands, vielleicht auch mit Zollunion." Paul Rohrbach, Mitarbeiter Kaiser Wilhelm II. besucht die Truppen an der Front in Galizien, das heute zur Westukraine gehört. der "Zentralstelle für Auslandsdienst" beim Auswärtigen Amt, vertrat schon damals die Parole: "Ohne die Ukraine ist Rußland nicht Rußland" und "Wer Kiew hat, kann Rußland zwingen."

In diesem Sinne schloß das Deutsche Reich im Februar 1918, noch vor dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk, ein Abkommen mit der Ukraine. Diese hatte vorher als Staat nicht existiert! So wurde die Ukraine zum Subjekt des Völkerrechts, das von Deutschland für seine Zwecke eingesetzt wurde. Mit dieser Anerkennung als Vertragspartner sollte Rußland erpreßt werden. Am Ende des Jahrhunderts hat Deutschland als Vorreiter Kroatien und Slowenien anerkannt und damit den letzten Nagel für den Sarg Jugoslawiens geliefert.

Der Weg nach Rußland führte stets über die Ukraine und über die Austragung zwischenimperialistischer Widersprüche. Für die USA z. B. wäre der volle Sieg einer der kämpfenden Gruppierungen unvorteilhaft gewesen. Weder der Sieg und die Hegemonie Deutschlands noch der volle Triumph Englands und des zaristischen Rußlands wären für sie eine akzeptable Perspektive gewesen. Aber ein Sieg Deutschlands wäre am wenigsten erwünscht gewesen, weil er zur Hegemonie einer einzigen Macht in ganz Europa geführt hätte. Es gibt also noch konstante Linien - auch in der imperialistischen Politik!

In den ersten Tagen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk begann Deutschland, ihn zu verletzen. Die aggressiven Kreise setzten ihre Bestrebungen fort, einen militärischen Überfall gegen den Sowjetstaat zu organisieren, um Territorium zu erobern, die Sowjetmacht zu beseitigen und Rußland zu einem von Deutschland abhängigen Staat zu machen. Im Falle der Ukraine nutzte die deutsche Regierung die Tatsache aus, daß es zwischen Sowjetrußland und der Ukraine keine klare Grenzmarkierung gab. Sie besetzte die Ukraine und machte sie zur Basis für das weitere Vordringen nach Rußland, indem sie den Verrat der ukrainischen bürgerlichen Nationalisten ausnutzte.

Die deutsche Armee in der Ukraine hatte eine Stärke von einer Million Mann. Im März 1918 besetzten deutsche Truppen den Donbass. Dann rückten sie weiter zum Don vor, wo sie General Krasnow, der einen konterrevolutionären Aufstand anführte, halfen, eine Armee zum Kampf gegen den Sowjetstaat zu formieren und zu bewaffnen. Im April drangen die deutschen Truppen in die Gouvernements Kursk, Orlow und Woronesh ein. Im Mai besetzte die deutsche Armee die Krim. Deutliche Beweise für die Absichten des deutschen Imperialismus! Lenin erklärte im Mai 1918: "Die Mehrheit der bürgerlichen Parteien Deutschlands tritt gegenwärtig für die Einhaltung des Brester Friedens ein, möchte ihn aber natürlich gerne 'verbessern' und noch einige Annexionen auf Kosten Rußlands erlangen."

Nach einer Periode sich entwickelnder deutsch-sowjetischer Beziehungen in der Wirtschaft änderte sich die Lage, als in Deutschland die Papen-Regierung eingesetzt wurde. Es verstärkten sich die Tendenzen zur Faschisierung im Inneren des Landes und zur Aggression nach außen. Mit der Machtergreifung des Faschismus wurde das Programm der Expansion und Aggression erweitert und radikalisiert. Zur Begründung wurden fehlender "Lebensraum" und ungenügende Rohstoffressourcen wieder aufgegriffen. Der Antikommunismus wurde Hauptbestandteil der Politik.

Die Alternative sichtbar machend, brachte die UdSSR in dieser sich zuspitzenden Lage am 6. Februar 1933 auf der Abrüstungskonferenz den Entwurf einer Deklaration über die Definition des Aggressors ein. Man schlug vor, einen Staat als Aggressor zu bezeichnen, der einem anderen Staat den Krieg erklärt, der ohne Kriegserklärung in das Gebiet eines anderen Staates eindringt oder Kampfhandlungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft ausführt. Es wurde zwischen direkter und indirekter Aggression unterschieden. In Punkt zwei hieß es: "Weder die Errichtung einer politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Ordnung, das Streben nach der Ausbeutung natürlicher Reichtümer auf dem Territorium des angegriffenen Staates oder nach dem Erwerb beliebiger anderer Vorteile oder Privilegien noch die Berufung auf bedeutende Ausmaße des investierten Kapitals oder auf andere mögliche besondere Interessen wie Vermögenswerte in diesem Gebiet, noch die Verneinung der besonderen Merkmale eines Staates können als Rechtfertigung für einen Überfall dienen." Diese Deklaration konkretisierte die Begriffe "Aggression" und "Sicherheit", die für den Kampf gegen den Aggressor unerläßlich waren. Es ist besorgniserregend, daß die darin angesprochenen Inhalte schon wieder von brennender Aktualität sind. Damals wurde das Marschprogramm der alldeutschen Geopolitiker von den Faschisten Schritt für Schritt verwirklicht - Aktivitäten, die nicht vergessen werden dürfen. Auch nicht die Demagogie und die Lügen, die die Köpfe vernebelten. Auf dem "Nürnberger Parteitag" im September 1938 erklärte Hitler in Vorbereitung der Zerstückelung der Tschechoslowakei: "Hier handelt es sich nicht um Redensarten, sondern um Recht, und zwar um verletztes Recht. Was die Deutschen fordern, ist ihr Selbstbestimmungsrecht, das jedes andere Volk auch besitzt, und keine Phrase." 1942 erklärte Goebbels: "Es geht uns nicht um Ideale, sondern um wogende Weizenfelder, um das russische Erdöl ..."

Nach zwei historischen Niederlagen des deutschen Imperialismus in zwei Weltkriegen, die er um Herrschaft und Ausbeutung fremder Völker geführt hat, hat man sich in der BRD der 50er Jahre schon wieder auf das "Recht auf Selbstbestimmung" berufen, um seine wahren Ziele zu verdecken. Adenauer: "Der wahre Kern der deutschen Frage ist nicht so sehr die Wiederherstellung der deutschen Einheit, sondern vielmehr die Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen in der Sowjetzone." "Selbstbestimmung" und "Befreiung", diese zwei Vokabeln im Sprachschatz Adenauers charakterisierten auch die Politik seiner Nachfolger. Sie wurde auf alle Länder ausgedehnt, die den Weg des Sozialismus eingeschlagen haben. 1954 verkündete Adenauer im Bundestag, daß sich seine Regierung mit der "Trennung der deutschen Ostgebiete nicht abfinden kann".

In diesem Rahmen wurde auch das Konzept gegenüber der Ukraine entwickelt, ein Konzept, zu dem auch der schon erwähnte Paul Rohrbach beigetragen hat. Nachdem er 1918 die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft gegründet hatte, betrieb er 1948 deren Wiedergründung. 1952 wurde er ihr Ehrenpräsident. Im gleichen Jahr äußerte er sich auch über "die ukrainische Frage". Darin paßte er die schon im ersten Weltkrieg entwickelte Dekompositionstheorie (Zerlegung) den neuen Bedingungen an. Man müsse die "Entbindung der zentrifugalen Kräfte in der Sowjetunion" fördern. "Die stärkste dieser zentrifugalen Kräfte ist das nationale Bewußtsein des ukrainischen Volkes mit seinem Willen zu eigener Staatlichkeit." Durch Unterstützung des ukrainischen Nationalismus könne man perspektivisch "zu einer inneren Erschütterung der Sowjetmacht" gelangen und eines Tages, "wenn andere günstige Umstände hinzutreten, zu ihrem Zusammenbruch". Rohrbach verglich Rußland mit einer Orange. "Wie diese Frucht aus einzelnen leicht voneinander lösbaren Teilen besteht, so das russische Reich aus seinen verschiedenen Gebietsteilen: baltische Provinzen, Ukraine, Polen usw." Es genüge vollkommen, die Gebietsteile wie Orangenscheiben "voneinander abzulösen und ihnen eine gewisse Autonomie zu geben", dann werde es "ein leichtes sein, dem russischen Großreich ein Ende zu bereiten". Deshalb wurde die Dekompositionstheorie auch "Orangentheorie" genannt. Wen erinnert das nicht an die "Orangene Revolution", durch die 2004 Wiktor Juschtschenko mit US-Dollar und mit Euro ins Amt des ukrainischen Präsidenten gehoben, mit dem Putsch von Februar 2014 Jazeniuk zum Ministerpräsidenten gemacht und der Oligarch Poroschenko ins oberste Amt gehievt wurde.

Nach der Zerschlagung der Staatlichkeit der Sowjetunion glaubte man, mit Jelzin und seinesgleichen, die imperialistischen Ziele des "Drangs nach dem Osten" "friedlich" erreichen zu können. Wolfgang Schäuble und Karl Lamers kamen in "Überlegungen zur europäischen Politik" zur Schlußfolgerung: "Ein stabilitätsgefährdetes Vakuum, ein Zwischen-Europa darf es nicht wieder geben. Ohne eine solche Weiterentwicklung der (west)europäischen Integration könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen." (!!) Dann kam die imperialistische Aggression gegen Jugoslawien, die USA betrieben die Revitalisierung der NATO, und Bundeskanzler Schröder (SPD) verwirklichte die "Enttabuisierung des Militärischen" in der deutschen Außenpolitik.

Die Frage, wo die östliche Grenze der EU liegen sollte, beantwortete die SPD aus der Interessenbestimmung des auch politisch wieder erstarkten Deutschlands und in Übereinstimmung mit Schäuble und Lamers in einer Denkschrift der Grundwertekommission beim SPD-Vorstand Anfang 2003 konzeptionell wie folgt: Das "Berliner Interesse" bestehe an einem "wirtschaftlich und politisch leistungsfähigen Großraum", der auch einen entsprechenden "Hinterhof" hat, der bis Zentralasien und in den Nahen Osten reicht. Deutschland habe ein "legitimes Interesse an einer dauerhaften Einbindung in einen wirtschaftlich und politisch leistungsfähigen Großraum, der anderen Weltregionen vergleichbar ist". Zu diesem "Großraum" gehören nicht nur ost- und südosteuropäischen Staaten, die 2004 und 2007 Mitglied der EU geworden sind. "Um West- und Mitteleuropa, das sich als integrierte Weltregion etabliert, liegen in einem Halbkreis von Ost nach Süd Rußland, die früher mit der Sowjetunion verbundenen Republiken Weißrußland, Ukraine und Moldawien sowie Transkaukasien und Zentralasien, die Türkei und die Länder des Nahen und Mittleren Ostens und des Mittelmeeres."

Damit ist der Raum für die Expansionspolitik des deutschen Imperialismus deutlich beschrieben. Sie schließt eine unabhängige und selbständige Ukraine aus. Sie zielt direkt gegen die Unabhängigkeit und Souveränität eines solchen Staates. Sie ist darauf ausgerichtet, die Ukraine auf lange Sicht aus der russischen Einflußsphäre zu lösen und sie in das Hegemonialsystem des deutschen Imperialismus zu integrieren.

Dabei kommt der Politik des deutschen Kapitals zugute, daß es ihm bisher gelungen ist, aus der Krise sowohl ökonomisch als auch politisch gestärkt hervorzugehen und seine hegemoniale Stellung in der EU weiter auszubauen. Diese Position wird verstärkt genutzt, um sich möglichst profitable Teile der Welt untertan zu machen und den "Drang bis zum Ural" systematisch in politische Praxis umzusetzen.

Deutschland müsse, wie die FAZ vom 4.4.2003 schrieb, "als größter und wirtschaftlich stärkster Staat in Europa" für ein Europa eintreten, das in der Lage sei, sich "gegen äußere wirtschaftliche, politische und gegebenenfalls auch militärische Pressionen zu wehren". Aus dem "Großraum" müßten die USA hinausgedrängt werden. "Deutschland muß dafür eintreten, daß Europa zu seinen Nachbarn eine besonders intensive, konstruktive und dauerhafte Partnerschaft aufbaut, welche die Lösung der sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und politischen Probleme der europäischen Nachbarschaft nicht - wie bisher - vorwiegend den Vereinigten Staaten überläßt." (!!)

Das Konzept erweist sich als ein "Zeugnis von einem in die Welt ausgreifenden Gestaltungsanspruch" (FAZ) des deutschen Kapitals und seiner Regierungen. Die Beherrschung der Ukraine ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Prof. Dr. Anton Latzo

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Hugo Eberlein über die Komintern-Gründung vor 100 Jahren

Vom 2. bis 6. März 1919 fand in Moskau der Gründungskongreß der III., der Kommunistischen Internationale statt. An ihm nahmen 52 Delegierte von 35 Organisationen aus Europa, Amerika und Asien teil. Hugo Eberlein, Spartakist und Funktionär der erst drei Monate jungen Kommunistischen Partei Deutschlands, nahm als deren Delegierter an den Beratun gen teil. In seinem Artikel "Die Gründung der Komintern und der Spartakusbund" für die Zeitschrift "Die Kommunistische Internationale" berichtet er zehn Jahre später:

Die Einladung zur Beteiligung der KPD an einer Vorkonferenz über die Frage der Gründung einer Internationale traf Anfang des Jahres 1919 in Berlin ein. Die Einladung war, soweit ich mich entsinnen kann, an das Zentralkomitee zu Händen Rosas und Karls gerichtet. Eines Nachts, als ich von der Redaktion der "Roten Fahne" Rosa nach ihrer Wohnung in Südende begleitete, teilte sie mir mit, daß die Einladung angekommen wäre, und sie erwog mit mir, wen man delegieren könnte. Sie selbst und Karl Liebknecht kämen nicht in Frage, da sie aus Berlin unabkömmlich wären. Außerdem, meinte Rosa, müßte gerade auf dieser Konferenz die KPD durch einen deutschen Genossen vertreten sein. Rosa schlug mir vor, zu fahren.

Über die Bedeutung der Konferenz äußerte sie sich in diesem Gespräch etwa folgendermaßen: Die Bolschewiki werden wahr scheinlich vorschlagen, die Gründung einer Internationale sofort zu beschließen, auch wenn nur wenige Delegierte kommen. Die Gründung der Kommunistischen Internationale sei eine bedingungslose Selbstverständlichkeit, aber noch verfrüht. Die Kommunistische Internationale sollte endgültig gegründet werden, wenn im Flusse der revolutionären Massenbewegung, die fast alle Länder Europas umfaßt hatte, kommunistische Parteien entstanden wären. Insbesondere wäre es auch nötig, den Zeitpunkt der Gründung so zu wählen, daß er den Prozeß der Loslösung der revolutionären Massen von der USPD beschleunigen würde. Deshalb schlug sie vor, ich möge auf der vorbereitenden Konferenz den Standpunkt vertreten, daß am zweckmäßigsten die Einsetzung einer Kommission aus Vertretern der verschiedenen Länder wäre und der Gründungskongreß zwischen Ostern und Pfingsten 1919, also etwa zwischen April und Juni stattfinden soll ...

Nach meiner Ankunft in Moskau hatte ich zunächst eine persönliche Unterredung mit Lenin. Ich gab einen ausführlichen Bericht über die Lage in Westeuropa ... Als ich ihm die Meinung Rosa Luxemburgs und der Spartakuszentrale über die Frage der Gründung der Komintern vortrug, war er wenig überrascht und meinte, eine solche Stellung vorausgeahnt zu haben ... Er schlug vor, die Diskussion über die Gründung der Kommunistischen Internationale erst gegen Ende der Tagung aufzurollen. In den Tagen vor Eröffnung der Konferenz, die sich erst am dritten Tage zum Kongreß konstituierte, fand noch eine große Reihe von Sitzungen mit der russischen Delegation der Konferenz statt, in denen ein lebhafter Meinungsaustausch gepflogen wurde.

Ein positives Ergebnis konnte freilich schwer erzielt werden, da weniger meine persönliche Meinung entscheidend war als mein Mandat und eine Möglichkeit, sich mit Berlin zu verständigen, nicht bestand. Aber Lenin zweifelte während der ganzen Verhandlungen keine Minute daran, daß der Spartakusbund sich als Glied der neuen Internationale ansah und daß nach erfolgter Gründung die Meinungsverschiedenheiten nur noch episodischen Charakter tragen würden.

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100 Jahre nach der Gründung der KPD - wir sind dabei

Liebe Genossinnen und Genossen, den Gelbwesten und ihren Forderungen in Frankreich gilt unsere Solidarität. Wir wissen, daß hier manches unreif und widersprüchlich ist - war das aber jemals die Frage für die Solidarität der Kommunisten? Offensichtlich müssen wir stärker erkennen, daß Prozesse, die Marx und Engels im Manifest beschrieben, keine linearen sind. Ihr wißt, daß ich nicht dazu neige, Klassiker zu zitieren, hier geht es aber um die Frage der Entwicklung von Klassenbewußtsein, der Formierung der Klasse von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich. Marx und Engels schrieben im Manifest: "Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sie richten ihre Angriffe nicht nur gegen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse (Das tun sie viel zu wenig!), sie richten sie gegen die Produktionsinstrumente selbst; sie vernichten die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, sie suchen die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wiederzuerringen." (Das tun sie viel zu viel!) Lenin hat analysiert, wie die Herausbildung des Imperialismus notwendigerweise zur Herausbildung der ökonomischen Grundlagen für die Entwicklung von Reformismus führt. Wir erleben heute, daß die Arbeiterklasse in verschiedenen Ländern des Imperialismus zwischen Formen des eruptiven Aufstands, wie in Frankreich, und der reformistischen Einbindung mit teilweise nationalistischem Konsens, wie in Deutschland, hin und her schwankt. Beides hat mit der Schwäche der revolutionären Kräfte zu tun - trotzdem wäre mir das erste lieber, da sich im Kampf, auch, wenn er noch nicht klar zielgerichtet ist, besser vermitteln läßt, um was es geht.

Kommunistisch sprechen, das heißt die Frage des Kampfes gegen Krieg und für Frieden in den Mittelpunkt zu stellen. Die Frage der Eskalation zum Weltenbrand, zum Atomkrieg stellt sich real. Die NATO unter Führung des US-Imperialismus, bei zunehmender Einbindung und Einigkeit aller führenden Imperialismen, vorne dabei Deutschland, Frankreich und Großbritannien, setzen auf Hochrüstung, wollen den INF-Vertrag kündigen und damit die Russische Föderation und die VR China in die Zange der Bedrohung durch atomare Mittelstreckenraketen nehmen. Ähnlich wie in den 80er Jahren muß eine angebliche Hochrüstung Rußlands und der VR China als Begründung herhalten - genauso wie damals wird vertuscht, daß russische und chinesische Mittelstreckenraketen militärisch einen entscheidenden Qualitätsunterschied haben, sie können das Kernland der NATO, die USA, nicht erreichen. Und neu ist im Verhältnis zu den 80er Jahren - heute hat die NATO Raketenabwehrsysteme, und die hat sie in Polen, Ungarn und Südkorea, und die neuen Mittelstreckenraketen stünden nicht nur in Deutschland, sondern auch an der russischen Grenze - Vorwarnzeiten gleich null.

100 Jahre nach unserer Gründung, 100 Jahre nach der Ermordung von Karl und Rosa - wir sind es ihnen und all den Generationen von Kommunistinnen und Kommunisten schuldig: Der Kampf um Frieden ist nicht alles, aber er ist eine entscheidende Form des Klassenkampfs - wir kämpfen um Aktionseinheit und Bündnisse mit allen, die sich, aus welchem Antrieb auch immer, gegen die imperialistische Kriegspolitik stellen. Sobald wir unsere Kandidatur abgesichert haben, werden wir deshalb dem Aufruf "Abrüsten statt aufrüsten!" wieder eine zentrale Rolle geben, Unterschriften sammeln und allen unser EU-Wahlprogramm geben, denn die EU bedeutet Krieg, und wir sagen "Raus aus der NATO!", "Keine weitere Militarisierung der EU!", "Stoppt die Hochrüstung!" - das sind wir Karl, Rosa, all den gefallenen Genossinnen und Genossen des antifaschistischen Widerstands, aber auch den Genossinnen und Genossen, die mit der DDR einen Friedensstaat aufbauten, und denen, die bei Adenauer im Knast saßen, schuldig. Schuldig sind wir unseren Genossinnen und Genossen, um den proletarischen Internationalismus zu ringen. Proletarischer Internationalismus heißt: "Hoch die internationale Solidarität!" Die braucht jetzt ganz massiv die bolivarische Revolution und unsere Schwesterpartei in Venezuela. Die Reaktion wittert Morgenluft. Mit ihrem Putsch in Brasilien und dem Wahlsieg von Bolsonaro wütet sie dort, die kubanischen Ärzte wurden rausgeschmissen, die Agrarreform wurde gestoppt, und diese Dynamik will sie nutzen für einen weiteren Putsch in Venezuela. Die USA machen mobil, und die EU, Deutschland und die kapitalistischen Medien sekundieren. Jetzt wollen sie aufräumen in Lateinamerika - alle Antiimperialisten weltweit müssen sich dem entgegenstellen. Wir begrüßen das Agieren der VR China und der Russischen Föderation. Wir sagen: Solidarität mit Venezuela, mit Nikaragua und vor allem mit dem sozialistischen Kuba, dem wir damit zum 60. Geburtstag der Revolution gratulieren.

Internationalismus ist Solidarität, und Internationalismus ist Voraussetzung und Bestandteil der Formierung der Arbeiterklasse selbst. Denn solange Teile der Arbeiterklasse glauben, daß sie gut damit fahren, wenn Deutschland als faktisches Niedriglohnland andere Ökonomien aussaugt, materialisiert sich auch darin die Spaltung der Klasse, national und international. Das muß theoretisch verstanden werden und wird trotzdem nur verstanden, wenn immer größere Teile der Klasse der vom Monopolkapital Ausgenutzten aufstehen. Und genau hier bestimmen wir auch unser Verhältnis zu der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen!" "Aufstehen!" bringt Fragen des Klassenkampfs in die Debatte. "Aufstehen!" verknüpft dies mit dem Kampf um Frieden und Abrüstung. "Aufstehen!" zeigt an vielen Orten, daß es ein Potential von Freundinnen und Freunden gibt, die für den Friedenskampf, für Klassenfragen aktiv werden wollen. Das ist gut so - da sind wir dabei, mit offenem Visier, erkennbar als Kommunistinnen und Kommunisten, mit unserem EU-Wahlprogramm, mit dem Aufruf "Abrüsten statt aufrüsten!"

Auch in diesem Jahr haben wir der "jungen Welt" herzlich zu danken für die Rosa-Luxemburg-Konferenz, die größte Konferenz der radikalen Linken in diesem Land - für die Möglichkeit, uns zu präsentieren, für die Zusammenarbeit. Trotzdem ist dieses Jahr ein besonderes, weil die Reaktion sich etwas ganz Besonderes ausgedacht hat. Diesmal ist es ein infamer ökonomischer Angriff, der die "junge Welt" kaputtmachen soll - genutzt wird die Monopolstellung der Deutschen Post, das Instrument der Gebührenerhöhung für den Versand soll das schaffen, was die Herrschenden seit der Konterrevolution wollen, das Ende der "jungen Welt", mindestens der Printausgabe. Das dürfen wir nicht zulassen. Ausgehend von unserer heutigen Veranstaltung rufen wir auf: Organisiert Solidarität mit der "jungen Welt" in Gewerkschaften, Initiativen und Bündnissen! Laßt uns gemeinsam den politischen Druck entwickeln, damit dieser Angriff scheitert - Solidarität mit der "jungen Welt"!

Die Gelbwesten, die einen Präsidenten entzaubern, den noch wenige Monate zuvor viele für den Sonnenkönig hielten, die Gelbwesten, die damit reale Erfolge für die Massen erzielen und auf die die deutsche herrschende Klasse und ihre Medien ängstlich schielt. Italien, zu dem ein führender Ideologe des deutschen Kapitals, Hans-Werner Sinn, sagt, daß "Italiens Misere" darin liege, daß "die politischen Strukturen und die Macht der Gewerkschaften echte Reformen ausschließen". Was in Italien dazu führt, daß ausgerechnet eine reaktionäre Regierung sich zumindest so gibt, als ob sie gegen das EU-Diktat aufbegehren wolle. Der Brexit. Der polternde Trump - die immer deutlicher auf der Hand liegenden Widersprüche im Imperialismus. Ja, leider auch die Kriege und die Gefahr einer Eskalation bis hin zum Flächenbrand. Der Fakt, daß weltweit 78 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Der Rückzug des US-Imperialismus aus Syrien, die Gefahr, daß Erdogan das ausnutzt, und die Hoffnung, daß sich die YPG mit der syrischen Regierung einigt - all das und vieles mehr sind Belege einer immensen Labilität, die das Ergebnis einer Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus und einer offensichtlichen Krise seiner Integrationsmechanismen ist. Das macht die Situation nicht weniger gefährlich. Es steht die Frage "Sozialismus oder Barbarei" und die Antwort darauf entscheidet sich wesentlich an der Formierung der Arbeiterklasse, die wiederum von der Stärke und Verfaßtheit der revolutionären Kräfte, der kommunistischen Partei abhängt. So blöde es sich anhört, so unschön es ist, wir schreiben letztlich Weltgeschichte, wenn wir in diesem hochentwickelten Land um die Stärkung unserer Partei ringen.

Ein bißchen was haben wir geschafft, aber 98 bis 99 Prozent des Weges liegen noch vor uns. Unsere Hauptaufgaben sind: Kampf um die Verankerung in der Klasse, Kampf um die Jugend und um den Aufbau unserer Strukturen im Osten. Wir werden deshalb dem Parteivorstand vorschlagen, den kommenden Parteitag im Frühjahr des kommenden Jahres durchzuführen und ihn zu einem Parteitag zu machen, der sich sehr intensiv mit der praktischen Politik der DKP, vor allem auf diesen Kampffeldern, mit der Stärkung der Partei befaßt. Wir werden dem Parteivorstand vorschlagen, das kommende Pressefest für den Spätsommer/Herbst des kommenden Jahres einzuplanen. Auf dem Weg dahin wollen wir dem Parteivorstand vorschlagen, eine Großveranstaltung zum 70. Geburtstag der DDR durchzuführen - vom Wesen werden wir dem Satz von Peter Hacks folgen: "Wessen sollten wir uns rühmen, wenn nicht der DDR?" Dabei geht es uns weder um Nostalgie noch Ostalgie, sondern um die Betrachtung der Widersprüchlichkeit vor dem Hintergrund, daß die DDR sowohl die größte Errungenschaft der Arbeiterbewegung Deutschlands als auch der bisher erste und einzige Friedensstaat in Deutschland war. Wir wissen, daß wir uns auch sehr viel stärker mit der tatsächlich besonderen Situation der Menschen im Osten unseres Landes befassen müssen.

Zur "normalen" Schweinerei des Kapitalismus kommt hier die besondere Schweinerei der weitgehenden Zerschlagung der Industrie, in deren Gefolge Entvölkerung, Überalterung, massive Perspektivlosigkeit. Zur normalen Schweinerei des Antikommunismus kommen hier Strafrenten, Demütigung der Biographien, Besatzermentalität und "Wehe den Besiegten!" Das dient auch der Spaltung der Klasse, und die Formierung der Klasse erfordert auch das Zurückdrängen der "besonderen" Ungerechtigkeiten. Formierung der Klasse heißt aber auch: "Heran an die Klasse!" Ja, Hoffnung können wir haben - bei der Unterstützung der Aktivitäten zur Personalbemessung waren wir, vor allem in Düsseldorf, Essen und Homburg - nicht schlecht. Die betriebliche Orientierung der Partei, vor allem im Gesundheitswesen, nimmt zu. Auch unsere Gegner nehmen das wahr. In NRW stellte die AfD eine Anfrage im Landtag, die sich fast ausschließlich mit unserer Orientierung auf Klassenkämpfe, auf Betrieb und Gewerkschaft befaßt - wir müssen es schaffen, daß sie sich da noch viel mehr fürchten müssen. Und wir müssen das auch in den Kernbereichen, in der Industrie, in der Produktion schaffen. Das wird nicht gehen, wenn wir nicht auch jünger werden. Ich meine, wenn ich mich so umgucke und wir vor kurzem unseren hundertsten Geburtstag feierten - "Wir sehen noch ziemlich gut aus."

Trotzdem: Klasse, Jugend, Osten - das ist unser zentraler organisationspolitischer Dreiklang. Jugend heißt vor allem "Danke, SDAJ!" und heißt, alles für die Unterstützung des Festivals der Jugend an Pfingsten in Köln zu tun - werbt Jugendliche, helft ihnen hinzukommen, fahrt selbst mit, nehmt teil! Die weitere Steigerung unserer Aktivitäten, das ist der zentrale Inhalt unserer Kandidatur zu den EU-Wahlen. Wir verbinden sie aber damit, daß wir ein Wahlprogramm haben, das uns tatsächlich einzigartig macht. Ein Programm, das die Arbeiterbewegung, die linke Bewegung, die Friedensbewegung dieses Landes braucht, weil es die Analyse und Kritik der EU auf den Punkt bringt und die Alternativen formuliert.

Die EU steht für Krieg und Hochrüstung!
Wir sagen: Deutschland raus aus der NATO! US-Atomwaffen raus aus Deutschland! PESCO abschaffen! Frieden mit Rußland! Abrüsten statt aufrüsten! Weg mit dem 2-Prozent-Ziel der NATO! Schluß mit allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr!

Die EU steht für Flucht!
Wir sagen: Fluchtverursacher bekämpfen, nicht Geflüchtete! Frontex abschaffen!

Die EU steht für Ausbeutung und Armut!
Wir sagen: Solidarität statt Ausgrenzung. Für gesetzliche Mindestlöhne ohne Ausnahmen. Schuldenschnitt statt Schuldenbremse! Die Banken und Konzerne müssen zahlen!

Die EU steht für Demokratieabbau!
Die DKP sagt: Hände weg vom Grundgesetz! Weg mit Überwachung und Polizeigesetzen!

Die DKP sagt nein zur EU!
Die EU ist ein Instrument des deutschen Imperialismus!

Die DKP sagt: Kapitalismus abschaffen! Für den Sozialismus kämpfen!
Glück auf und Rot Front!


Patrik Köbele

(Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei)

(Auszüge aus der Rede, die Patrik bei der Jahresauftaktveranstaltung der DKP am 12. Januar in Berlin gehalten hat)

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Ein neuer Feiertag für Berlin

Der 8. März, der Internationale Frauentag, ist eine gute Wahl als Feiertag. Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, wäre sicher mindestens genausogut gewesen! Wenn vom 9. November die Rede ist, dann kommt häufig der 9. November 1938 ins Spiel, der Tag der Judenpogrome - für immer eine Schande Deutschlands. Im Vordergrund steht dann aber vor allem der 9. November 1989, der Tag der Maueröffnung.

Abgesehen vom 100. Jahrestag im vergangenen Jahr ist vom 9. November 1918 seltener die Rede. Als Feiertag wäre er also eher nicht geeignet, aber er sollte auf jeden Fall ein Gedenktag sein. An diesem Tag wurde die Monarchie in Deutschland beseitigt. In Berlin rief nicht nur Scheidemann die Deutsche Republik aus, sondern Karl Liebknecht proklamierte die Sozialistische Deutsche Republik, die allerdings nur eine Illusion blieb. Die Novemberrevolution führte zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands.

Diese Revolution sollte nicht nur von ihrem Scheitern aus betrachtet werden. Sie hatte auch positive Ergebnisse. So wurde u. a. das Frauenwahlrecht erkämpft. - Auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain findet jedes Jahr am 9. November eine Gedenkveranstaltung statt. 29 Opfer der Novemberrevolution in Berlin wurden hier beigesetzt. Der Vorschlag hierfür ging von Dr. Heinz Warnecke aus.

Am 18. März gedenkt die "Initiative 18. März" regelmäßig auf dem Friedhof der Märzgefallenen der Opfer der Märzkämpfe 1848 in Berlin. Ihr Sprecher Volker Schröder warb mit einer Unterschriftenaktion für den 18. März als Berliner Feiertag. Das wäre auch kein schlechtes Datum gewesen, obwohl hier sofort wieder die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 ins Spiel gebracht worden wären. Deshalb scheiterte auch der Versuch, den Platz vor dem Brandenburger Tor in Platz des 18. März 1848 umzubenennen. Als Kompromiß heißt er jetzt Platz des 18. März.

Dr. Kurt Laser
Berlin

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Rufmordkampagne gegen Rosa Luxemburg

Letztes Jahr begann eine Reihe ideologischer Auseinandersetzungen unter Linken und Sozialdemokraten um die Deutungshoheit des Matrosenaufstands von 1918. Mehrere amtliche Veranstaltungen feierten den damaligen Ausgang der Ereignisse unter blutiger Niederschlagung durch rechte Freikorps-Soldateska auf Befehl der SPD-Führung als "Geburtsstunde der deutschen Demokratie". Bedauernde Einlassungen über notwendige Kollateralschäden inbegriffen. Ebenso bei den Weimarer Jubiläumsfeiern am 2. Februar. Die BRD wurde zur "besten Staatsform der deutschen Geschichte erklärt, "verpflichtet dem Erbe der Weimarer Republik, die von Rechts- und Linksextremisten zerrieben wurde".

Da paßten die Liebknecht-Luxemburg-Gedenkveranstaltungen so gar nicht ins Bild. Daher inszenierten antimarxistische Kreise der SPD und einige ihrer PDL-Koalitionsgenossen pünktlich zum 100. Jahrestag ihrer Ermordung die bisher massivste Verleumdungskampagne gegen Rosa.

So verbreitete das "Redaktions-Netzwerk Deutschland" (RND), das die gesamte Lokalpresse beschickt, am 14. Januar 2019 Schwerpunktartikel unter Schlagzeilen wie: "Entzauberte Heldin der Linken - Seit 100 Jahren spaltet ihr gewaltsamer Tod Sozialisten und Sozialdemokraten" "Es ist Zeit, diesen Spuk zu beenden", "Eine verlogene Ehrung - Wolfgang Thierse über linke Spaltung und falsche Helden". Beides vom freiberuflichen Berliner "taz"- und "FR"-Redakteur Jan Sternberg. Schon am 6. November 2018 hatte die "Zeit" anläßlich eines Berlin-Besuchs des Autors unter dem Titel "Entsetzliche Knallerei" das Buch "Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution von 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik" von Mark Jones, Dublin College, vorgestellt, an dessen Tendenz sich Sternberg ebenso gütlich tat wie an Aussagen Wolfgang Thierses, Andrea Nahles' und Bodo Ramelows in einem Interview des RND. Jones: "Wegen ihrer Texte sind Menschen gestorben. Auch Frauen und Kinder, die sich zum Beispiel im falschen Augenblick aus dem Fenster gelehnt haben und von einer Kugel erwischt wurden." Und er kritisiert ihr fortdauerndes politisches Vermächtnis "einer tragisch irrenden Putschistin" als den "wirkungsmächtigsten historischen Mythos der Linken". Auch Redakteur Sternberg bedauert: "Doch der Geist der toten Rosa Luxemburg spukt weiter durch die deutsche Linke." Thierse resümiert: "Der Marsch nach Friedrichsfelde ist verlogen, auch heute noch. Man ehrt ohne Unterschied auch Antidemokraten wider besseres historisches Wissen. ... Die waren nur mit Waffengewalt zu besiegen,... aber man kann doch wissen, daß der Weg, der dann eingeschlagen wurde, der bessere war." Der "Vorwärts" brüstete sich auf "Twitter": "Die SPD verteidigt die Demokratie auch mit Hilfe des Militärs." Ganz wie es schon 1919 Scheidemann begründete: "Wenn ich im Begriffe bin, mich in ein brennendes Haus zu stürzen, um Weib und Kind zu retten, und mein wahnsinniger Bruder legt die Flinte auf mich an, dann hilft nichts mehr, dann muß ich mich gegen ihn zur Wehr setzen."

Letztlich wird der ermordeten Rosa, bzw. ihrem "bösen Geist" noch die Schuld an der faschistischen Machtübernahme zugeschoben. Das kennt man zwar aus der Nachkriegs-Historiographie der Adenauerzeit; es ist jedoch empörend, wenn antikommunistische Koalitionäre der Linkspartei wie Bodo Ramelow das Liebknecht-Luxemburg-Gedenken in Frage stellen. "Jede humane Schwelle wurde überschritten. Aus dieser Perspektive ist es nicht angebracht, die Fehler der Vergangenheit zu beklagen. Sätze wie 'Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!' bringen uns nicht weiter. Sie ordnen auch historisch nicht ein, was falsch gelaufen ist. Am Ende traf der Fluch sie alle. Die Republik ging zugrunde, weil die Linke sich lieber gegenseitig bekämpfte ... Die Toten mahnen uns zu einem konstruktiveren Umgang mit dem Thema."

Beste Gelegenheit für so ein harmonisches Miteinander mit großer Bühne für den "ersten linken Ministerpräsidenten" und den Bundespräsidenten Walter Steinmeier bot die 100jährige Jubiläumsfeier der Republikgründung in Weimar. "Der Kompromiß ist das Herzblut der Demokratie." Ramelow, der schon einmal trotz eigener Stimmenmehrheit vergeblich der SPD die Führungsrolle angeboten hatte, bangt um die nötige Wählerzahl zur Fortsetzung seiner Koalition. Die hatte er sich mit der totalen Verdammung der DDR erkauft. Ein weiterer Zusammenhalt gegen das Anwachsen der AfD erfordert wohl auch eine weitere Absetzung von sozialistischen Positionen der PDL. Denn die SPD bemüht ja mal wieder soziale Wahlversprechen, um ihren fatalen Niedergang aufzuhalten. Die SPD "ein bißchen sozialdemokratischer", Die Linke "ein bißchen systemkonformer" ...?

Für heutige antikommunistische, den Marxismus als "überholte illusionäre Utopie" betrachtende Bernstein-Jünger im rechten Lager der PDL taugt er allenfalls noch in Gestalt einer Karl-Marx-Puppe als Wahlkampfmaskottchen. Diese werden von der Parteiführung als Ikonen der Wahlerfolge hoch geehrt, und sie haben jede Freiheit, sich über Parteiprogramm und Parteitagsmehrheiten hinwegzusetzen. Daher erfüllt mich Katja Kippings Januar-Aufruf zur Bildung weiterer "rot-rot-grüner" Koalitionen auch mit Sorge um das Überleben marxistischer Gruppierungen und ihrer Friedensoptionen in dieser pluralistischen Parlamentspartei. Mit Sicherheit hat die schleichende Angleichung der PDL in Regierungsbeteiligungen auch zur Enttäuschung vieler Wähler, die klare Alternativen erwarteten, beigetragen. Und einige von ihnen wurden so zur leichten Beute der AfD, die nun mit einem "nationalen und sozialen" Wandel lockt.

Jobst-Heinrich Müller

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Konstantin Wecker: Willy 2018

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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250.000 Menschen für eine solidarische Gesellschaft

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Aus Überzeugung

Zehntausende demonstrierten im Hambacher Forst für den Klimaschutz. In Chemnitz gingen Zehntausende gegen Rassismus auf die Straße. In München waren es Zehntausende für Freiheitsrechte. Und nun sind es über zweihundertvierzigtausend in Berlin. Das zeigt: Die Zivilgesellschaft hat ihre Schockstarre überwunden. Sie ist sehr lebendig. Und das ist sehr gut so!

Als ich Kolleginnen und Kollegen erzählt habe, daß ich auf der nicht. Du sollst dich als unabhängiger Journalist nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Aber wie kann man sich nicht damit gemein machen, die demokratischen Freiheitsrechte in diesem Land zu verteidigen? Wenn die Grundwerte der Demokratie, wenn die Freiheitsrechte dieses Landes in Gefahr sind, dann ist Haltung gefordert. Das gilt auch und ganz besonders für Journalistinnen und Journalisten.

Wenn die Menschenwürde im Mittelmeer versinkt, weil wir Flüchtlinge nicht mehr ins Land lassen wollen. Wenn Rassismus und völkischer Nationalismus sich in der Mitte der Gesellschaft breitmachen. Wenn die Religionsfreiheit nicht mehr für alle gelten soll und Polizeigesetze verabschiedet werden, die elementare Freiheitsrechte einschränken, dann ist die Freiheit in diesem Land in Gefahr. Deshalb stehe ich hier: als Bürger dieses Landes, als Journalist, aus tiefster Überzeugung!

Wenn wir über Freiheitsrechte sprechen, müssen wir über eines der wichtigsten Grundrechte reden: die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Rundfunkfreiheit. Ich habe in Chemnitz erlebt, was es heißt, wenn aus Parolen Taten werden. Wenn Journalistinnen und Journalisten erst als Lügenpresse beschimpft und dann attackiert und verfolgt werden. Dann ist die Meinungsfreiheit in Gefahr. Wenn Rechtsextreme öffentlich dazu aufrufen, Journalistinnen und Journalisten auf die Straße zu zerren oder sie gleich verbrennen zu lassen - und dafür Applaus bekommen. Dann ist die Meinungsfreiheit in Gefahr. Und wenn der Vorsitzende der größten Oppositionspartei im Bundestag dazu auffordert, AfD-kritische Journalistinnen und Journalisten aus den Rundfunkanstalten zu entfernen und Jungpolitikerinnen und Jungpolitiker dieser Partei von "ausmisten" reden, dann ist die Meinungsfreiheit in Gefahr.

Wir sollten uns nicht täuschen lassen: All die, die von Lügenpresse reden, haben nur eins im Sinn: ihre Lügen als die einzig gültige Wahrheit gelten zu lassen. Wehe der Meinungsfreiheit, wenn sie an die Macht kommen!

Aber es geht nicht nur um Journalistinnen oder Journalisten. Es heißt, im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Nein, die Wahrheit stirbt schon viel früher. Wenn Lügen zu "alternativen Fakten" werden und unbequeme Wahrheiten zu Fake News. Wenn Propaganda am Ende wichtiger wird als Journalismus. Dann sterben die Wahrheit und die Meinungsfreiheit erst recht. Ohne Meinungsfreiheit aber gibt es keine Freiheit, keine Demokratie, keine Menschenwürde. Und die gilt in diesem Land für jede und jeden - ganz egal, wo sie oder er herkommt oder woran sie oder er glaubt. Unsere Freiheit ist unteilbar, unsere Würde ist unteilbar, wir als Menschen sind mit gleichen Rechten unteilbar. Dafür lohnt es sich, jeden Tag zu kämpfen. Aus Überzeugung!

Georg Restle
(Journalist; Rede auf der Demonstration am 13.10.2018 in Berlin)

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Plädoyer für eine Neuauflage des Buchs "Geißel der Menschheit"
Thomas Mann hatte völlig recht

Buchmesse in Göteborg - viel Hin und Her, viele Gespräche und am Abend offener Streit mit einer der edlen Seelen, die glauben, der westlichen Interpretation von UNO-Statuten und Menschenrechten in den neuen Kriegen von NATO und EU folgen zu müssen - den heißen gegen Jugoslawien und den kalten gegen den Süden. Auf dem Weg zum Hotel kam mir in den Sinn: Nun ist es wieder wie damals, als wir vor fast 50 Jahren versuchten, mit den edlen Seelen jener Generationen den Stockholmer Appell gegen Atomwaffen und die deutsche Wiederaufrüstung zu diskutieren.

Schließlich las ich ein wenig in Thomas Manns Tagebuch der Jahre 1953 bis 1955. Mit seiner Hilfe wollte ich jenes Jahrzehnt wiedererstehen lassen. Ebenso wie Charles Chaplin und Bertolt Brecht war Thomas Mann aus den USA McCarthys nach Europa geflohen.

Die Ausgabe des Tagebuchs von Thomas Mann ist gut gemacht, es ist mit deutscher Akribie ordentlich kommentiert. Inge Jens hat eine gründliche Arbeit geleistet. Aber - auf Seite 327 lese ich, daß Thomas Mann am Freitag, dem 13. März 1955, notierte: "Skandal über Skandal. In Westdeutschland wird Russells Buch über den Nazismus unterdrückt." Auf Seite 736 erklärt die Herausgeberin in einem langen Kommentar, daß dies falsch sei. Dafür finde sich kein Beleg in der damaligen Presse. Aber Thomas Mann hatte völlig recht. Russells Buch sollte 1954/55 unterdrückt werden. Es war ein großer internationaler Skandal. Aber das wurde offiziell so gut verdeckt, daß die Herausgeberin nicht dahintergekommen ist.

So aber ist es: Lord Russell of Liverpool war ein hoch dekorierter britischer Offizier und Militärjurist, der oberste juristisch Verantwortliche für die Kriegsverbrecherprozesse in der britischen Besatzungszone in Deutschland von 1946 bis 1951. (Es handelte sich um 356 Prozesse gegen mehr als 1000 Kriegsverbrecher.) Die Protokolle dieser Prozesse sind damals publiziert worden. Aber das Material war so umfangreich, daß sich nur wenige damit befassen konnten. Dazu kam: Die Verbrechen waren so monströs, daß viele nicht glauben wollten, daß so etwas jemals geschehen sei. Deshalb beschloß Lord Russell, jedem Leser die Möglichkeit zu geben, sich ein wahrhaftiges Bild über die deutschen Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges zu verschaffen. Sein Buch wurde eine schreckliche Lektüre. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gewiß viele neue Tatsachen ans Licht gebracht, aber Lord Russells Buch ist nach wie vor eine der besten Zusammenfassungen der Verbrechen Hitlerdeutschlands.

Lord Russells Buch baute völlig auf bereits veröffentlichten Tatsachen und Dokumenten auf, er verwandte kein internes Material. Das Werk war rein faktisch, ohne Polemik. Doch am 27. Juli 1954 wurde Russell plötzlich vor die Wahl gestellt, die Herausgabe des Buches zu stoppen oder sofort den Staatsdienst zu verlassen und jegliche Pensionsansprüche zu verlieren. Die britische Regierung forderte, daß das Buch unterdrückt wird. Der Justizminister gab auch den Grund an: "Die Art und Weise, wie das Material präsentiert wird, wird die kritischsten Auffassungen gegenüber der Politik der Wiederaufrüstung Deutschlands unterstützen ..." Lord Russell antwortete, daß der Versuch der Regierung, die Schrift zu unterdrücken, das Prinzip der Meinungsfreiheit grob verletzen würde. Er nahm seinen Abschied, um "The Scourge of the Swastika" (Die Geißel des Hakenkreuzes) publizieren zu können. "Times Literary Supplement" lobte Lord Russell für seine Wahrhaftigkeit, und Kingsley Martin schrieb in "New Statesman & Nation", daß es Pflichtlektüre an allen deutschen Schulen werden sollte. (In der DDR ist das Buch in zwei Auflagen [1955 und 1956] unter dem Titel "Die Geißel der Menschheit" bei "Volk und Welt" in der Übersetzung von Roswitha Czollek erschienen und wurde auch vielfach im Schulunterricht eingesetzt. RF)

Im Westen wurde vor allem deshalb gegen das Buch polemisiert, weil Lord Russell just in jenen Tagen des Strebens der deutschen Regierung nach Wiederaufrüstung nachwies, daß es nicht nur eine Handvoll antisemitische Nazis waren, die die Verbrechen begangen hatten, und daß sich das deutsche Oberkommando und der Generalstab ihrer Verantwortung nicht entziehen könnten. Bereits vor dem Nürnberger Gerichtshof hatte der britische Chefankläger darauf hingewiesen, daß das Dritte Reich mindestens 12 Millionen Männer, Frauen und Kinder unbarmherzig umbringen ließ. Im Urteil von Nürnberg hieß es just über die deutschen Streitkräfte, daß sie aktiv an den Verbrechen teilnahmen oder stillschweigend Zeugen waren.

Für uns Antifaschisten und Linke bedeutete Lord Russells Buch sehr viel. Wir arbeiteten ringsum in Europa gegen die deutsche Wiederaufrüstung. Wir hofften auf ein vereinigtes, demokratisches und allianzfreies Deutschland. Lord Russell gab uns Argumente dafür. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Thomas Mann jene Zeilen über Russells Buch schrieb, las ich es im Zug auf dem Weg nach Berlin zu einer europäischen Jugendkonferenz gegen die deutsche Wiederbewaffnung.

Der 30. August 1954 war ein Tag des Sieges für uns - die französische Nationalversammlung lehnte den Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ab, in deren Rahmen Deutschland hätte verstärkt aufrüsten können. Drei Tage später bestand Adenauer in einem "Times"-Interview auf dem Recht, Deutschland wieder zu bewaffnen und nutzte die Gelegenheit zu einer Attacke gegen das Russell-Buch.

Die Kampagne Adenauers und der Westmächte glückte. Wir verloren. Über Lord Russells Buch wurde der Schleier des Vergessens gebreitet. Heute ist Deutschland die stärkste Macht in EU-Europa und treibt dessen Politik Richtung Osten. Ringsum in Europa macht sich zugleich eine neue extreme und chauvinistische Rechte bemerkbar. Eine Rechte, die im Namen der Globalisierung und eines vereinten Europa eine wohlformulierte und politisch korrekt gekleidete Fremdenfeindlichkeit mit Plänen einer wirtschaftlichen Dominanz über die Dritte Welt und militärischer Einsätze in den Randgebieten des neuen kontinentalen Superstaates kombiniert. Das wiederum wirft seinen kriminellen Schatten - Skinhead-Gangs und Neonazis - in Deutschland, Schweden und anderen Ländern voraus. Auch deshalb sollte die "Geißel der Menschheit" neu herausgegeben werden.

Jan Myrdal
(2001; RF-Archiv)

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Zwangsarbeit im Schatten des Hamburger Flughafens 1943-45
Das vergessene Lager

In unmittelbarer Nähe des Hamburger Flughafens stehen in Fuhlsbüttel die letzten noch weitgehend im Originalzustand erhaltenen Zwangsarbeiterbaracken Hamburgs. Mitglieder der Willi-Bredel-Gesellschaft - Geschichtswerkstatt e. V. retteten sie 1998 vor dem Abriß.

Durch umfangreiche Forschungsarbeiten konnten die Geschichte des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers an diesem Ort und die Geschichte der Betreiberfirma Kowahl & Bruns anhand von Originalakten, Fotos, Zeitzeugenberichten und Recherchen in Archiven rekonstruiert werden.

"Als die Deutschen merkten, daß ihre Werbezettel, mit denen sie Arbeitskräfte nach Deutschland locken wollten, nicht wirkten, dachten sie sich etwas anderes aus. Sie nahmen meiner Familie die 'Stammkarte' weg. Ohne Karte gab es für meine Eltern und uns zehn Geschwister keine Lebensmittel. Also ging ich gezwungenermaßen nach Deutschland zum Arbeiten. Außer sonntags stand ich jeden Tag an einer Drehbank bei Röntgenmüller - und das bei kargem Essen, meist bestehend aus einer Rübensuppe."

Aus einem Bericht des ehemaligen niederländischen Zwangsarbeiters Theo Massuger, 2000

Die Publikation "Das vergessene Lager" von Uwe Leps (mit zahlreichen Abb., 102 S.) kann zum Preis von 8,90 € bezogen werden bei der Willi-Bredel-Gesellschaft, Ratsmühlendamm 24, 22335 Hamburg.
Email: willi@bredelgesellschaft.de
Sprechzeit dienstags 15-18 Uhr, Tel. 040-591107

Das Informationszentrum Zwangsarbeit zeigt fünf Ausstellungen am authentischen Ort in den im Buch von Uwe Leps beschriebenen Zwangsarbeiterbaracken der Firma Kowahl & Bruns:

• Zwangsarbeit in Hamburg 1940-1945
• Lebens- und Arbeitsbedingungen niederländischer Zwangsarbeiter 1943-1945
• Der Leidensweg der polnischen Jüdin Matla Rozenberg
• Kriegsverbrecher und Kriegsgewinnler Emil Bruns
• Notunterkunft für Ausgebombte und Flüchtlinge 1945-1957

Angebote für Gruppen und Schulklassen auf Anfrage.

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BUCHTIPS

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts
Gemeinverständlicher Abriß zum Aufstieg der neuen Finanzakteure

Neue Finanzakteure haben nach der Finanzkrise die bisherigen Großbanken abgelöst. Blackrock & Co sind nun die Eigentümer von Banken und Industriekonzernen. Hinzu kommen Private-Equity-Fonds, Hedgefonds, Wagniskapital-Investoren und Investmentbanken. Mit Digital-Giganten wie Amazon, Facebook, Google, Microsoft, Apple und Uber haben die neuen Finanzakteure schon vor Donald Trumps "America First" die US-Dominanz in der EU verstärkt. Arbeits-, Wohn-, Ernährungs- und Lebensverhältnisse: Die neue Ökonomie dringt in die feinsten Poren des Alltagslebens von Milliarden Menschen ein. Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts verstecken ihre Eigentumsrechte in vier Dutzend Finanzoasen, fördern rechtspopulistische Politik, stützen sich auf eine zivile, transatlantische Privatarmee von Beratern und kooperieren in Silicon-Valley-Tradition mit Militär und Geheimdiensten. Rügemers Analyse schließt mit einem ausführlichen Systemvergleich des nach innen und außen noch aggressiver gewordenen "westlichen" Kapitalismus mit demjenigen Chinas, der auch bei seinen Investitionen in der EU und weltweit einer alternativen Logik folgt.

PapyRossa, Köln 2018, 358 S., 19,90 €


Jürgen Kuczynski: Asche für Phönix. Oder: Vom Zickzack der Geschichte

Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen. Mit einem Nachwort von Georg Fülberth

Zwei der letzten Bücher des 1997 verstorbenen großen Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski gekürzt und zu einem Band zusammengefaßt. Sein Überblick über zweitausend Jahre Wirtschaftsgeschichte seit der Antike beleuchtet das Verhältnis von Ökonomie, Technik und Kultur und bietet zugleich einen Rundgang durch Kunst, Literatur und Philosophie. Zentral geht es um die Frage, warum keine der auf die Sklavenhaltergesellschaft folgenden Gesellschaftsordnungen sich im ersten Anlauf durchsetzen konnte. Feudale Elemente im späten Rom gingen ebenso wieder unter wie die kapitalistischen im spätmittelalterlichen Oberitalien. Feudalismus wie Kapitalismus erlebten also jeweils ein gescheitertes, verfrühtes Vorspiel, bevor sie einige Jahrhunderte später wiederauferstanden. Und der untergegangene Realsozialismus? Deckt seine Asche einen Phönix? Wiederholt sich also das geschichtliche Muster von Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen? Oder führt die tiefe Krise des Kapitalismus die Menschheit in die Barbarei?

PapyRossa, Köln 2019, ca. 180 S., 14,90 €


André Scheer: Che Guevara

Basiswissen Politik / Geschichte / Ökonomie

Ernesto Che Guevara ist eine Legende. Das berühmte Bild des Fotografen Alberto Korda ziert unzählige Devotionalien: T-Shirts und andere Kleidung, Tassen, Rumflaschen, Fahnen usw. Entsprechend gibt es auch jede Menge Veröffentlichungen über ihn, von einer kaum überschaubaren Anzahl mehr oder weniger gelungener Biographien bis hin zu punktuellen Erwähnungen in Büchern über revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika. Warum also ein weiteres Buch über ihn? Meist erscheint er als idealistischer Abenteurer, doch über seine politischen Ideen und Überzeugungen ist erstaunlich wenig bekannt. Deshalb ist es trotz all dieser Publikationen sinnvoll, in der Reihe "Basiswissen" auf diese wichtige Persönlichkeit der internationalen sozialistischen Bewegung einzugehen. Dabei geht es weniger um die Anekdoten, die über Che kursieren, als vielmehr um seine politischen Positionen und deren Entwicklung im biographischen und zeitgeschichtlichen Kontext. Zu fragen gilt es zudem, was er uns mit seinen Analysen heute noch zu sagen hat.

PapyRossa, Köln 2019, 134 S., 9,90


Frank Wecker: Der Tod der Freiheit

Der letzte Tag im Leben von Libertas Schulze-Boysen

Es ist der 22. Dezember 1942. Die Widerstandskämpferin Libertas Schulze-Boysen wartet auf ihre Überführung zur Hinrichtungsstätte nach Plötzensee. Die verbleibende Lebenszeit nutzt sie, um im Kopf einen Film über ihr Leben entstehen zu lassen. Als Filmkritikerin hatte sie sich in ihrem Berufsleben mit der Filmästhetik auseinandergesetzt. Nun denkt sie sich einen Film, der die neuen Möglichkeiten des Ton- und Farbfilms zur Geltung bringt. Gleichzeitig ist sie sich bewußt, daß es diesen Film nie geben wird.

Edition Winterwork, Borsdorf 2018, 346 S., Zeittafel, Personenregister, 19,90 €

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG

Zur Kritik von Marx und Engels am Gothaer Programmentwurf
Sendung des Deutschlandsenders vom 5. Juni 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Ungarische Räterepublik von 1919

Nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Nationalitätenmonarchie hatte am 30. Oktober eine bürgerlich-demokratische Revolution begonnen. Ungarn wurde am 16. November 1918 Republik. Die unter dem Ministerpräsidenten Graf Mihály Károlyi gebildete Koalitionsregierung mit kleinbürgerlicher und sozialdemokratischer Mehrheit konnte aber die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht lösen und versuchte auch mit allen Mitteln, jede revolutionäre Weiterentwicklung zu verhindern. Die Regierung trat am 20. März 1919 zurück.

Einen Tag später, am 21. März 1919, rief der Revolutionär und Journalist Béla Kun die Ungarische Räterepublik aus. Kun, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Ungarns im November 1918, war eine der führenden Persönlichkeiten dieser Räterepublik. Am 20. März 1919 hatten sich Kommunisten und Sozialdemokraten zur Sozialistischen Partei Ungarns zusammengeschlossen. Nach dem Sturz der Räterepublik zerfiel die einheitliche Partei aber wieder.

An der Spitze der Räteregierung stand der Sozialdemokrat Sándor Garbai. Führende Funktionen übernahmen Kommunisten wie Otto Korvin, Béla Kun, Tibor Szamuely und linke Sozialdemokraten wie Jenö Landler und Béla Szántó. Am 22. März 1919 erklärte die Regierung in einem Manifest als Ziel der Rätemacht den Aufbau des Sozialismus und als Grundlage ihrer Außenpolitik das Bündnis mit Sowjetrußland. Sie leitete Maßnahmen zur Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und zur grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft ein. Die großen und mittleren Betriebe, die Gruben und Großbanken und der Grundbesitz über 57 Hektar wurden nationalisiert. Es entstanden landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Die Einführung des Achtstundentags, das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit, die Erweiterung der Sozialfürsorge und die Brechung des Bildungsmonopols waren wichtige soziale Errungenschaften der Räterepublik.

Nach Wahlen in der ersten Aprilhälfte 1919 tagte vom 14. bis zum 24. Juni 1919 der Landesrätekongreß von Abgeordneten der Komitate, Städte und Gemeinden, der sich zum höchsten gesetzgebenden Gremium des Landes konstituierte und eine Verfassung beschloß. Dieses Gremium proklamierte nun die Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik und wählte den Revolutionären Regierungsrat. Am 25. Juni 1919 wurde die Diktatur des Proletariats verkündet. Der Aufbau einer Roten Armee begann.

Arbeiter in anderen Ländern begrüßten und unterstützten die Ungarische Räterepublik. W.I. Lenin wandte sich am 27. Mai 1919 mit einem Gruß an die ungarischen Arbeiter, der am 29. Mai in der "Prawda" veröffentlicht wurde. Er schrieb: "Die Nachrichten, die wir von den Führern der ungarischen Rätebewegung erhalten, erfüllen uns mit Begeisterung und Freude. Erst zwei Monate und einige Tage besteht die Rätemacht in Ungarn, aber im Sinne der Organisiertheit hat uns das ungarische Proletariat schon überholt. Das ist verständlich, denn in Ungarn ist das allgemeine Kulturniveau höher, dann ist der Anteil der Industriearbeiter an der Gesamtbevölkerung weitaus größer (drei Millionen Einwohner Budapests auf acht Millionen Einwohner des heutigen Ungarns), und schließlich war auch der Übergang zum Rätesystem, zur Diktatur des Proletariats in Ungarn unvergleichlich leichter und friedlicher ... Die ungarische proletarische Revolution macht sogar die Blinden sehend. Die Form des Übergangs zur Diktatur des Proletariats in Ungarn ist eine ganz andere als in Rußland: freiwilliger Rücktritt der bürgerlichen Regierung, sofortige Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse ... Das Ziel ist, den Sozialismus zu schaffen, die Teilung der Gesellschaft in Klassen aufzuheben, alle Mitglieder der Gesellschaft zu Werktätigen zu machen, jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den Menschen den Boden zu entziehen. Dieses Ziel kann nicht auf einmal erreicht werden, es erfordert eine ziemlich lange Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus."

Die gestürzten Ausbeuter und ihre internationalen Unterstützer bekämpften mit allen Mitteln den neuen Staat, der sich nicht nur mit gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Problemen als Folge des verlorenen Weltkrieges konfrontiert sah, sondern auch mit den umfangreichen Gebietsforderungen, die die Entente am 20. März in einer Note forderte, die nach dem Obersten Vyx benannt war. Mitte April 1919 begannen Truppen der Tschechoslowakei, Rumäniens und des neu entstandenen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen ihren Angriff auf die Räterepublik und besetzten weite Teile Ungarns. Nach anfänglich erfolgreicher Verteidigung brach die Ungarische Räterepublik nach 133 Tagen zusammen, als rumänische Truppen die Hauptstadt Budapest eroberten. Am 1. August 1919 trat die Regierung zurück. Am 16. November 1919 rückten konterrevolutionäre ungarische Truppen unter Führung von Miklós Horthy in Budapest ein. Horthy ließ sich im Mai 1920 zum Reichsverweser - so der Titel des Staatsoberhauptes - wählen. Ungarn wurde für kurze Zeit wieder Königreich.

Nach dem Sturz der Räterepublik wurden alle Errungenschaften der Revolution rückgängig gemacht. Es begann ein blutiger Terror. Ehemalige Funktionäre, Anhänger und Sympathisanten des Rätesystems, aber auch zahlreiche Unbeteiligte, die Opfer gezielter Denunziation geworden waren, wurden zwischen Sommer 1919 und Ende 1920 während des "weißen Terrors" von den Truppen Horthys und ihnen nahestehenden Freischärlern, zum Beispiel denen des berüchtigten Pál Prónay, hingerichtet. Das Wüten der Konterrevolution forderte über 5000 Opfer. Außerdem wurden Zehntausende in die Gefängnisse geworfen oder zur Emigration gezwungen.

Lenin hatte in seinem Gruß an die ungarischen Arbeiter geschrieben: "Ihr führt den einzig legitimen, gerechten, wahrhaft revolutionären Krieg, den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, den Krieg der Werktätigen gegen die Ausbeuter, für den Sieg des Sozialismus. Auf der ganzen Welt ist alles, was es an Ehrlichem in der Arbeiterklasse gibt, auf Eurer Seite. Jeder Monat bringt die proletarische Weltrevolution näher." Hier irrte Lenin allerdings. Aber für kurze Zeit war Ungarn aus dem kapitalistischen System ausgebrochen. Die Ungarn könnten stolz auf ihre revolutionären Traditionen sein ...

Dr. Kurt Laser

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Glückwunsch zum 90.!

Am 9. März vollendet Generaloberst a. D. Werner Großmann sein 90. Lebensjahr. Von 1986 bis 1989 war er stellvertretender Minister für Staatssicherheit der DDR und Chef der Auslandsaufklärung, der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Sein Lebensweg bis hin in diese Funktionen war so nur in der DDR möglich. Geboren in der Nähe von Pirna in der Familie eines Zimmermanns, kam er 1945 noch in den "Volkssturm", lernte Maurer, legte 1949 das Abitur ab und wechselte 1952 von der TH Dresden an die Schule des Außenpolitischen Nachrichtendienstes, des Vorläufers der HV A. Seit 1953 war er in der Abteilung tätig, die sich mit dem Staatsapparat der BRD befaßte. 1966/67 studierte er an der Parteihochschule der KPdSU in Moskau und nahm 1969 ein Fernstudium auf, das er 1972 als Diplomjurist abschloß. Seit 1975 war er Stellvertreter des Leiters der HV A, ab 1983 dessen Erster Stellvertreter.

In den Jahren nach Konterrevolution und Anschluß blieb er seiner Haltung treu. Die Versprechungen des Gegners rührten ihn nicht, dem juristischen Druck hielt er stand. Am Tag des Anschlusses, am 3. Oktober 1990, wurde er verhaftet, blieb einige Zeit im Untersuchungsgefängnis und erhielt eine absurde Anklage wegen Agententätigkeit und Landesverrats. Am 15. Mai 1995 nahm der Generalbundesanwalt die Klage zurück und stellte das Verfahren ein.

Auf Werner Großmann geht die Idee zurück, eine mehrbändige Geschichte der HV A zu veröffentlichen, die inzwischen im Verlag edition ost erschienen ist. Dort kamen 2001 auch seine Erinnerungen unter dem Titel "Bonn im Blick" heraus, 2017 sein Buch "Überzeugungstäter".

Den Versuchen des Gegners, Abwehr und Aufklärung des MfS gegeneinander auszuspielen, ist Werner Großmann stets mit Nachdruck entgegengetreten.

Der "RotFuchs" gratuliert herzlich.

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Zur Transformationstheorie und ihren Folgen

Die Transformationstheorie stand schon oft im Mittelpunkt linker Diskussionen. Was mir dabei aber meist zu kurz kam, war die Betrachtung der katastrophalen Resultate ihrer Umsetzung in der Praxis. Angefangen vom Verrat der Novemberrevolution in Deutschland über die Ereignisse von 1968 in der CSSR und der Niederlage des europäischen Sozialismus 1990 bis hin zur Programmatik linker Parteien in der Gegenwart.

Hauptträger pseudomarxistischer, sich als links bezeichnender Richtung verortete Lenin im Kleinbürgertum. In ihrem praktischen Wirken dienen sie letztlich immer den Herrschenden und der Verhinderung wirklich neuer Machtverhältnisse zugunsten des Volkes.

Ein "Markenzeichen" ist die geschickte Nutzung revolutionärer Phrasen, um die wahren Fakten und Ziele zu verschleiern. Vor allem mit guten Rednern bringt man sie wirkungsvoll unter die Massen.

In den Auseinandersetzungen mit den "linken" Kommunisten 1918 schrieb Lenin: "Mit lauten Phrasen um sich zu werfen, ist eine Eigenheit der deklassierten kleinbürgerlichen Intelligenz. (...) Mit dem Schreckgespenst des Staatskapitalismus zeigen sie, daß sie den ökonomischen Unterschied zwischen dem Sowjetstaat und dem bürgerlichen Staat nicht verstehen. (...) Hier kämpft nicht der Staatskapitalismus gegen den Sozialismus, sondern die Kleinbourgeoisie plus privatwirtschaftlicher Kapitalismus kämpfen gemeinsam sowohl gegen den Staatskapitalismus als auch gegen den Sozialismus."

Er schlußfolgerte bzw. warnte: "... entweder werden wir diese Kleinbürger unserer Kontrolle und unserer Rechnungsführung unterordnen oder aber sie werden unsere Arbeitermacht ebenso unvermeidlich wie unabwendbar zu Boden werfen."

Wie real diese Prophezeiung wurde, zeigte sich besonders dramatisch 1990 während der sogenannten Wende. Vorausgegangen waren nicht nur die Ereignisse in der Volksrepublik Polen, sondern auch der gescheiterte Versuch 1968 in der CSSR.

Maßgeblich beteiligt waren als Führungskräfte 1968 in der CSSR Zdenek Mlynár und in der Sowjetunion Ende der 90er Jahre Michael Gorbatschow. Beide teilten ein Zimmer während ihres Studiums von 1951 bis 1955 an der Lomonossow-Universität in Moskau. In einem gemeinsamen Buch veröffentlichten sie 1996 ihre Sicht auf die Probleme, die Ereignisse, ihre Motivation und ihre Aktivitäten. In diesen Selbstaussagen zeigt Gorbatschow etwas mehr von seinem wahren Gesicht.

Bekannt sind seine öffentlichen Erklärungen über die Aufgaben des Klassenkampfes zugunsten "allgemein menschlicher Werte".

Zdenek Mlynár war Autor des politischen Teils des Aktionsprogramms der KSC vom 5. April 1968. Darin fordert erdie Beseitigung der Rolle der kommunistischen Partei als Instrument der Diktatur und spricht von einer "Einklassengesellschaft" durch das Verschwinden von Klassendifferenzen.

In seinem Artikel: "Hin zu einer demokratischen politischen Organisation der Gesellschaft" benennt er als beste Lösung für die Tschechoslowakei ein pluralistisches System.

Nach seiner Meinung kann es eine effiziente und dynamische sozialistische Ökonomie nicht geben. Für Mlynár und Gorbatschow war Klassenkampf Geschichte, dessen Negierung bekanntlich zu den zentralen Aussagen der Transformationstheorie gehört.

Auch in der Programmatik der Partei Die Linke findet man keinen Bezug zum Klassenkampf. Die SPD hatte sich davon schon vor 100 Jahren verabschiedet.

Die Führungskräfte, die sich als "Reformer und Erneuerer" im Dezember 1989 an die Spitze der SED setzten und sie zur PDS umformten, wirkten auf der ideologischen Grundlage der Transformationstheorie. Zuallererst verurteilten sie den wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus als dogmatisch und trennten sich von der Arbeiterklasse durch die Auflösung der Betriebsparteiorganisationen.

Sie sprachen vom "modernen Sozialismus" und übernahmen später den sozialdemokratischen Ausdruck von einem "demokratischen Sozialismus". Gemeint ist damit offensichtlich das in der Transformationstheorie angedachte parlamentarische Hineingleiten in die sozialistische Gesellschaft, ohne dabei die Besitzdominanz des Großkapitals anzugreifen.

An dieser Illusion krankt nach meiner Ansicht die Wirkung der Linken nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas. Die als links angetretene griechische Regierung unterwarf sich vollständig dem Kapital. Positive Ergebnisse durch ein Mitregieren von linken oder sogar kommunistischen Parteien in anderen Ländern sind nicht bekannt, dagegen hatten sie einen enormen Mitglieder- und Wählerschwund zu verzeichnen (z.B. KPI, KPF).

Schlagworte gehören zum "Markenzeichen" der Theorie. Sie sollen fehlende Substanz verdecken. Gorbatschow brachte Glasnost und Perestroika ins Spiel. Es gibt zwar die deutsche Übersetzung, aber keine Inhalte. Man findet sie nicht einmal in dessen gleichnamigem Buch "Perestroika", das auch in der DDR erhältlich war. Hier sprachen die neuen Führer von der besseren DDR, vom demokratischen Sozialismus. Hat man jemals ein Konzept zur Verbesserung der DDR gesehen? 1945 war das anders. Die KPD trat mit einem klaren Programm an die Öffentlichkeit. In der Praxis wurde die Transformationstheorie ein wichtiges und wirksames Instrument der Konterrevolution, unabhängig davon, ob die Akteure sich dessen bewußt waren oder ob sie gezielt daran mitwirkten.

Nach dem 1. Weltkrieg wurde aus der Losung der SPD-Führung "Der Sozialismus marschiert" der direkte Marsch in den Faschismus. Zdenek Mlynár war seit Mitte der 60er Jahre der Spiritus rector des Konzepts von der Transformation des sozialistischen Gesellschaftssystems in eine parlamentarische Demokratie westlichen Typs.

Die drei prominenten Perestroika-Vertreter Michail Gorbatschow, sein Außenminister Eduard Schewardnadse und sein Berater Alexander Jakowlew hatten eine eigene Version der US-amerikanischen neoliberalen Politik im Kopf, nicht aber eine Besinnung auf sozialistische Werte, wie Michael R. Beschloss und Strobe Talbott in ihrem Buch "At the Highest Levels. The Inside Story of the End of the Cold War" schreiben. Das verhängnisvolle Wirken solcher Kräfte war deshalb so effektiv, weil sie linkes Vokabular nutzten und in Führungspositionen gelangen konnten.

Auch heute blockiert der Bezug auf die Transformationstheorie ein wirkungsvolles Agieren von linken Kräften. Ohne Rückbesinnung auf die marxistischen Grundlagen, vor allem auf die Theorie vom Klassenkampf, wird man die gegenwärtigen Zustände kaum ändern können.

Horst Neumann

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WANDERUNGEN DURCH WESTDEUTSCHLAND (10)

Siebzig Tote und dreizehn tote Zeugen

Weinheim an der Bergstraße ist ein idyllisches Städtchen am Übergang zwischen Rheinebene und Odenwald. Schon für die Römer war die "strada montana" eine wichtige Handelsverbindung, und heute zählt Weinheim zu den Perlen der Badischen Weinstraße.

Die lokale Tageszeitung sind die "Weinheimer Nachrichten". Herausgeber ist der Verlag Diesbach-Medien. Die Zeitung bezieht ihren reaktionären Mantel vom "Mannheimer Morgen" und füllt ihren Lokalteil mit Hofberichterstattung über die örtlichen Vereine.

Und dabei sah es einst zur Zeitungsgründung ganz anders aus: Der Weinheimer Friedrich Diesbach stand in der 1848er Revolution auf seiten der radikalen Demokraten und mußte Verhaftung, Einkerkerung und Vermögensbeschlagnahme erdulden. Zeitweise stand er im Verdacht, dem "Bund der Geächteten" anzugehören, einem Vorläufer des "Bundes der Kommunisten". Dieser radikale Linke Friedrich Diesbach war pikanterweise Ahnherr der Diesbach-Dynastie, die heute die "Weinheimer Nachrichten" herausgibt.

Nur rund fünfzehn Kilometer weiter westlich steht der Wanderer bereits im hessischen Lampertheim. Im Wald vor dem Ortsteil Neuschloß sieht er riesige Masten aufragen, deren Spitzen mit Drähten verbunden sind. Bis 1990 wies ein verschämter Wegweiser darauf hin, dessen Beschriftung die meisten ratlos ließ: "RFE/RL". Heute steht darauf: "IBB". Ersteres stand für "Radio Free Europe/Radio Liberty", letzteres steht für "International Broadcasting Bureau". Wie auch immer die Bezeichnung wechseln mag - es sind Propagandasender der US-Regierung, die weit in den Osten hineinstrahlen. Auf diesen Wellen erhielten die Konterrevolutionäre in Ungarn, der CSSR, Rumänien und Polen ihre Instruktionen. Die Putschisten in der DDR 1953 hingegen überließ man in trauter Arbeitsteilung dem RIAS und der Deutschen Welle. Bei Lampertheim gibt es allerdings keine Studios und Redaktionen, der Sender fungiert als reine Relaisstation, also als Verstärker.

Nur wenige Kilometer weiter westlich quert der Wanderer bereits die Grenze zum nächsten Bundesland: Rheinland-Pfalz. In Ramstein, dem größten US-Militärflugplatz außerhalb Amerikas, starben am 28. August 1988 70 Menschen, über 1000 wurden teils schwer verletzt. Bei einer monströsen NATO-Luftwaffenschau kollidierten drei Maschinen der italienischen Kunstflugstaffel, eine von ihnen raste brennend in die Zuschauermenge.

Seltsam: Zwei der drei dabei getöteten italienischen Piloten reihten sich ein in insgesamt dreizehn Landsleute, die vor und nach ihnen auf jeweils mysteriöse Weise umkamen. Allesamt waren es Italiener, allesamt Zeugen der Hintergründe eines Vorfalls, der zum Zeitpunkt der Ramstein-Katastrophe acht Jahre zurücklag: Eine zivile Passagiermaschine vom Typ DC-9-15 war am 27. Juni 1980 nahe der italienischen Insel Ustica über dem Mittelmeer abgeschossen worden. Erst 1990 wurde in Italien gerichtsbekannt, daß NATO-Kreise die Verantwortung für den Abschuß der Maschine mit 81 Toten trugen. Das Flugzeug war von einer Rakete getroffen worden, da der amerikanische Geheimdienst CIA den libyschen Staatschef Muammar El-Ghaddafi darin vermutete. Und die beiden Ramstein-Piloten zählten eben zu den 13 toten Zeugen jenes Abschusses. Sie hätten eine Woche nach Ramstein vor dem italienischen Untersuchungsausschuß aussagen sollen. Aber hier irgendwelche Zusammenhänge zu vermuten, ist sicherlich nichts als eine Verschwörungstheorie ...

Bei der Katastrophe von Ramstein verbot die US-Militärpolizei mit vorgehaltenen MPs deutschen Rettungskräften, zu helfen und verhinderte Erstversorgung. Die Untersuchungsberichte des US-Militärs liegen noch immer unter Verschluß. Entschuldigungen oder angemessene Entschädigungen für die Hinterbliebenen der Opfer und die Schwerverletzten gab es bis heute nicht, weder von US- noch von deutscher Seite. Politiker heuchelten Betroffenheit und machten nach zwei Tagen weiter, als sei nichts geschehen. Imperialistische Rüstung tötet nicht erst im Krieg!

Ohnehin ist Rheinland-Pfalz das Bundesland mit der größten Atomwaffendichte. Der Wanderer beeilt sich daher mit dem Durchqueren, wobei ihm die Eile im Ernstfall sicherlich nichts helfen würde. Schnell kommt er über die Grenze zum kleinsten deutschen Bundesland, dem Saarland, das erst 1957 politisch Teil der BRD wurde und zweieinhalb Jahre später auch wirtschaftlich.

Hier, im traditionell französisch geprägten Westen, liegt der kleine Ort Wadgassen. Das Depot des dortigen Deutschen Zeitungsmuseums beherbergt ein seltenes Exponat. Das wird der Wanderer in der nächsten Folge seiner Serie vorstellen.

Hans Dölzer †

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Die Währungsreformen von 1948

Im letzten Jahr rollte eine Welle von Lobgesängen zum 70. Jahrestag der Westzonen-Währungsreform vom 20. Juni 1948 über uns. Am 23. Juni 1948 hatte man in der sowjetisch besetzten Zone mit einer eigenen Reform reagiert. Darüber lag jetzt der Mantel des Schweigens bei Politikern wie Medien.

Aus diesem Grund suchte ich in Archiven Zeitungen aus der sowjetischen Besatzungszone, um die "Stimme" der Menschen aus dem anderen Teil Deutschlands zu "hören". Meine Suche umfaßte den Zeitraum vom Juni bis Juli 1948. Hier einige Fundstücke:

Bereits eine Woche vor der Währungsumstellung meldeten die Zeitungen:

- Wie wir durch Anruf des Reuter-Nachrichtenbüros nach Redaktionsschluß erfahren, hat die britische Militärregierung ab sofort für alle Deutschen, die nach der Ostzone reisen wollen, die Interzonenpässe gesperrt.
- Die vorgesehenen Ämter in den drei Westzonen wurden darauf vorbereitet, am Stichtag den festgesetzten Kopfbetrag in neuer Währung auszuzahlen. Die den Betrag der Kopfquote übersteigenden Gelder und Guthaben dürften im Verhältnis 1:10 abgewertet werden.

Geldschmuggler an der Grenze

Ostzone schützt sich: Übergänge Oelsnitz, Eisenach und Heiligenstadt gesperrt. In der Gewißheit, daß die westlichen Zonenbefehlshaber und ihre deutschen Handlanger auf schnellste Durchführung einer einseitigen Geldreform drängen, versuchen diese "Geschäftsleute", umfangreiche Geldreserven noch rechtzeitig in die Ostzone abzuschieben. Schon vor 14 Tagen faßte die Grenzpolizei westlich der Bode im Abschnitt Schierke und bei Stapelburg regelrechte Geldschmuggler, die sich Banknotenbündel in die bauschigen Falten ihrer Knickerbocker oder Skihosen eingenäht hatten. Dieses Kapital sollte so lange bei Mittelsmännern deponiert werden, bis die Währungsreform im Westen verkündet ist, um dann damit noch in der Ostzone "arbeiten" zu können.

- Zum Schutz der Interessen der Bevölkerung und der Wirtschaft der sowjetischen Zone sowie zur Vorbeugung von Desorganisation des Geldumlaufs hat die Sowjetische Militärverwaltung Abwehrmaßnahmen getroffen, die am 19. Juni, 00 Uhr, in Kraft traten.

Daß diese Anordnungen berechtigt waren, zeigen folgende Meldungen:

Zahlreiche Geldschieber gefaßt

Ostzone muß vor West-Geldflut abgeschirmt werden / 5000 festgehalten. Die Anzahl der bei dem Versuch des illegalen Grenzüberganges Festgehaltenen überstieg am 19. Juni mittags bereits 5000. Die meisten von ihnen hatten in ihrem Besitz große Geldsummen in Reichsmark. So wurden bei einem von ihnen, der bei Marienborn festgehalten wurde, 350.000 RM gefunden. Bei Propstzella versuchte ein illegaler Grenzgänger 400.000 RM in die sowjetische Besatzungszone zu schmuggeln.

Berliner Sicherungsmaßnahmen

Erklärung des Magistrats zur Währungslage. Es wird alles geschehen, um eine Überflutung Berlins mit Zahlungsmitteln, die im Westen ungültig geworden sind, zu verhindern. Die Polizei hat Anweisung, die notwendigen Kontrollen einzurichten.

Illegaler Grenzverkehr gestoppt

Nach der Bekanntgabe der Währungsreform in der Sowjetzone ist der illegale Grenzverkehr in den Harzgebieten Schierke, Elend, Ilsenburg, Stapelburg und Beneckenstein fast völlig zum Erliegen gekommen.

Nach dem Tag der Währungsumstellung wurde gemeldet:

Sperrung der Sektorengrenzen?

Amerikaner wollen Geldumtausch behindern / Panzer im US-Sektor. An der Grenze der Verwaltungsbezirke Kreuzberg und Mitte, die gleichzeitig die Grenze zwischen dem amerikanischen und sowjetischen Sektor darstellt, waren am Donnerstagvormittag Patrouillen amerikanischer Militärpolizei unterwegs, die bemüht waren, Passanten am Überschreiten der Sektorengrenze zu hindern, offensichtlich um auf diese Art den Bewohnern des amerikanischen Sektors die Möglichkeit zu nehmen, ihr Geld in die allein in ganz Berlin gültige Reichs- und Rentenmark mit Spezialkupons umzutauschen. In den Hauptstraßen des amerikanischen Sektors wurden Panzerspähwagen und Jeeps mit aufmontierten Maschinengewehren beobachtet, die in Abständen von 10 Minuten alle Straßen abfuhren. Die Wagen waren mit Angehörigen der amerikanischen Militärpolizei und der Constabulary besetzt, die in reichlichem Maße mit Munitionsgurten ausgestattet waren.

Interzonenhandel bewußt gestört

Jetzt kommt die Nachricht, daß die westlichen Besatzungsmächte den interzonalen Güterverkehr nach der sowjetischen Besatzungszone mit sofortiger Wirkung eingestellt haben. Die westlichen Besatzungsmächte haben damit mit rauher Hand in alle Abmachungen der deutschen Stellen eingegriffen zum Schaden des gesamten deutschen Volkes.

- Am 26. Juni 1948 läßt Marschall Sokolowski in einer Erklärung keinen Zweifel darüber, daß die Sowjetische Militärverwaltung entschlossen ist, auch weiterhin die Versorgung Berlins zu sichern und nötigenfalls bereit ist, ähnlich wie im Jahre 1945, ganz Berlin mit Lebensmitteln zu versorgen.

An Demarkationslinie verhaftet

Von der hessischen Grenzpolizei wurden in den letzten Tagen 62 Personen verhaftet, die versuchten, illegal nach Thüringen zu gelangen. Bei den Grenzgängern wurden Altgeldbeträge von über 400.000 RM vorgefunden. Der illegale Grenzverkehr im Gebiet des Landes Mecklenburg hat so gut wie ganz aufgehört. Während vor der Währungsreform in der Ostzone täglich bis 200 illegale Grenzgänger gestellt wurden, ging deren Zahl in der Folgezeit rapide zurück.

Schon Nachfrage nach Kartoffeln

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Meldung, daß die Sowjetische Militärverwaltung die Versorgung der gesamten Berliner Bevölkerung gewährleisten wird, gingen bei dem Haupternährungsamt in Berlin zahlreiche Rückfragen aus den westlichen Sektoren ein, wann mit einer Belieferung mit Frischkartoffeln für die Einwohner der westlichen Bezirke Berlins rechnen ist.

Das Angebot der SMA, den Kindern an Stelle von Trockenmilchpulver Frischmilch zu liefern, blieb bis heute unbeantwortet. Das Angebot der Deutschen Wirtschaftskommission, in Verhandlungen über die Möglichkeit von Hilfsmaßnahmen in der Stromlage einzutreten, wurde nicht beachtet. Die hohen Herren der westlichen Besatzungsmächte haben verboten, den kleinen Gang in die Leipziger Straße zu machen, weil es ihnen nicht ins Konzept paßt, daß den Berlinern in irgendeiner Weise geholfen wird. Sie brauchen abgemagerte Kinderleichen, die zerrüttete Wirtschaft Berlins, eine überreizte, nervöse Bevölkerung für ihre Zwecke ebenso wie die Rollbahn für Superfestungen, für die jetzt große Teile des Neuköllner Sportparkes unter den Axtschlägen fallen.

Nahrungsmittel als Dünger

Die Hamburger Ernährungsämter geben bekannt, daß täglich große Posten von Obst und Gemüse verfaulen, weil die Bevölkerung seit der Währungsreform kein Geld mehr hat, um die hohen Preise, die auf dem "freien Markt" für die Grundnahrungsmittel verlangt werden, zu bezahlen. Aus einer Meldung des "Hamburger Echos" geht hervor, daß die verfaulten Nahrungsmittel in Elbeschuten verladen und abtransportiert werden, um als Düngemittel für die Landwirtschaft zu dienen.

Westberliner Magistrat verweigert Transport von Lebensmitteln

Die mit Schiffstransporten aus der Sowjetunion eingetroffenen und noch eintreffenden Lebensmittel für die Versorgung von ganz Berlin erfordern naturgemäß den verstärkten Einsatz aller Transportmittel auch der Stadt Berlin. Seit der separaten Währungsreform der westlichen Besatzungsmächte liegen 29 Kähne der Berliner Magistratsflotte im Berliner Westhafen auf Anweisung des Magistrats fest. Einige dieser Kähne, die für dringende Beförderungen zur Versorgung der Bevölkerung gebraucht würden, hätten sich inzwischen auf eigene Faust nach dem Osthafen durchgeschlagen. 12 Kähne lägen noch immer fest.

Johann Weber

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Ausbeutung ist legal ...

Kaum habe ich diese Überschrift zu Papier gebracht, da gellt es mir auch schon in den Ohren: "Was soll das sein? Wo gibt es denn so was? Infame Unterstellung! Populistische Hetze!" Doch gemach! Egal, ob es den Verantwortlichen paßt oder nicht - das Übel hat viele Gesichter und ist mit Händen zu greifen:

Während der Regierungszeit der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD sind auf dem Arbeitsmarkt immer neue Beschäftigungsmodelle entstanden: Leiharbeit, Schein-Selbständigkeit, Sub-Unternehmen, Leichtlohngruppen, Teilzeit-Beschäftigung, Aushilfstätigkeit, Job-Sharing, Saisonarbeit, Minijob - und wie immer alle diese Etikettierungen lauten, die, von "Arbeitgebern" und nicht etwa von Lohnabhängigen ersonnen, keinen anderen Zweck erfüllen, als neue und auf den ersten Blick kaum durchschaubare Methoden der Ausbeutung zu kaschieren. Lohndumping zum Zweck der Gewinnmaximierung der "Arbeitgeber" ist der Oberbegriff, unter dem sich diese ausbeuterischen Verfahrensweisen zusammenfassen lassen. Mal geht es dabei um die Ausnutzung von Steuervorteilen, mal um die Einsparung von Sozialabgaben, immer aber um die Senkung von Betriebskosten zu Lasten der "Arbeitnehmer", die, da ein normales Monatsgehalt nicht mehr ausreicht, eine Familie zu ernähren, oft zwei oder gar drei Mini- und Nebenjobs ausüben, um halbwegs über die Runden zu kommen. Kein Wunder, daß die Zahl der Armen wächst, während die Reichen immer reicher werden, nämlich die Kapitaleigner und die Eigentümer der Produktionsmittel, die die Sahne abschöpfen.

Frage: Wo bleiben eigentlich die Gewinne, die erzielten Überschüsse? Wandern sie zum Betriebsvermögen, dienen sie der Sicherung von Arbeitsplätzen, dienen sie dem Gemeinwohl? Ach nein!

Nur durch einen Zufall wurde beispielsweise bekannt, daß der ALDI-Chef Albrecht einen Kunsthändler beauftragte, ihm für 60 Millionen Euro Kunstwerke von Picasso und anderen berühmten Künstlern zu besorgen. Hätte dieser Kunsthändler (Helge Achenbach ist sein Name) seinen Auftraggeber nicht um 20 Millionen Euro betrogen, wäre der Deal nicht bekannt geworden. Albrechts Millionen waren doch kein Betriebsvermögen, sondern natürlich von den Betriebseinnahmen abgezweigtes Privatvermögen, denn was soll ein Lebensmittelhandel mit Gemälden von Picasso!

Die stereotype Behauptung der Unternehmer, keine höheren Löhne zahlen zu können, weil man dann auf dem Markt nicht mehr wettbewerbsfähig sei, so daß dann Betriebe eingestellt und Personal entlassen werden müsse, ist eine reine Schutzbehauptung und wohl gar eine dreiste Lüge angesichts der Millionen und aber Millionen (bei Großkonzernen gar Milliarden) Euro, die, wie das Beispiel Albrecht zeigt, an der Spitze verzockt werden.

Natürlich - so kann man sagen - ist in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft nichts anderes zu erwarten. Toll an der Sache ist nur, daß die von uns Gewählten in der gesetzgebenden Versammlung nicht aufbegehren, obwohl die Verfassung (GG, § 14) durchaus die Möglichkeit bieten würde, das Übel zu beseitigen, das heißt die obengenannten Ausbeutungsformen durch Gesetze zu verbieten! Da aber gerade dies nicht geschieht, ist die Ausbeutung legal (denn was nicht verboten ist, ist erlaubt), und die Ausbeuter kommen ungeschoren davon - und das nicht etwa, weil die Regierenden sich täuschen ließen und die Zusammenhänge nicht durchschauen könnten und allenfalls fahrlässig handelten (auch Unterlassung ist ein Handeln). Nein, nein, die Gesetzgeber wissen, was sie tun. Offenen Auges und wider besseres Wissen begünstigen sie systematisch die besitzende Klasse zum Nachteil der Lohnabhängigen, und das in einem Land, in dem es sich angeblich "gut und gerne leben läßt", in dem aber die Rentner verarmen, Pflegebedürftige oft nur unzureichend versorgt werden, die Zahl der Obdachlosen steigt, die Kinderarmut wächst und Tausende hungernder Menschen auf die Speisung an Tafeln angewiesen sind!

Nein, nicht mit Blindheit sind die Regierenden geschlagen, sondern mit Gefühllosigkeit, Starrsinn und Trägheit! Und selbst da, wo die Not zum Himmel schreit, sehen sie "keinen Handlungsbedarf".

Was sich dagegen tun läßt? Diese Regierung muß bei nächster Gelegenheit abgewählt, und Ausbeutung muß verboten werden!

Theodor Weißenborn

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März 1949: Goethefeier der FDJ in Weimar

Am 21. und 22. März 1949 bevölkern junge Menschen zu Hunderten die Klassikerstadt in Thüringen. Aus allen vier Besatzungszonen kamen sie, eingeladen vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Auch ausländische Delegationen waren angereist. Sie alle wollten einen der großen Männer der klassischen deutschen Literatur, Johann Wolfgang von Goethe, zu dessen 200. Geburtstag am 28. August ehren und sich mit seinem Werk vertraut machen. Erich Honecker, der Vorsitzende der FDJ, eröffnete die Feierlichkeiten. "Es ist kein Zufall, wenn das Goethejahr mit einer Kundgebung der Jugend eröffnet wird", sagte er in seiner Begrüßungsansprache. "Die Freie Deutsche Jugend übernimmt heute die Aufgabe, das Erbe des großen Humanisten, seine Gedanken der Völkerverständigung in die Tat umzusetzen. Wir richten aber auch in diesem Augenblick an die Jugend ganz Deutschlands den Ruf, gegen Spalter und Kriegshetzer zu kämpfen und so dem Andenken Goethes gerecht zu werden."

Den ersten Festvortrag hielt Professor Hans Mayer von der Universität Leipzig im Nationaltheater. Er würdigte den Dichter als bedeutenden Repräsentanten des fortschrittlichen Bürgertums, der in seinem Wirken und als menschliches Vorbild nicht nur seiner Epoche voraus war, sondern darüber hinaus bis in die Gegenwart reiche. Goethe, so fuhr er fort, stritt für einen weltweiten Humanismus. "Das Goethebild unserer Zeit muß entfernt von irgendeinem Denkmalskult sein, denn die neue und wahrhafte Erziehung der Jugend ... führt über den Menschen Goethe. Eine neue Generation ist aufgerufen, sein Erbe richtig zu verwalten."

Der erste Tag der Goethefeier klang aus mit einer Aufführung des "Torquato Tasso", das Drama Goethes, das die Auflehnung des Menschen gegen gesellschaftliche Fesseln und Regeln darstellt, die das Schöpferische in der menschlichen Persönlichkeit hemmen.

Der zweite Tag begann mit Lesungen aus Goethes Werken, veranstaltet vom Theaterinstitut Weimar. Die Mädchen und Jungen hörten nicht einfach zu, sondern sprachen über das Vorgetragene und verbanden die Worte des Dichters mit den Erfahrungen ihres eigenen Lebens, mit den Problemen und Aufgaben ihrer Gegenwart. Denn sie alle standen noch unter dem Eindruck der gerade hinter ihnen liegenden furchtbaren Jahre des vom deutschen Faschismus begonnenen Weltkriegs und der von den Machthabern der Westzonen drohenden Spaltung Deutschlands.

Nach dieser literarisch-politischen Veranstaltung begaben sich die Teilnehmer zum Friedhof und legten in der Fürstengruft Kränze an den Sarkophagen Goethes und Schillers nieder.

Abschluß und zugleich Höhepunkt der Feierlichkeiten war die Rede Otto Grotewohls in der überfüllten Weimarhalle. Während Professor Mayer die Persönlichkeit Goethes vor allem in literarischer Hinsicht in den Mittelpunkt stellte, rückte der Vorsitzende der SED den Dichter und sein großes Werk in die Gegenwart, verband es mit den Aufgaben, die vor dem deutschen Volk, insbesondere vor der jungen Generation, standen. Schon Johann Wolfgang von Goethe, so Grotewohl, hatte beklagt, daß Deutschland zu seiner Zeit durch die "höheren Klassen" zerrissen und gespalten war, ein Tatbestand, der sich nunmehr erneut zeige. Schuld daran und Verantwortung dafür trage der Kapitalismus, denn "die Anhäufung gigantischer Produktivkräfte in den Händen weniger ­... hat zu einer fortschreitenden Entpersönlichung aller menschlichen Beziehungen ... zur Unterwerfung der Gesellschaft unter ihre Herrschaft geführt", sagte der Redner. Und er fragte: "Haben wir nicht erleben müssen, daß sie zweimal in 30 Jahren die ganze Welt in ein Meer von Blut und Tränen stürzten, nur um ihren Besitz ins Grenzenlose zu erweitern? Daß Millionen Menschen gezwungen wurden ... ihr Leben zu opfern, um diese persönlichkeitsmordende Welt zu verteidigen, der der Besitz alles, der Mensch aber nichts ist? Diesem Götzen wurde die Freiheit des Volkes, die Ehre der Nation, der Schatz unserer Kultur, das Herz unserer Mütter und eine ganze blühende Jugend geopfert. Die alte, zur Bestialität entartete Welt hat die große menschliche Tradition Goethes bedenkenlos über Bord geworfen, weil sie dem unmenschlichen Machtanspruch ihres Besitzes entgegensteht. Was sie verteidigt, ist nicht die Kultur, sondern der Besitz."

Deshalb vermittelte Otto Grotewohl seinen Zuhörern Goethes tiefe Lebensweisheit:

Geh, gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger sein:
Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein;
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.

Dann fuhr er fort: "Du, deutsche Jugend, mußt steigen oder sinken. Du mußt herrschen über die dunklen Kräfte, die dich in der Vergangenheit mißbraucht und von Katastrophe zu Katastrophe geführt haben. Du mußt gewinnen deine Freiheit, deine Zukunft, deine Unabhängigkeit und deinen Frieden. Wenn du, deutsche Jugend, dich nicht aufraffst zur friedlichen Erneuerung des Lebens, dann mußt du denen dienen, die in der Vergangenheit deine Väter mißleitet haben ... Einen Mittelweg gibt es nicht. Du darfst nicht Amboß, sondern du mußt Hammer sein."

Otto Grotewohl fügte Goethes Mahnung hinzu: "Das ist der Weisheit letzter Schluß, nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß." Doch das kann der einzelne Mensch nicht allein schaffen, dazu ist seine Kraft zu gering, und so gab der erfahrene Arbeiterfunktionär seinen jungen Freunden den Rat: "Wachse über dich selbst hinaus, indem du in die menschliche Gesellschaft hineinwächst ... Werde ein nützliches Glied der Gesellschaft, vervielfältige deine Kraft mit den Kräften deiner Mitmenschen", und er zitierte noch einmal den großen Dichter: "Wem um die Sache zu tun ist, der muß Partei zu nehmen wissen, sonst verdient er, nirgends zu wirken."

Günter Freyer
Berlin

*

Trotz alledem!

Wie oft bin ich schon diese Strecke gegangen! Wie oft eilte ich schon - vom Ostbahnhof kommend - durch die Berliner Karl-Marx-Allee vorbei an dem Hauseingangstor, an dem mit großer Schrift zu lesen ist, daß 1951 Otto Grotewohl den Grundstein für dieses Gebäude legte! Wie oft schon stand ich wartend an der Straße beim U-Bahnhof Frankfurter Tor, wo sich in buntem Getümmel so viele Menschen sammelten! Der zweite Sonntag in jedem Januar ist fest in meinem Terminplan verankert. Daran kann auch Petrus nichts ändern. Da war es schon bitterkalt, manchmal schneematschig, oft schien strahlend die Sonne zwischen den Häusern, die zum Jahresende 2018 wegen raffgieriger Immobilienspekulanten in die Schlagzeilen gerieten. Große rote Fahnen an den oberen Stockwerken hatten uns diesmal schon von weitem begrüßt. Da zerrte häufig ein strammer Wind an Transparenten und Fahnen. Und an diesem 13. Januar begann es gerade zum Start der Demonstration leicht zu regnen. Das blieb leider so, bis wir am Nachmittag wieder zu Hause waren.

Es schien also alles wie sonst. Lang aufgereiht standen wieder die Polizisten auf dem Bürgersteig und begleiteten dann den Zug. Sie hatten nichts zu tun, denn die da auf der Straße gingen, so unterschiedlich sie auch waren im Äußeren, auch von der Herkunft, vom Alter und der Religion, waren sich doch so einig: Wir wollen Sicherheit und Frieden hier in Deutschland und überall auf unserer schönen Erde!

Wie viele linksgerichtete Gruppen, Parteien, Organisationen es doch gibt - toll! Wieviel könnte ausgerichtet werden im Kampf gegen die Reaktion, wenn sie nicht nur hier auf der Straße Trennendes beiseite schieben, Einigendes in den Vordergrund stellen und wirklich geschlossen als eine Kraft gegen den Kapitalismus/Imperialismus auftreten würden!

Aus Lautsprechern von LKWs und aus transportablen Verstärkern erscholl wie jedes Jahr: "Hoch die internationale Solidarität!", von Tausenden zu gewaltigem Sprechchor vereinigt. Und es erklang wieder das Lied von 1918: "Auf, auf zum Kampf! ... Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand."

Es war beeindruckend, mit wieviel Zuversicht und Kampfesmut die Demonstrationsteilnehmer die verschiedenartigsten Fahnen und Transparente in den trüben Himmel streckten. Da zogen überwiegend jüngere und ganz junge Menschen an uns vorbei: "Mit Rosa, Karl und Wladimir - für unsere Zukunft kämpfen wir!" Die Losungen wurden in so vielen Sprachen gerufen und immer wieder auch von den sehr zahlreichen Zuschauern am Straßenrand aufgenommen. Wie die mitgeführten Schilder zur Kenntnis gaben, waren viele von weither angereist. Mehrere hatten schon am Vortag auf der XXIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der "jungen Welt" unter dem Motto "Sozialismus oder Barbarei" ihren Willen bekundet, auch 100 Jahre später zu kämpfen wie Karl und Rosa.

Dann sah ich zwischen den vielen Bannern zwei Fahnen mit den Zeichen der Arbeit - Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Mein Herz hüpfte. Auch hier war sie nicht vergessen - unsere DDR! Schließlich tauchte ein Demonstrationsblock auf, über dem mindestens vier DDR-Fahnen wehten, und dann erscholl aus dieser Gruppe als gewaltiger Sprechchor: "Die DDR war unser Staat!" - wieder und immer wieder. Das verbreitete so viel Hoffnung, denn es waren überwiegend jüngere Menschen, die sich zu den Leistungen des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates bekannten.

Der Demonstrationszug schien kein Ende zu nehmen. Zu diesem 100. Jahrestag der Ermordung unserer Vorbilder Karl und Rosa trotzten so viele Tausende nicht nur dem miesen Wetter, sondern vor allem den herrschenden Verhältnissen wie schon viele Jahre nicht mehr. Als wir die Demonstrierenden überholten, hörten wir es wieder: "Die DDR war unser Staat!"

Anders als in den vorigen Jahren war, daß nun gegen 12 Uhr immer noch das Gräberrondell von Menschen überfüllt war, obwohl die Mehrzahl der Demonstranten sich noch auf der Straße befand. Weil ich die DDR auch heute noch 70 Jahre nach ihrer Gründung und 30 Jahre nach ihrer Auslöschung durch die Konterrevolution als meinen Staat ansehe, ist es mir auch jedes Jahr ein besonderes Bedürfnis, meine Nelke bei "meinem" Wilhelm niederzulegen, dem Mitbegründer und Repräsentanten des Staates, dem ich in meinem Leben so viel zu verdanken habe.

Wenn ich mich zu seinem Grab dränge, habe ich immer seine warmherzige Stimme im Ohr: "Meine lieben Landsleute in Ost und West unserer deutschen Heimat ...", Worte, mit denen er jeweils seine Neujahrsansprache begann. Und ich habe wieder den sonnenhellen, warmen Sommertag vor Augen: Wir waren erst vor wenigen Tagen, am 18. August 1960, in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem von Lehrlingen errichteten Neubaublock gezogen. Da klingelte einer unserer neuen Nachbarn bei uns: "Häng die DDR-Fahne raus, und mach ein schwarzes Band dran! Unser Wilhelm lebt nicht mehr." Es war der 7. September 1960. Meine Trauer war tief. Ich empfand es als schlimm, daß vor dem hellen Putz unseres neuen Hauses zum ersten Mal Fahnen flatterten, die alle den schwarzen Flor trugen.

Wilhelm Pieck, seit dem 11. Oktober 1949 erster (und einziger) Präsident meines Heimatstaates, war für mich nie nur Staatsmann. Er war für mich immer ein gütiger, herzlicher, väterlicher Freund. Ich war in meinem Leben stets bestrebt, in seinem Sinne zu wirken.

Auf der Rückfahrt, als dann doch die Kälte von der durchnäßten Kleidung bis auf die Haut drang, suchte ich Gründe dafür, daß an diesem 13. Januar so viel mehr Menschen als sonst die Möglichkeit wahrnahmen, miteinander zu zeigen: Wir sind für eine friedliche, soziale, von Ausbeutung freie Welt und bereit, dafür zu kämpfen. Hat die Älteren wie die Jungen Liebknechts "Trotz alledem!" auf die Straße geholt, das Beispiel von vor 100 Jahren, von 1918, von der Novemberrevolution? War es die Voraussicht, daß der 70. Jahrestag der Gründung unserer DDR im Oktober für die Ewiggestrigen ein besonderer Anlaß sein wird, bei uns Erreichtes kleinzureden, erneut in den Dreck zu ziehen, mit Gift zu spritzen? War dieses "Die DDR war unser Staat" ein Aufbäumen gegen die widerrechtliche Vereinnahmung unseres friedlichen Landes durch die Konterrevolutionäre, die sich im Herbst 2019 zum 30. Mal jährt? Schwang auch ein wenig das Wissen um den erfolgreichen Kampf des heldenhaften kubanischen Volkes mit, das im Februar 1959 mit seiner nationaldemokratischen Revolution unter Führung Fidel Castros einheimische und ausländische Monopole und Großgrundbesitzer entmachtete und seitdem trotz Invasion und US-Blockade seine Unabhängigkeit verteidigt? Vielleicht hätte ich nach den Gründen der Teilnahme fragen sollen. Mir jedenfalls gab das Erlebnis der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration Kraft und Zuversicht. Keine Angst, ich bin kein Illusionist - die "Tagesschau" widmete den Zehntausenden am Abend ganze drei Minuten!

Aber: Wer keinen Samen in die Erde bringt, kann keine Blumenbeete erwarten. Wer keine Keimlinge setzt, wird starke Bäume vermissen. Wer sich vereinsamt zurückzieht, muß Erniedrigung ertragen. Jeder, der irgendwie kann, ist verpflichtet, für eine menschenwürdige Zukunft zu kämpfen. Trotz alledem!

Gerlind Jäkel
Potsdam

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Der erste Deutsche im Weltall: Sigmund Jähn

Siegmund Jähn ist Ehrenbürger von Neuhardenberg und Strausberg. In beiden Orten steht sein Name in den goldenen Rathausbüchern.

Am 26. August 2018 waren es genau 40 Jahre, seit Sigmund Jähn gemeinsam mit Valeri Bykowski in der Sojus 31 zur sowjetischen Raumstation Salut 6 flog. Während der 125 Erdumkreisungen führte Jähn zahlreiche Experimente durch. Dazu zählten wissenschaftlich-technische Experimente mit der Jenaer Multispektralkamera MKF6 zur Erdfernerkundung. Nach 7 Tagen, 20 Stunden, 49 Minuten und 4 Sekunden landete er in der kasachischen Steppe.

Wer ist dieser Sigmund Jähn?

Dr. Sigmund Jähn, Generalmajor der NVA, Held der Sowjetunion und der DDR, Fliegerkosmonaut und erster Deutscher im Weltraum, ist auch heute noch, mit über 80 Jahren, ein vielgefragter "Vortragsreisender". Mehrere Male war er auch in der Pro-Curand-Seniorenresidenz in Strausberg zu Gast. Am 21. September 2018 referierte der Fliegerkosmonaut im Gemeindesaal in Hoppegarten zum Thema "Deutsche Beiträge zu Raketenentwicklung und Raumfahrt". Auch zeigt der geborene Vogtländer Lichtbildervorträge über die Raumfahrt von Ziolkowski bis zur Gegenwart. Viele Besucher interessierten sich dabei nicht nur für die Raumfahrt, sondern auch für den außergewöhnlichen Menschen Sigmund Jähn. Für viele Neuhardenberger und Strausberger war und ist dieser Mensch ein treuer Genosse, Vorgesetzter, Freund und Nachbar in einem.

Das änderte sich auch nicht durch seinen Weltraumflug. Allerdings wurde der Kosmonaut an einen neuen Dienstort, nach Strausberg, versetzt, nachdem er viele Jahre im Jagdfliegergeschwader 8 der NVA in Marxwalde gedient hatte. Von 1979 bis 1990 war Sigmund Jähn Chef Kosmische Ausbildung im Kommando LSK/LV in Eggersdorf. In dieser Zeit wurde der aus dem vogtländischen Morgenröte-Rautenkranz stammende Buchdrucker mit der DDR-Bilderbuchkarriere Bürger von Strausberg.

Natürlich spricht Sigmund Jähn perfekt Russisch, denn von 1965 bis 1970 absolvierte er eine sowjetische Militärakademie und von 1977 bis 1978 die Kosmonautenausbildung im Sternenstädtchen der UdSSR. Ausgezeichnet mit hohen Orden fuhr Sigmund Jähn noch immer mit dem Fahrrad zum Dienst, bis sein Vorgesetzter dem bescheidenen Helden ohne Allüren das Radfahren untersagte. Am 2. Oktober 1990 endete sein Dienst in der NVA. Der erste Deutsche im All, damals 53jährig, erhielt einen Beratervertrag der ESA, in deren Auftrag er noch oft im Sternenstädtchen tätig war. In Neuhardenberg war der NVA-Fliegeroffizier und spätere Kosmonaut 18 Jahre lang stationiert.

Von 1960 bis 1978 lebte Jähn in dem Dorf, das damals noch Marxwalde hieß. Mit seinem Flug in den Weltraum machte er sich und Marxwalde berühmt. Die Gemeindevertreter haben ihm das nicht vergessen und 28 Jahre nach seiner historisch bedeutsamen Fernreise einstimmig beschlossen, Dr. Sigmund Jähn zum Ehrenbürger zu erwählen.

Strausberg tat sich da etwas schwerer. Zwar wurde die Ehrenbürgerschaft an ihn bereits 1982 verliehen, aber mit der "Wende" und dem Schließen des Ehrenbuches liquidiert. Nachdem Dr. Jähn über 30 Jahre in Strausberg wohnte und immer noch so populär war, haben die Stadtverordneten beschlossen, dem bescheidenen, bodenständigen und umtriebigen Weltraumfahrer im Juni 2012 erneut die Ehrenbürgerschaft von Strausberg zu verleihen. Unabhängig von diesem eigenartigen und verspäteten Vorgang wird er ohnehin verehrt wie ein Popstar.

Heute erklärt er, es sei "ärgerlich" und eine Entzauberung des wissenschaftlichen Fortschritts, daß die "atemberaubenden Entwicklungen in Wissenschaft und Technik in großem Umfang einem militärischen Zweck dienen". Doch er bringt auch Jahrzehnte nach seinem Weltraumerlebnis als Kosmonaut und Wissenschaftler seine Faszination darüber zum Ausdruck, "wie schön diese Erde doch ist" und appelliert: "Laßt uns dies bewahren, mehren, aber nicht zerstören!"

Wenn auch, wie er sagt, die Zukunft der Menschen in den Sternen liege, bleibe er doch am allerliebsten auf der Erde.

Heinz Pocher
Strausberg

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Seit über zehn Jahren lese ich den "RotFuchs". Er ist mir zum treuen Begleiter und guten Freund geworden, und er gibt mir Halt in diesen unruhigen und teils beängstigenden Zeiten. Dafür meinen Dank!

Ich bin Antifaschistin mit Leib und Seele, und das Erstarken der Rechten in unserem Land und darüber hinaus bereitet mir große Sorge. Im Juni 2018 hat im südthüringischen Themar wieder eine dieser unsäglichen Rechtsrockveranstaltungen stattgefunden. Ich war mit einem Gedicht - aus Wut und Verzweiflung geschrieben - dort, um gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten dagegen anzugehen. Ich habe es noch in verschiedenen Veranstaltungen gelesen, und es wurde und wird immer wieder weitergegeben.

Rita Fulsche
Neubrunn


Ist es nun wieder soweit?

Laute Musik hämmert durchs Tal.
Da drüben stehen sie.
Grölen ihre abscheulichen Lieder.
Schreien sich die Lunge aus dem Hals.
Schmeißen die Arme hoch.
Brüllen sich heißer mit "Heil Hitler!"
Von überall kommen sie her.
Viele sind es. Zu viele.

Manche Leute sagen:
"Laßt sie grölen,
sind junge Leute,
wissen nicht, was sie tun,
das gibt sich wieder",
winken ab
und schauen weg.
Die wissen genau,
was sie tun.
Die meinen es ernst.
Gefährlich sind sie.
Gefährlich für uns alle.

Schon einmal ist weggeschaut worden.
Was daraus wurde, wissen wir.
"Menschen, seid wachsam!"
hat damals einer gewarnt.
Ist es nun wieder soweit?
Noch ist es nicht zu spät.
Aber wir müssen aufpassen,
sehr aufpassen
und aufstehen, aktiv werden
gegen alte und neue Nazis.

Wir alle.

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Otto Grotewohl - ein Kämpfer für Frieden, Demokratie und Sozialismus

Geboren wurde Otto Grotewohl am 11. März 1894 in einer Braunschweiger Arbeiterfamilie. Von 1908 bis 1912 erlernte er den Beruf des Buchdruckers. Als Lehrling schloß er sich bereits 1908 der sozialistischen Jugendbewegung an und wurde bald zum Vorsitzenden der Sozialistischen Arbeiterjugend Braunschweigs gewählt. 1912 trat er der Gewerkschaft und der SPD bei.

Als deren Führung am 4. August 1914 im Reichstag die Kriegskredite bewilligte, mit denen sie ein klares Nein zu den Beschlüssen der Sozialistischen Internationale, zum proletarischen Internationalismus und zum Marxismus verband, wandte er sich in einem Rundschreiben an die Sozialdemokraten, die Mitarbeit in der staatlichen Jugendwehr abzulehnen. Dafür erhielt er die Quittung: die Einberufung zur Infanterie an die Ostfront. In den Kämpfen um Galizien erlitt er 1916 und 1917 mehrere schwere Verwundungen.

Am 22. Dezember 1918 kehrte er von der Westfront nach Braunschweig zurück. Hier fand er eine revolutionäre Stimmung vor. Nach dem Generalstreik der Arbeiter und dem erzwungenen Rücktritt des Herzogs Ernst August hatte der Arbeiter- und Soldatenrat die politische Leitung des Landes übernommen. Aus dem Herzogtum wurde eine Republik. Wegen der Politik des Rates der Volksbeauftragten und des Versagens der SPD-Führung während der Novemberrevolution trat Otto Grotewohl aus der SPD aus und in die USPD ein. In der USPD hoffte er mehr für die Arbeiter erreichen zu können. Einen Eintritt in die zum Jahreswechsel 1918/1919 gegründete KPD hielt er nicht für zweckmäßig, da er in ihr eine weitere Zersplitterung der Arbeiterbewegung sah.

Mit den Wahlen der Weimarer Republik wurde Otto Grotewohl Abgeordneter des Braunschweiger Landtags und mehrmals Minister, so für Volksbildung, Inneres und Justiz. Von 1925 bis 1933 war er Reichstagsabgeordneter. Die Beschränkung der SPD auf die parlamentarischen Mittel des Kampfes gegen den aufkommenden Faschismus erwies sich als wenig wirksam. Die Partei setzte auf die Stimmzettel bei Wahlen und wollte ihre Politik obendrein von der Einhaltung der parlamentarischen Spielregeln durch die Faschisten abhängig machen.

Nach der "Machtergreifung" warfen die Faschisten Otto Grotewohl aus seinem Amt als Präsident der Versicherungsanstalt Braunschweig und zwangen ihn, die Stadt zu verlassen. Er arbeitete zunächst in Hamburg als Kaufmann, danach in Berlin. In beiden Städten beteiligte er sich am antifaschistischen Widerstand der Gruppe Heibako.

Die Gestapo verhaftete ihn mehrmals. Vom 16. August 1938 bis zum 4. März 1939 stand er wegen "Hochverrats" vor dem Volksgerichtshof. Nach dem Attentat Georg Elsers auf Hitler am 8. November 1939 mußte er für acht Wochen in Untersuchungshaft. Trotzdem blieb Otto Grotewohl weiterhin in Berlin und erlebte hier die Befreiung durch die Rote Armee.

Mit dem Sieg der Antihitlerkoalition und der Niederlage des deutschen Faschismus entstanden Bedingungen, die für das Leben des deutschen Volkes und das Streben seiner fortschrittlichen Kräfte nach einem friedliebenden und demokratischen Deutschland günstig waren.

In den vier Besatzungszonen bestimmten die jeweiligen Alliierten die Richtung der Entwicklung. Mit dem Befehl Nr. 2 der SMAD vom 10. Juni 1945 erhielt die Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone demokratische Rechte zur Bildung und Tätigkeit antifaschistischer Parteien sowie die Berechtigung, ihre Interessen in politischen Organisationen, Gewerkschaften und Selbstverwaltungen zu vertreten.

Die Gruppe deutscher Kommunisten unter Leitung Walter Ulbrichts traf noch während der Kämpfe am 30. April 1945 in Berlin ein. Mit dem Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 sowie dem Appell der SPD vom 15. Juni 1945 hoben beide Arbeiterparteien die Gemeinsamkeiten ihrer Interessen hervor und beschlossen ein Aktionsprogramm für ihre Zusammenarbeit. Dabei betonten sie, daß Faschismus und Krieg nie wieder zugelassen werden dürfen. Das Zusammenwirken beider Parteien begann mit dem gemeinsamen Wiederaufbau der zerstörten Lebensbedingungen.

Nach notwendigen Beratungen und gemeinsamen politischen Aktionen beschlossen die Parteitage von KPD und SPD, den Vereinigungsparteitag am 21. und 22. April 1946 in Berlin durchzuführen. Die neu gegründete Partei gab sich den Namen Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Zu gleichberechtigten Vorsitzenden wurden Wilhelm Pieck (KPD) und Otto Grotewohl (SPD) gewählt. Der Händedruck beider Persönlichkeiten symbolisiert die im Klassenkampf gewonnene Einheit. Anläßlich Grotewohls 65. Geburtstags würdigte Wilhelm Pieck seinen Kampfgefährten mit folgenden Worten:

"Es gibt nur wenige, die mit dem gleichen Recht wie Du, lieber Otto, in Anspruch nehmen dürfen, zu den hervorragendsten Wegbereitern und Schöpfern des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates zu zählen."

Im November 1960 erkrankte Otto Grotewohl; er starb am 21. September 1964.

Der Verpflichtung, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um im Ringen mit dem Kapitalismus den Sozialismus herbeizuführen, blieb Otto Grotewohl bis zum Lebensende treu. Sein Vermächtnis wurde von vielen Menschen aufgenommen, die gegen den Krieg, für den Frieden und für eine menschlichere Gesellschaft kämpfen.

Dr. Ehrenfried Pößneck
Dresden

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Die DDR im Zerrspiegel des Herrn Behling

Der Buchhandel bot kürzlich einen Wälzer von 848 Seiten über das "Leben in der DDR" des zeitweiligen Nachwende-"Spiegel"-Journalisten, ehemaligen DDR-Diplomaten und nunmehr pensionierten DDR-Alles- und Besserwissers Klaus Behling als Bestseller an. Dieses Mammutwerk sollte angeblich alles berichten und erklären, was "man" über die DDR "wissen muß". Als Bürger dieses Staates glaubte ich zwar zumindest vieles über mein Land schon zu wissen, da ich eine ganze Menge Wunderbares und auch Ärgerliches in ihm und mit ihm bewußt selbst erlebt hatte. Aber ich konnte ja das eine oder andere übersehen haben. Und so erwarb ich in der Vorweihnachtszeit das angepriesene Werk. Nun wußte ich zwar, daß von Herrn Behling bisher nicht viel DDR-Anerkennung in die bundesdeutsche Öffentlichkeit gelangt war. Ich hatte aber dennoch die stille Hoffnung, einem Familienmitglied oder guten Freund damit eine Freude machen zu können. Bevor ich aber Geschenke verteile, prüfe ich sie zumeist, ob sie sich als Freude spendende Überraschung eignen. Und so las ich, was der Autor über die DDR zu berichten wußte. Meine Enttäuschung und mein Entsetzen waren groß.

Seine dicke Schwarte ist von Beginn an eine grobe Miesmache der DDR und ihrer weltweit anerkannten und geschätzten sozialen, wirtschaftlichen, Bildungs-, Kunst- und Sport-Leistungen, eine plumpe Diffamierung aller DDR-Bürger, die sich mit ihrer persönlichen Lebenserfahrung, politischen Überzeugung und ihrer Solidarität für eine Welt des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit engagiert haben. Ich mußte übelste Nachreden über ehrliche und ehrwürdige Repräsentanten der DDR und spekulative Interpretationen von Regierungs- und Parteibeschlüssen zur Kenntnis nehmen. Mit subjektiver Arroganz, primitivem Humor, mit Häme und Spott, historischen Verzerrungen, Halb- und Unwahrheiten hat Herr Behling einen DDR-Verriß gemixt. Dementgegen lobhudelt er die BRD als Wirtschaftswunderland und verharmlost deren DDR-feindliche Politik- und Wirtschaftspraxis von 1949 bis 1990, auch wenn er ihr selbst gelegentlich ein paar harmlose Seitenhiebe verpaßt.

Überwindet der Autor da und dort seine abwertende Betrachtungsweise und schreibt einmal etwas Positives über das Leben in der DDR, negiert er es am Ende des entsprechenden Abschnittes umgehend. Oder er beginnt gleich mit einer Verwerfung, um den Leser zu manipulieren und ihm deutlich zu machen: Das Folgende ist nicht wichtig, nicht bedeutsam, nur eine Nebensache. Es dominiert die erkennbare Absicht, die DDR in Treuhandmanier noch einmal plattwalzen zu wollen: Da werden z. B. Wohnungsbau und Bildungsprogramm schon unter "vorgehaltener Hand" zunächst als etwas Notwendiges und Erfolgreiches anerkennend beschrieben, um dann gleich wieder zu relativieren. Alles sei nur politische Makulatur, nichts Seriöses, Eigenständiges, nur Plakatives, dem Westen Nachgemachtes oder gar durch Moskau Initiiertes, Befohlenes und Erzwungenes.

Das Wachsen von neuen Stadtteilen in Großstädten und ganzen Städten, wie zum Beispiel Berlin-Marzahn, Halle-Neustadt und Eisenhüttenstadt konnte Herr Behling trotz allem nicht übersehen. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Lösung der Wohnungsfrage anzuerkennen. Aber irgend etwas mußte wieder herhalten, um Anerkennung und Respekt zu minimieren. Da kam ihm zu Hilfe, daß die im Plattenbau errichteten neuen Wohngebiete da und dort Qualitätsmängel aufwiesen und die Bewohner zunächst oft nur über "Stock und Stein" ihre Häuser betreten konnten.

Wirtschaftliche "Highlights" wie die Entwicklung der Stahl- und Eisenhüttenindustrie, des Maschinenbaus, der Ausbau einer erfolgreichen Handelsschiffahrt und des Rostocker Hafens, einer revolutionierenden Entwicklung der Chemieproduktion in den Bitterfelder und Buna-Werken sind in Behlings DDR-Historie großzügig bedacht. Doch bringt er sie schnell in die "roten Zahlen" seiner persönlichen Abrechnung mit der DDR. Notgedrungen war alles umweltschädlich, unproduktiv und schludrig dazu.

Auch die schweren Nachkriegsjahre im Osten halten den Autor nicht zurück, hämisch auf das Leben in der DDR zurückzublicken. Die anfangs notwendige Rationierung von Nahrung und Heizung durch Lebensmittel- und Kohlenkarten beschreibt er zwar als eine historische Konsequenz der Kriegsfolgen und ihre Beendigung in der DDR als einen Fortschritt. Doch alles wird sogleich wieder relativiert mit dem Hinweis, in der BRD sei die Rationierung der Lebensnotwendigkeiten Essen und Heizen schon wesentlich früher beendet worden.

Der Autor bedauert überdies immer noch die armen Großgrundbesitzer wegen ihrer Enteignung durch die sowjetische Besatzungsmacht und bejammert das Schicksal ihrer protzigen Herrenhäuser, weil sie unter anderem als Heime für elternlose Kinder, Wohnräume für Umsiedler und Landarbeiter, als Bildungseinrichtungen, Pflegeheime und Krankenhäuser genutzt oder da und dort auch abgerissen wurden, wobei ihr Material für den Bau von Neubauernhäusern Verwendung fand. Möglicherweise waren auch einige völlig ungenutzt geblieben und verfallen, weil Gelder für die Restaurierung von bedeutsamerem Kulturgut ausgegeben wurde.

Und dann die Bodenreform! Wie konnte man nur die Bewirtschaftung fruchtbarer Erde und die Aufzucht von tierischen Nahrungslieferanten für die Bevölkerung den Mittel- und Kleinbauern oder gar den von den Großgrundbesitzern ausgebeuteten Landarbeitern überlassen, die doch meist keine oder wenig Ahnung von landwirtschaftlicher Produktion hatten? Selbst wenn sie dann in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften teils freiwillig, später nach Behlings Ansicht "hineingetrieben" wurden, war ihr regelmäßiger und ständig wachsender Lohn, ihre Erholung durch genossenschaftlich und darüber hinaus gesetzlich gesicherten Urlaub, ihre geförderte berufliche Qualifizierung, ja ihr Status als gleichgestellte Mitglieder der Gesellschaft nach Auffassung von Herrn Behling kein Argument für die Landwirtschaftspolitik der DDR.

So mancher ostdeutsche Einzelbauer erinnert sich heute gern und wehmütig an seine LPG-Zeit. Der eine oder andere sehnt sie sogar zurück. Selbst Bauern in Bayern beneiden ihre Berufskollegen in der DDR, denn sie haben mit staatlicher Importpolitik für landwirtschaftliche Produkte, mit von der landwirtschaftlichen Verarbeitungsindustrie an die Bauern gezahlten Dumpingpreisen, mit wachsenden Unsicherheiten in der Tierproduktion, mit Problemen für die soziale Absicherung ihrer eigenen Person und vakanten bäuerlichen Perspektiven zu tun.

Der Autor scheut sich nicht, Herrn de Maiziere zuzustimmen, daß alles Ersparte nur Null-Vermögen der DDR-Bürger gewesen sei, weil es vom Staat genutzt wurde. Er übersah, daß alles an die Sparer zurückkam - als Subvention für Mieten, Nahrungsmittel und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, als Möglichkeit, für Haushaltgegenstände wie Möbel, Elektrogeräte und sogar Wohnungsbauten zinslose Kredite in Anspruch zu nehmen, als Familienförderung und nicht zuletzt als kostenlose Gesundheitsfür- und vor allem -vorsorge.

Die Liste der Ungeheuerlichkeiten ließe sich fortsetzen. Ich rate vom Lesen dieses Machwerks ab und empfehle statt dessen einen Besuch des "DDR-Museums" im sächsischen Pirna, wo liebevoll, ohne Spott und Häme, ohne das abwertende Aber, mit Sachlichkeit und Sachkunde eine Mini-DDR auf circa 2000 Quadratmeter ausgestellt wird. Wer von dort zurückkommt, wird sagen können: Vollkommen war sie nicht, die DDR, im Sinn von Marx, Engels und Lenin. Aber sie war auf einem zwar holprigen, von Steinschlag gefährdeten, durch weltpolitischen Nebel sichtbehinderten dennoch richtigen Zukunftsweg.

Manfred Wild
Berlin

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Ein Palast, in dem Gäste willkommen waren

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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"Wir nehmen es ganz ernst mit Literatur und Kunst"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Glauben oder Wissen?

Am Morgen fragt mich der Sohn: "Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen?" "Das ist gar nicht so einfach, Paul. Es sind zwei verschiedene Dinge. Wenn ich etwas weiß, läßt sich beweisen, daß es richtig ist - wenn ich etwas glaube, muß es nicht stimmen, die Meinungen dazu können unterschiedlich sein. Das schadet auch nicht. Falsch ist es aber, zu behaupten, nur die eigene Ansicht sei richtig. Wer dann auch noch stur darauf beharrt, nicht bereit ist, seinen Standpunkt zu überprüfen, setzt sich ins Unrecht. Von sich selbst überzeugt und unduldsam gegen andere, kann so ein Mensch gefährlich werden. Wenn er seine Ideen dann auch noch rücksichtslos durchzusetzen versucht, wird er zum Fanatiker." "Was ist ein Fanatiker?", will Paul wissen. "Ein von einer Idee, Vorstellung oder Überzeugung Besessener." Das kommt in vielen Lebensbereichen vor, es reicht von der Frage, ob Kinder geimpft werden sollen, über vegetarische Ernährungsformen, militante Formen von Tierschutz bis zur Frage, wer an den richtigen Gott glaubt.

Welche Auswüchse das nehmen kann, haben schon die christlichen Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen im Mittelalter, die grausame Verfolgung der Juden und die Selbstmordattentate der Gegenwart gezeigt. Im Namen einer Religion wurden ganze Völker aufeinandergehetzt. Bis heute haben die Menschen aus der Geschichte wenig gelernt."

Paul schweigt nachdenklich, dann fragt er: "Woran glaubst Du?"

"Da muß ich ein bißchen ausholen", antworte ich, nehme ein altes Fotoalbum aus dem Schrank und zeige ein vergilbtes Bild von mir mit langen Zöpfen, dunklem Kleid, Kreuzchen am Hals und Gesangbuch in der Hand. "Das ist von meiner Konfirmation. Ich war vierzehn Jahre alt. Vor der feierlichen Aufnahme der Jugendlichen in die evangelische Kirche wurden wir dazu unterrichtet." "In der Schule?", staunt Paul. "Nicht in der Schule, in der Kirche während der Christenlehre und im Konfirmationsunterricht. Da hörten wir: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Nach einer Woche hatte er alles fertig, Erde, Wasser, Tiere und Pflanzen, zuletzt der erste Mensch Adam und seine Frau Eva. Das fand ich unwahrscheinlich und in einer Woche nicht zu schaffen ...

In der Schule lernten wir es anders, wissenschaftlicher: Das Leben auf der Erde ist vor Millionen von Jahren ganz allmählich im Wasser entstanden, winzige Lebewesen breiteten sich aus, veränderten sich, Algen, Quallen, Würmer, Schnecken entwickelten sich, später Fische, Frösche, dann Echsen, die krochen auf das Land, Vögel eroberten die Luft. Zuletzt sind die Säugetiere entstanden. Die Vorfahren der Affen kamen von den Bäumen herab, lernten aufrecht zu gehen und die Hände für das Fertigen von Werkzeugen zu benutzen. Mit der Zeit haben sich aus ihnen die Menschen entwickelt. Die lernten bei der Arbeit. Jetzt können sie denken, jedenfalls die meisten."

Paul staunt und sagt: "Dann können Schimpansen heute auch noch Menschen werden?" "Nein, die Bedingungen sind jetzt ganz anders auf der Erde, und wir haben sie schon als unseren Lebensraum eingenommen. Außerdem erleben wir ja gerade, wie sehr sich manche Leute gegen Fremde wehren. Sie würden das nicht zulassen."

Während meiner Schulzeit war ich zu schüchtern, meine Biologielehrerin zu fragen, wie das nun tatsächlich war mit der Erschaffung der Welt. Da sie sonntags zur Kirche ging, war ich mißtrauisch geworden. Ich konnte auch nicht glauben, daß wir eines Tages in den Himmel kämen.

Meine Besuche in der Kirche beschränkten sich bald nur noch auf Heiligabend, weil das so üblich und besonders feierlich war. Als ich in eine andere Stadt zum Studium kam und noch mehr von der Entwicklung der Erde und ihren Bewohnern lernte, trat ich, ohne meine Eltern zu fragen, aus der Kirche aus.

"Eins verstehe ich nicht", sagt Paul: "Du bist doch auf der Oberschule gewesen und hast studiert? Es heißt doch jetzt, die Kinder, die in der DDR zur Kirche gingen, hatten Schwierigkeiten, wurden nicht zum Studium zugelassen."

"Das stimmt so nicht, ist übertrieben, wie Du an unserer Bundeskanzlerin sehen kannst. Sie stammt aus einem Pastorenhaushalt in meinem Land, wurde konfirmiert und hat in Leipzig studiert.

In meiner Erinnerung war das damals eher so: Als der Staat die Jugendweihe für die Vierzehnjährigen einführte, wollten zunächst viele Pastoren die Kinder, die zur Jugendweihe gingen, nicht konfirmieren. Erst später wurde es anders. Es ist nicht gut, immer sofort alles zu glauben, was so gesagt wird oder in der Zeitung geschrieben steht, besser lieber genau hinsehen und sich selbst überzeugen."

Paul überlegt, dann erklärt er: "Ja, also dann ist Dein Bild mit dem Kreuz auch kein richtiger Beweis, vielleicht bist Du gar nicht konfirmiert worden, so ein Foto kann man leicht anfertigen!" Ich lobe ihn: "Richtig so, prüfe nach, dann kommt die Wahrheit heraus."

"Ja, aber wie, wo soll man nachfragen?" "Vielleicht kann mein altes Gesangbuch helfen." Ich hole das Buch aus dem Regal und schlage es auf. Da steht in der Handschrift meines Vaters: "Unserer lieben Edda zur Konfirmation, Palmsonntag 1954."

"Wann bist du geboren?", fragt Paul. "1939!" "Das kommt hin!", sagt er. Als ich auch noch die Konfirmationsurkunde hervorkrame, abgestempelt mit dem runden Siegel der Lutherkirche zu Rostock, strahlt er: "Das ist der Beweis, nun wissen wir es."

Edda Winkel

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Ich nahm 1954 als Hausfrau am II. Nationalkongreß teil

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.

Carmelo González-Iglesias (1920-1990)
Graphiker, Direktor der Kunsthochschule Havanna, Kuba

In meinem Vaterland, das viele Kilometer von der DDR entfernt liegt, verfolgt man mit Bewunderung, Liebe und Achtung den Fortschritt auf allen Gebieten der DDR, des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates. Es ist ein aufstrebendes und schönes Land, mit dem ich mich durch viele angenehme Erinnerungen, empfangene Ehrungen und die außerordentliche Anziehungskraft, die seine rei chen Schöpfungen auf dem Gebiet der bildenden Künste auf mich ausüben, verbunden fühle.

Die DDR ist ein Land mit starkem Drang nach kultureller Betätigung. Hier finden die materiellen und geistigen Veränderungen der Gesellschaft ihren Niederschlag im künstlerischen Schaffen. In der sozialistischen Gesellschaft darf man das Kunstwerk nicht losgelöst vom Leben sehen, denn hier bilden das politische Engagement und die schöpferische Freiheit eine unteilbare Einheit.

Aus den Ruinen des Faschismus erhebt sich heute ein völlig erstarktes Land mit einer wiedererwachten Kultur, in der sich das ästhetische Experimentieren in seinen verschiedensten Ausdrucksformen auf der Grundlage einer ideologischen Gemeinsamkeit und einer hohen technischen Meisterschaft vollzieht. Es bestehen beste Bedingungen für das künstlerische Schaffen, für seine Lehre auf allen Ebenen, für die Verbreitung und seine Förderung in der Gesellschaft.

Die Künstler der DDR haben jedoch trotz der beeindruckenden Erfolge ihres Landes innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft und des erreichten Wohlstan des niemals aufgehört, ihren Beitrag zum Kampf und zur Zusammenarbeit zu leisten, und werden damit ihrer internationalistischen Verpflichtung gerecht. Die große Mehrheit der bildenden Künstler der DDR trägt durch ihr Schaffen dazu bei, gegen die Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürde anzukämpfen. Auch bei der Bestimmung des Feindes verfügt die Welt der Formen hier über eine sehr klare Sprache. Deshalb wiederhole ich, daß das künstlerische Schaffen in der DDR nicht losgelöst vom Leben, sondern das Leben selbst ist. Es kann als Folge des Lebens betrachtet werden. Ich glaube sagen zu können, daß die bildenden Künstler der DDR nicht nur die Kunst ihres Volkes, die Kunst des Sozialis mus vertreten, sondern als Schöpfer schö ner und nützlicher Dinge würdige Werktätige ihrer Gesellschaft sind, die immer zu denjenigen gehörten, die für die Gemeinschaft arbeiten und wirken. Ich denke zum Beispiel an die ausdrucksstarken und von hohem Engagement zeugenden Werke von Willi Sitte, Gerhard Bondzin, Lea Grundig, Werner Tübke, Bernhard Heisig, Volker Zitzmann, Joachim Jastram oder Karl-Georg Hirsch.

Der DDR ist es gelungen, die Kunst auf die Straße zu tragen, sie im Volk zu ver ankern und sie zu einem Bestandteil des täglichen Lebens der Menschen zu machen.


Prof. HAP Grieshaber (1909-1981)

Maler und Graphiker, BRD

Ich bin über die Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik glücklich, nicht zuletzt deshalb, weil sie mir Gelegenheit gegeben hat zu einem sehr anregenden Zusammenwirken. Immer wieder bei meinen Arbeitsaufenthalten hatte ich Gelegenheit zu offenherzigen Gesprächen, und sehr oft bei diesen Gesprächen habe ich mich eingekreist gefühlt von sehr sachkundigen Fragen. Anlaß dazu bot sowohl meine Arbeit für Verlage der DDR als auch meine Berufung in das internationale Komitee der Biennale der Ostseestaaten in Rostock.

Ja, und eine großartige Gelegenheit, durch meine Arbeiten mit sehr vielen Menschen bekannt zu werden, war un längst die Ausstellung, die von der DDR als eine Art Geburtstagsgeschenk zu meinem siebzigsten veranstaltet wurde. Viele der Holzschnitte, die zu sehen waren, vor allem die aus den letzten Jahren, gehen zurück auf Anregungen, die ich aus Ver lagen der DDR bekommen habe.

Die Ausstellung wurde viele Wochen lang gezeigt, in Berlin, Rostock und Dres den, und in jeder Stadt habe ich gespürt, daß meine Arbeiten ein vorbereitetes Publikum finden. Die offensichtliche Parteinahme für die Sprache meiner Bilder, dieses Wohlwollen und die Zuneigung - das sind Vitamine für mich, ist mein Leben.

Leben heißt für mich arbeiten können. Wenn ich, wie gerade anläßlich dieser Ausstellung, zu spüren bekomme, daß meine Arbeiten nicht ins Bodenlose fallen, fühle ich mich entlohnt für die Kämpfe, die ich mit mir selber auszufechten habe gegen den Zweifel, im Streben nach Voll kommenheit oder womit sonst noch ein Künstler fertig werden muß, um zu sich selber zu finden.

Ich habe also das Glück, Freunde gefunden zu haben auch unter den Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, Freunde, die Kenner sind im Brechtschen Sinne ...


John Randolph (1915-2004)


Schauspieler, Vorstandsmitglied des Verbandes der
Filmschauspielergewerkschaft der
USA

Mein allgemeiner Eindruck von Theater, Oper und Ballett in der DDR ist, daß eine äußerst hohe Qualität zu finden ist - totales Theater im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben in Leipzig, Dresden und Berlin Vorstellungen besucht und waren fasziniert. Besonders angetan hatte uns "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" in der Komischen Oper Berlin und die Inszenierung der "Fledermaus" an der Leipziger Oper. Allerdings hatte ich auch manchmal das Gefühl, daß eine gewisse Frische fehlte, die Akteure er schienen mir beinahe gelangweilt. Das war bei "My Fair Lady" an der Dresdner Operette zu bemerken. Es ist offensichtlich ein, sagen wir mal, sozialistisches Problem. Der Schauspieler bei Ihnen hat eine Lebensstellung, er genießt eine vom Staat garantierte soziale Sicherheit.

In der Theaterhochschule Leipzig hat uns beeindruckt, daß man bereits unter den Schülern der neunten und zehnten Klassen nach Talenten sucht. Was dann an Lehrstoff den Schauspielschülern vermittelt wird, ist so tiefgreifend und vollkommen, daß man in den USA eine solche Bildung wohl kaum außerhalb von Universitäten finden wird. Hervorragend ist die Praxis, wonach die künftigen Schauspieler in den letzten beiden Ausbildungsjahren bereits an Theatern arbeiten. Ebensogut finden wir die Paralleleinstudierungen, die es bei Ihnen gibt, um jungen Talenten rechtzeitig eine Chance zu geben.

Für diejenigen, bei denen es sich während oder nach der Ausbildung her ausstellt, daß ihre Begabung für eine Bühnenlaufbahn nicht ausreicht, hat man in Ihrer Republik theaterverwandte Berufe erschlossen. So war die Ausbildung nicht umsonst. Das ist ein Ergebnis engen Zusammenwirkens der örtlichen Staats organe mit den Gewerkschaften und kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

*

Zeit für Selbstbewußtsein

Die Zeiten haben sich geändert. Auch zu meinen Gunsten. Wenn ich wollte, könnte ich über mein Dasein neu befinden, immer noch. Ich könnte ganz anders leben, als es nach meiner Geburt mein unabwendbares Schicksal schien.

Noch jetzt dürfte ich jede Schule besuchen, deren Unterrichtung mir weitere Entwicklung möglich macht.

Als ich mit fünf Jahren eingeschult wurde, war durch mein Herkommen nur die Volksschule vorgesehen. Die Lehrerin entdeckte, daß ich schon lesen konnte, und wollte mich in die zweite Klasse versetzen lassen. Das hat meine Mutter nicht geduldet. Meine ältere Schwester, lebenslang unlustige Schülerin, durfte nicht benachteiligt werden, und so blieben wir ein Schulleben lang doch immer in derselben Klasse.

Als Kind hatte ich keine Rechte. Eltern waren damals Besitzer ihrer Kinder, die sie nach eigenem Maß behandeln durften. Das war meine, bis heute nachwirkende, bitterste Erfahrung.

Ich war siebzehn, als mir am ersten Hochzeitsmorgen mein junger Gatte erklärte, daß ich ihm ganz und gar und ihm allein gehöre. Wie sein Abitur und sein Studium. Er konnte mir seinen ehelichen Status beweisen. Die Gesetze erlaubten ihm, über meinen Aufenthalt zu bestimmen, etwaige Arbeitsplätze brauchten seine Unterschrift, und betrügen durfte ich ihn auch nicht. Aber ich durfte mich scheiden lassen. Schuldig natürlich.

Mit einem kleinen Kind allein zu leben, zwang mich, meine Lage zu erkennen. Es brauchte Mut für eine eigene Meinung und Entscheidungen, die nicht seit altersher üblich waren. Von Frauen kamen übrigens die strengsten Urteile über meine Scheidung. Nach weiblicher Meinung in der Großfamilie würde ich schon sehen, was ich davon habe.

Da erst bemerkte ich, wie wenig ich vor Gesetz und öffentlicher Meinung wert war.

Vieles hat sich geändert. Da ich nun so frei bin wie ein Mann, bemerke ich auch, wie unfrei viele von ihnen sind, eingeklemmt von der Vorstellung, wie er persönlich eigentlich sein müßte.

Einige Irrtümer später durfte ich mit einem Partner leben, für den die Gleichberechtigung von Mann und Frau selbstverständlich war. Es war Glück, und es war eine ständige Falle. Er bemerkte jeden Rückfall in alte Muster und ließ mich damit nicht durchkommen: daß ich ein halbes Hundert Bücher geschrieben habe, war am Ende weniger aufregend als seine erste Meinung über die lange versteckten handgeschriebenen Verse, die dann zu den Weibergedichten führten. Ich hatte ihn immer an meiner Seite, auch wenn ich unterwegs war zu anderen Frauen und deren Unternehmungen. Auf der Heimfahrt erfuhr ich mehr über auch ungewöhnliche Konflikte, die ihm anvertraut wurden. Mit ihm haben die Frauen oft endlich mal über sich selber geredet. Er hat ihnen niemals sofort Lösungen angeboten, er hörte ihnen ruhig zu. Wenn Vorschlag, dann nach Verständnis.

Die uns Frauen auf langem Lebensweg ebenso wie in der alltäglichen Arbeit abträglichen Gesetze sind verschwunden - oder verändert - und halten sich in ständigem Spruch und Widerspruch. Es scheint, als hätten Frauen die Wahl, sich selber um gleiche Rechte zu bemühen oder deren Fehlen mit eigener Schwäche zu erklären. Uns überfordern, das dürfen wir allemal.

Aber Frauen dürfen sich bewerben. Sie gelangen als Politikerinnen, auch scheinbar unangefochten, in Räume, in denen männliche wie weibliche Ausdenkungen und Vorschläge öffentlich gemacht werden. Das darf jede gewählte Frau ebenso wie jeder gewählte Depp.

Aber: ich höre Zwischentöne, ich spüre Atmosphäre und bin auf der Hut. Sobald eine Frau aufsteht und sich in Richtung Redepult begibt, und gar, wenn sie anfängt zu reden, wächst im Saal die Bereitschaft, sie für eine dumme Kuh zu halten oder, für später, als gefährlich zu notieren. Für die Quote würde ich immer und überall streiten. Unser altes Nie wieder! gesteht mir aber ein Recht auf Beobachtung und Ablehnung zu. Wer sich der Meinung anschließt, daß Hitlers Verbrechen ein Vogelschiß waren, mit dem habe ich nichts zu verhandeln. Aber das alte Wort Nie wieder! warnt uns auch vor Überheblichkeit und Zynismus. Die machen sich gerade neu breit.

Auch erwachsene Männer, auch nützlich im Leben stehende, drängeln sich mit ihrem Ehrgeiz und einige mit ihrer Machtgeilheit vor. Da zeigt sich die unsägliche Forderung eher auf der Vorderbühne und wäre nur von seinesgleichen zu düpieren. Wenn einer Frau durch Glück oder besonders viel Arbeit eine Karriere gelingt, sie aber eines Tages an der Mühsal etwas ändern will, dann wird mit ihr abgerechnet. Ich behaupte: anders als mit jedem politisch interessierten, entweder erfolgreichen oder versagenden Mann.

Ich habe früher gern beim "Eulenspiegel" gearbeitet. Dort bin ich in die Partei eingetreten, mit Renate Holland-Moritz als Bürgin. Wir hatten einen unbestechlichen Chef. Der erlaubte jedem von uns, sich zu irren. Bei Gesprächen mit beleidigten Amtsträgern stand er uns immer zur Seite. Er hat gelacht, als für Louis Rauwolf und mich für eine Mittelseite über den neuen Trabant lebenslängliches Berufsverbot gefordert wurde. Angeblich von Millionen Werktätiger. Damals sagte Peter Nelken: "Wer länger als zwei Jahre auf diesem Stuhl sitzt und immer noch Chef ist, der hat was falsch gemacht." Sprach's und lachte. Die Rächer der Enterbten gingen unverrichteter Dinge.

Früher waren es Männer, in überwältigender Mehrheit, die entweder furchtbaren Plänen zustimmten oder unvergessene Helden wurden durch ihr historisches Nein. Aber wie kommt im Jahr 2019 eine satirische Zeitschrift dazu, die Einzelteile einer Frau, inklusive ihrer weiblichen Mitte, anzubieten? Rares für Bares?

Ich möchte mich öffentlich bei einer Politikerin entschuldigen. Was sie versucht hat, fiel ungeachtet der Unvollkommenheiten ohnehin sofort auf den Widerstand der Besserwisser und Bedenklichen, nicht eben auch Zupackenden. Sie ist an Mehrheiten gescheitert, die auch kein anderer überstimmt hätte. Aber der Versuch verdient Respekt. Er fiel in eine Zeit, in der das Alte noch über fast alle Macht verfügte, und das Neue noch von Gegnern, Klugscheißern, reichsten Widerständlern, all diesen hohnbereiten, vor Ehrgeiz schier platzenden Politikern gefährdet wurde. Sollte ich dem je - wie auch immer! - zugearbeitet haben, bereue ich das. Und wünsche einer überforderten Politikerin, nach langer Überanstrengung und wenig Würdigung, eine gute Zeit. Erst mal durchatmen und der Welt vielleicht einen Vogel zeigen. Oder sich dann den anderen Frauen anschließen. Für die gilt: Weitermachen. Und verständlichen Angeboten als Verlockung zum Verrat der eigenen Interessen widerstehn.

Es gibt inzwischen so viele starke Frauen, die neben ihrem weiblichen Anteil an Arbeit den Blick nicht von der Welt lassen, um sie - und sei es auf langem Weg - zu retten.

Es ist Zeit für Selbstbewußsein, Ernsthaftigkeit, Solidarität und neuen Atem für Nie wieder!

Gisela Steineckert

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LESERBRIEFE

Ex-US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders und Yanis Varoufakis, Ex-Finanzminister Griechenlands, gehören beide zu den Gründern der neu ausgerufenen "Progressiven Internationale". Radikale Umwälzungen, wie sie im 20. Jahrhundert, vornehmlich in Osteuropa, aber auch anderswo, versucht wurden, waren ihnen wohl nicht vertraut. Solche Selbstverständlichkeiten wie das Recht auf Wohnraum, einen Arbeitsplatz, unentgeltliche medizinische Betreuung, Schulbildung, Ausbildung, Studium, Teilhabe an Kultur und Sport, wie sie in der DDR trotz wirtschaftlich schwächerer Konstitution gegeben waren, kennen sie nicht.
Insofern ist der Mut der beiden, sich als Gegenpol ihres eigenen Establishments zu verstehen und entsprechend zu handeln, gar nicht hoch genug zu bewerten. Aber sie sind Gefangene ihres Systems, welches sie meinen, gerechter gestalten zu können, letztlich aber nicht überwinden wollen. Dennoch gehören sie zu den Friedensbewegten und damit zu jenen, die allein schon deswegen zu unterstützen sind.
Wenn aber Sanders Rußland und auch den Iran als Gegner betrachtet und Varoufakis die Bewegung "Aufstehen!" für fremdenfeindlich hält, ist das der eigenen Initiative nicht dienlich.
Ohne China und Rußland die globalen Konflikte lösen zu wollen oder gar gegen diese Länder, kann nicht gelingen. Und selbst progressiv sein zu wollen und zugleich als progressiv einzuschätzende Kräfte wie "Aufstehen!" dabei auszugrenzen, wird nicht zu Stärke und Erfolg führen.
Schwappt der Kessel wie derzeit in Frankreich über und breitet sich der Druck wie dort richtungslos aus, werden die gut organisierten konservativen Kräfte die Oberhand behalten. Gemeinsamkeiten zu bestimmen und ein klares Ziel zu haben, wird unabdingbar bleiben. "Aufstehen!" kann der Beginn sein, doch ohne Programm wird bald wieder alles zu Ende sein, wie sich in Frankreich zeigt und in Griechenland seit langem zu sehen ist.
Es gilt, die Kräfte zu sammeln, zu bündeln und eine eindeutige Richtungsbestimmung vorzunehmen, sonst nützt eine "Progressive Internationale" nur ihren Gegnern, weil falsche Hoffnungen geweckt werden.

Renato Lorenz, Weimar


Potsdam spielte in der Geschichte, wenn es um die Frage von Krieg und Frieden geht, oft eine besondere Rolle. König Friedrich II. (1740-1763) führte von Potsdam aus drei Eroberungskriege, in deren Verlauf etwa eine Million Menschen ihr Leben verlor. 1914 gab Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais von Potsdam den Befehl zum Überfall auf Frankreich. Mehr als zehn Millionen Menschen wurden im Ersten Weltkrieg getötet.
In der Potsdamer Garnisonkirche hoben preußische Militaristen und Monopolisten sowie die evangelische Kirche Adolf Hitler am 21. März 1933 auf den Thron und legten den Grundstein für den Zweiten Weltkrieg. Ergebnis: Zirka 50 Millionen Tote. Potsdam war aber auch die Stadt, in der 1945 das "Potsdamer Abkommen" von den Siegermächten unterzeichnet wurde, mit dem die Voraussetzungen für Demilitarisierung und Entnazifizierung geschaffen wurden. Die BRD mißachtete die Beschlüsse und etablierte das Bundeswehreinsatz-Führungskommando in Geltow bei Potsdam. Heute betreiben Bundesregierung, Bundestag und Politiker aller Couleur den Wiederaufbau der Potsdamer Militärkirche als Symbol der angestrebten und forcierten Rüstungs- und Eroberungspolitik.
All dies sind Gründe, gerade in dieser Stadt alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um den Potsdamer Friedensruf, den unser Friedensbündnis im Juli 2018 verabschiedete, noch kräftiger, noch lauter erschallen zu lassen. Wer kann, sollte sich am diesjährigen 18. Potsdamer Ostermarsch, der am 13. April um 14 Uhr am Brandenburger Tor (Potsdam) startet und gegen 16 Uhr am Deserteurs-Denkmal (Platz der Einheit) endet, teilnehmen. Bitte den Termin vormerken!

Horst Jäkel, Potsdam


Vor 100 Jahren gründete sich nach dem 1. Weltkrieg und als eine Folge der Novemberrevolution 1918 die Rote Hilfe Deutschland. Mit Ebert, Scheidemann und Noske wurde ja nicht, wie Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom Balkon des Berliner Stadtschlosses verkündete, der Weg für einen demokratischen, nichtmilitärischen Staat frei. Im Gegenteil. Es begann eine Hatz auf politische Gegner und Kriegsgegner. Zwei Monate später waren auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht der kaiserlichen Justiz durch ganz gewöhnliche Kriminelle zum Opfer gefallen. Die Täter hatten ihre Tat niemals zu verantworten. 1924 gründete sich unter maßgeblicher Federführung der KPD, die noch bis 1933 mit einer starken Fraktion im Deutschen Reichstag vertreten war, die Rote Hilfe als Rechtshilfeorganisation für Gegner der Reaktion. Sie war auch schnell international vernetzt. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehörten Heinrich Vogeler, Wilhelm Pieck, Julian Marchlewski und Clara Zetkin. Ein wichtiges Anliegen der Organisation war es, Kräften, die gegen den drohenden Faschismus auftraten, Gehör vor den Verwaltungsorganen und Gerichten zu verschaffen, sie zu vertreten und sich um Angehörige von Verurteilten, darunter besonders auch um die Kinder, zu kümmern. Daraus entstand ein internationales Hilfsprogramm im niedersächsischen Worpswede mit dem Barkenhoff von Heinrich Vogeler und im thüringischen Olgersburg von Wilhelm Pieck. Beide Objekte wurden von der KPD getragen und von Spenden aus aller Welt unterstützt. Sie existierten voll funktionstüchtig bis 1933. Mit dem am 24. März 1933 von der NSDAP erlassenen Ermächtigungsgesetz begann die Verfolgung und widerrechtliche Inhaftierung von Systemgegnern aller Couleur. Menschen, die sich mit dem Faschismus nicht identifizieren wollten, emigrierten. Andere blieben und arbeiteten in der Illegalität, so auch die Rote Hilfe bis 1936. Dann ging auch sie ins Exil.
Heute ist die Existenz der Roten Hilfe erneut von großer Bedeutung. Die Situation in Deutschland erinnert sehr an den aufziehenden Faschismus der 20er und 30er Jahre. "Aufstehen!", bevor es wieder zu spät ist!

Erwin Opitz, Potsdam


Zu "Vor 60 Jahren: Sieg der Revolution in Kuba", RF 252, S. 17

Nach opferreichen Kämpfen mit einem unbarmherzigen Gegner, Anstrengungen und Siegen feierte ein freies und unabhängiges Kuba Anfang des Jahres den 60. Jahrestag des Sieges der Revolution. Und mit ihm feierten Solidaritätsorganisationen und Freundschaftsvereinigungen in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, sowie natürlich die Mitglieder und Sympathisanten von Cuba si in unserer Hauptstadt Schwerin. Aus einem von US-Gnaden abhängigen Land mit dem regierenden Bluthund Batista und unmenschlichen Verhältnissen wurde ein Kuba, das sein Schicksal selbst bestimmt, eine kleine Insel mit einem großen solidarischen Herzen. Nur ein Beispiel dafür: So waren in den amerikanischen Bruderländern fast 350.000 kubanische Ärzte und weiteres medizinisches Personal tätig. Oft in abgelegenen und problematischen Orten. Dem genannten Jubiläum konnten sich selbst die deutschen Medien nicht entziehen. Raul Castro verwies in bezug auf Trump darauf, die US-Regierung gehe von neuem auf Konfrontationskurs mit Kuba. Kuba ist allerdings bereit, trotz der gesellschaftlichen Unterschiede Beziehungen des Friedens, des Respekts und des beiderseitigen Nutzens mit den Vereinigten Staaten einzugehen. Aber die Kubaner sind auch willens, einem Szenario der Konfrontation zu widerstehen, und hoffen, daß klare Köpfe in der US-Regierung ein solches werden verhindern können.

Karl Scheffsky, Schwerin


Im 93. Lebensjahr stehend, erinnere ich mich gelesen zu haben, daß die Krim einst zu Rußland gehörte. Der Ukrainer Chruschtschow hat seinerzeit die Krim der Ukraine zugeordnet.
Angesichts der Bemühungen der Ukraine, der NATO beizutreten, war die Wiedereingliederung der Krim aus verteidigungspolitischer Sicht eine absolute Notwendigkeit.

Arndt Näser, Riesa


Seit fast 30 Jahren schütten die neuen Machthaber Kübel von Häme, Haß und Hetze über die DDR und deren Bürger aus. 13 Jahre davon geschürt von einer Kanzlerin, die ihre Wurzeln doch gerade dort hatte und nun mit ihrem "... weiter so, nachhaltig und alternativlos ..." die Reste bürgerlicher Demokratie aufs Spiel setzt. Doch plötzlich ist zu hören: "... Wir müssen reden, ohne Schaum vor dem Mund ..." und "... Demokratie lebt vom Wechsel ..." Damit meinen sie aber nicht uns, sondern ihre stärksten Konkurrenten, den hell- und dunkelbraunen Straßenmob, der inzwischen schon Parlamentssitze einnimmt.
Wie lange noch wollen wir ihnen nur zuhören? Sprechen sie vom "Wechsel in der Demokratie", ist höchste Wachsamkeit geboten!

Siegfried Wunderlich, Plauen


Die aus Baden-Württemberg stammende evangelische Landesbischöfin von Mitteldeutschland, Ilse Junkermann, verkündete in ihrer Neujahrsbotschaft: Dreißig Jahre Demokratie-Üben seien für die Bürger in den neuen Bundesländern nicht lange genug gewesen. Man müsse ihnen mehr Zeit geben ... Da haben wir's: Die Ossis sind eben doch begriffsstutzig.

Günther Röska, Leipzig


Es ist schon bewundernswert, was die Wohnungsgesellschaften und Wohnungsbaugenossenschaften in den letzten dreißig Jahren geleistet haben. Viele vor allem große Wohnblöcke, aber auch Häuser in den Innenstädten wurden saniert und modernisiert. Neue Farben geben ein frisches und freundliches Aussehen. Durch den Einbau von Fahrstühlen wird z. B. vor allem auch älteren Bürgern die Möglichkeit gegeben, in ihren seit Jahrzehnten genutzten Wohnungen zu verbleiben.
Nicht zu übersehen ist bei dieser positiven Entwicklung aber auch, daß durch die Deindustrialisierung unter maßgeblicher Federführung der Treuhand viele vor allem junge Menschen die Städte verlassen haben. Das wird sicher auch in der Zukunft weiter dazu führen, daß Wohnungen "zurückgebaut" werden müssen - ein Tarn-Wort für Abriß!
Es ist begrüßenswert, daß der NDR gegenwärtig mit einigen Beiträgen Licht in die Machenschaften der Treuhand bringt. Umfassende Klarheit wird es aber auch die nächsten 35 Jahre nicht geben, so lange sind nämlich die 200 Kilometer Treuhand-Akten unter Verschluß.

Ralf Kaestner, Bützow


Wer sich auf höchst spannende und unterhaltsame, trotzdem faktengestützte Weise mit dem Treuhand-"Krimi" beschäftigen will, greife zu Wolfgang Schorlaus Roman "Die blaue Liste", dem ersten Band seiner insgesamt empfehlenswerten Reihe "Dengler ermittelt".

RF

Zum Leserbrief von Dr. Manfred Höfer, RF 252, S. 37
Von "umwerfender Logik" (bei mir) spricht Dr. Höfer, weil ich in meiner Arbeit zur Frage "Was ist Rentabilität?" (RF 249, S. 28) davon gesprochen habe, der Kapitalismus könne in Sachen Rentabilität vom Realsozialismus etwas lernen. Ja, was sollte er denn lernen?
Daß die Rentabilität als eine Eigenschaft der Arbeit nicht nur ein wertökonomisches Verständnis einer jeden Arbeit, sondern auch ein gebrauchswertökonomisches Verständnis einer besonderen Arbeit erfordert. D. h. die Rentabilität oder Arbeiten "mit/für den Gewinn" besteht in einer Art Unterabteilung jener Abteilung I, die Marx als diejenige bezeichnet hat, in der die Produktionsmittel (Maschinen, Materialien, Energie) für die Arbeit im allgemeinen, also für die Abt. I und II, hergestellt werden. (Quasi Abt. I über die einfache Reproduktion hinaus = I plus.) Erst von dem Augenblick an, da die Arbeit gesellschaftlichen Charakter annimmt, also deren privaten oder individuellen Charakter überwindet, entstehen sowohl die genannten Abteilungen als auch Unterabteilungen. Was individuelle Arbeit nur im Nacheinander schafft, kann gesellschaftliche Arbeit im Nebeneinander. D. h. wir haben es mit einer neuen, höheren Form der Arbeitsteilung zu tun. Und was lernt nun (könnte lernen) der Kapitalismus (wenn er denn wollte) vom Realsozialismus? Daß man auf diesen Bereich der Möglichkeit einer erweiterten Reproduktion, also den Bereich, in dem es um die Rentabilität in der Arbeit auch geht (mehr produzieren zu können als nur ein Äquivalent für die Kosten [C-Teile und V-Teil]), auch direkt zugreifen kann, ohne den Mehrwert im Wert resp. Preis von Waren. Dieser Bereich existiert ja unabhängig davon, ob in Preisen ein Gewinn ausgedrückt ist. Er existiert an sich (im übrigen auch für das Kapital, den Mehrwert) - wenn er denn geschichtlich Gestalt angenommen hat. Was Problem der Preise, oder auch individuellen Arbeit (sein kann) - ohne Gewinn zu sein -, ist dennoch nicht Problem der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, überhaupt der Arbeit. Nur der Kapitalismus, eine Warenökonomie, orientiert bei der Rentabilität auf die individuelle Arbeit, den einzelnen Preis, Gesellschaftsökonomie dagegen orientiert an sich auf - I/Bereich erweiterte Reproduktion. Das erklärt zwar nicht, warum der Realsozialismus so "lässig" mit den Preisen umgesprungen ist, d. h. die Preisfrage des Sozialismus verlangt nach einer neuen (!) Theorie, aber kann erklären, daß Planwirtschaft ihr Augenmerk schon auf die Ökonomie den Gebrauchswerten nach gerichtet hat - in der sich der Wert/Arbeitsaufwand in abstracto schlechthin "in die Produktion zurückzieht", Engels. (Der Beginn - dieser Preisgleichgültigkeit - erscheint eben im Gewinn"chaos" Preisen nach.) Bei Rückzug des Wertes in die Produktion wird sowieso für einzelne Arbeiter unsichtbar, ob sie "rentabel", mit Gewinn arbeiten. Ihr Interesse resp. ihre Möglichkeit zu einer Erweiterung der Produktion nehmen sie über den erweiterten Bezug von Gebrauchswerten wahr, die in dieser besonderen Abteilung I für sie erarbeitet worden sind. (Die Strukturierung von I wird, wie bekannt, per Plan vorgenommen, ist weder allgemein und gleich, noch bedarf es dazu der Voraussetzung von adäquaten Gewinnteilen in Preisen, da Expansion sowieso proportional bestimmt ist, nicht äquivalent.)

Hermann Jacobs, Berlin


Seit geraumer Zeit beziehe ich jetzt Eure Zeitschrift und bin immer wieder begeistert über Artikel und Stellungnahmen. Leider mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß meine Lieblingsautorin, Gisela Steineckert, ihre regelmäßige Mitarbeit beendet hat. Ich wünsche ihr alles Gute für ihr weiter es Leben, besonders Gesundheit!
Ich möchte einige Bemerkungen zu für mich wichtigen Themen machen: Theodor Weißenborn, auch ein wichtiger Autor für mich, erwähnt Sartre. Das finde ich gut und wichtig. Er versteht ihn meiner Meinung nach genau richtig. Der Mensch gelingt oder scheitert an seinem Tun und nicht an seinem Denken. Hans Heinz Holz hat Sartre und seinen Existenzialismus meines Erachtens nach nicht richtig verstanden.
Eine Frage stellt sich für mich in bezug auf das Scheitern der DDR: Die DDR soll auf jeden Fall als das gewürdigt werden, was sie war: der erste Versuch, auf deutschem Boden eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Es muß eine differenzierte Aufarbeitung der Errungenschaften und Fehler in der DDR geben. Dazu gehört auch eine große Portion Selbstkritik. Unser heutiger Staat hat an so etwas natürlich kein Interesse. Trotzdem muß es irgendwie gemacht werden, damit wir für die Zukunft daraus lernen können. Meine Frage lautet: Welchen Einfluß auf das Scheitern der DDR hat die Tatsache gehabt, daß der Sozialismus nicht vom Volk selbst erkämpft worden ist, sondern durch die Befreier vom Faschismus mitgebracht worden ist. D. h. die Befreiung vom Faschismus ging nicht vom Volk selbst aus. Das Bewußtsein der großen Mehrheit der Menschen war nicht entwickelt, historische Verantwortung zu übernehmen, geschweige denn eine neue Gesellschaft aufzubauen. Vom Kampf gegen das faschistische Regime und vom Kampf für den Sieg der sozialistischen Revolution konnte bei der Mehrheit der Menschen auf dem Gebiet der späteren DDR ja nicht die Rede sein. War das nicht auch Ursache für die Anfälligkeit vieler Menschen in bezug auf die Verlockungen des Kapitalismus? Kann eine sozialistische Revolution nur dann erfolgreich sein, wenn die Mehrheit der Menschen bewußt daran teilnimmt? Sind die Menschen nur unter dieser Voraussetzung willens und in der Lage, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen? Erkennt man Wahrheit nicht nur durch praktische Erfahrung? Wie sollte sich sonst Bewußtsein entwickeln, wenn nicht durch reflektierte Praxis? Die aber fehlte 1945 bei den meisten vollkommen.

Georg Kaufmann, Kempen

Auf den wichtigen Zusammenhang zwischen Bewußtsein, Sein und aktivem Eintreten für eine erfolgreiche Revolution und die neue, sozialistische Gesellschaft, ihren Aufbau und ihre Verteidigung wies auch Enrique Ubieta Gómez im Januar-"RotFuchs" hin (S. 17 f.).

RF


In einer kürzlich erschienenen Broschüre widmet sich Hans-Jürgen Bandelt der Sammlungsbewegung "Aufstehen!", nachdem er sich vorher mit dem Aufruf von #unteilbar auseinandergesetzt hat. Er sympathisiert mit ihr, gibt ihr aber wenig Überlebenschancen. Wo er allerdings seine Überzeugung hernimmt, "eine neue, wirklich linke Partei" aus der Sammlungsbewegung hervorgehen zu lassen, bleibt sein Geheimnis. Im Abschnitt "Manifesto" läßt er den Juristen und Kommunisten Friedrich Wolff zu Worte kommen. Dieser hatte in "Ossietzky" 12/2016 einen Text veröffentlicht, der auch nach meiner Einschätzung in gewisser Weise als "kleines Manifest" bezeichnet werden kann. Wolff beschäftigt sich hier mit den Gründen, warum Die Linke nicht links genug ist. Und wenn es bei "Aufstehen!" tatsächlich darum geht, "Forderungen, die die Menschen am meisten bewegen, von der Straße in die Politik zu tragen" (wie es im Gründungsaufruf heißt), dann könnte dieser Text inhaltlich eine Rolle in der Sammlungsbewegung spielen, ohne parteipolitisch eine erneuerte Linke hervorzuzaubern.

Herbert Münchow, Leipzig


Kürzlich druckte der "Nordkurier" eine Abhandlung von Bennett Murray ab. Es wurde über eine "unorthodoxe" Therapie einer Methylalkoholvergiftung mit Büchsenbier in Vietnam berichtet. Auch wenn es nur um eine Vergiftung im fernen Vietnam geht, so müssen Zeitungen der Funke-Mediengruppe hierzulande mit Arroganz und Überheblichkeit nachtreten: Die "staatlich gelenkte Presse" in dem "weniger entwickelten Land", wo solche Vergiftungen gewöhnlich vorkommen, hat also darüber berichtet.
Sicherlich sind die zwei Lübecker Schüler vergessen, die sich 2009 mit gepantschtem Schnaps in der Türkei vergifteten. In Schweden kommt es bei den hohen Alkoholpreisen öfters zu solchen Zwischenfällen mit "Selbstgebranntem". Auch in der hochentwickelten BRD kommen Vergiftungen mit Methylalkohol in Frostschutzmitteln gelegentlich vor. In meiner 58jährigen ärztlichen Praxis wurde ich auch einmal mit einem solchen Fall konfrontiert. Ein Flugzeugtechniker hatte im jugendlichen Leichtsinn unbekümmert die Alkoholfüllung aus dem Zusatztank eines Militär-Jets abgezapft. Der Wechsel von Aethyl- zu Methylalkoholfüllung bei Auslieferung war nicht extra bekanntgegeben worden. So nahm das Unglück seinen Lauf und konnte nur durch hohe Dosen der "blauen Welle" ("ein Auge kann man ja riskieren") kuriert werden. Ach ja, natürlich war die DDR auch so ein unterentwickeltes Land.

Dr. Gerd Machalett, Siedenbollentin


Zu Gisela Steineckert: Hand aufs Herz (Mein Freund Peter Edel), RF 247/248, S. 35

Der Beitrag hat mich sehr bewegt, und ich erinnerte mich, wie ich selbst zu seinem autobiographisch-dokumentarischen Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart "Die Bilder des Zeugen Schattmann" kam. Es war im Erscheinungsjahr 1969. Peter Edel war mir damals schon durch seine Artikel in der "BZ am Abend" als Kulturredakteur bekannt. Im Frühjahr 1969 schrieb ich an meiner Ökonomie-Hausarbeit. Ich hatte das Glück, an der Fachschule des Verbands der Konsumgenossenschaften der DDR zu studieren. Die Fachschule samt Internat befand sich auf dem Großen Schloß in Blankenburg (Harz).
Als das Buch Peter Edels erschien, bestellte ich mir ein Exemplar. Tagsüber schrieb ich an meiner Hausarbeit, und in jeder freien Minute las ich. Die geschilderten Erlebnisse fesselten mich und erschütterten mich zugleich. Natürlich hatte ich schon vorher Bücher über die Zeit des Faschismus gelesen - so von Bruno Apitz "Nackt unter Wölfen" oder von Elfriede Brüning "... damit du weiterlebst" (über Hans und Hilde Coppi), aber kein anderes ging mir so nah.
Nach Beendigung meines Studiums arbeitete ich zunächst als Revisorin in Konsumgenossenschaften in der Altmark und sowohl hier als auch an anderen Arbeitsstellen bzw. als Rentnerin nutzte ich viele Gelegenheiten, um vor allem Lehrlinge und Schüler mit dem Buch Peter Edels bekannt zu machen. Auch in einer Kirche konnte ich eine Lesung für Edel durchführen. Nach 1989/90 wurden viele antifaschistische Bücher anhand vorbereiteter Listen aus öffentlichen Bibliotheken entfernt, so auch Edels "Die Bilder des Zeugen Schattmann" ...

Margret Scholz, Hornhausen


In Torgau gibt es seit einiger Zeit eine Gruppe "Aufstehen", die bereits sehr aktiv geworden ist. So haben wir zum Beispiel Anfang November 2018 in Leipzig an der Demo "Abrüsten statt aufrüsten!" teilgenommen. Die Gruppe traf sich, ebenfalls im November, zu einem Mahngang "Frieden und Völkerverständigung". Am 13. Januar nahmen wir in Berlin an der Demonstration zur Liebknecht-Luxemburg-Ehrung teil und demonstrierten mit Tausenden anderen, meist jungen Menschen, gegen die wachsende Kriegsgefahr in der Welt. Unser nächstes Ziel war am 26. Januar eine Demonstration in Dresden. Zu unserem Erstaunen trafen wir auf mehrere "Aufstehen"-Gruppen, z. B. aus Leipzig, Chemnitz, Leisnig und Bautzen.
Gemeinsam mit etwa drei- bis viertausend Teilnehmern demonstrierten wir gegen das neu überarbeitete Polizeigesetz. Inzwischen hat sich unsere Gruppe bereits das fünfte Mal zusammengefunden. Am 2. Februar - es kamen 14 Interessierte zu unserem Treff - ging es u.a. um den Friedenserhalt in Europa und der Welt und um gute Nachbarschaft mit Rußland.
Wir stellten fest, daß die Bereitschaft zu Bündnissen, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse und für Frieden einsetzen, durchaus vorhanden ist. Unser Anliegen ist es, uns mit anderen Friedensbewegungen zusammenzuschließen, um gemeinsam an den in Torgau geborenen "Geist der Elbe", zu erinnern, dem sich sowjetische und amerikanische Soldaten nach dem Sieg über den Faschismus verpflichtet sahen und der sich an die Menschen aller Nationen wendet, Konflikte und Differenzen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen. Er ist eine ewige Mahnung an alle, für das Wohl der Menschheit zusammenzuarbeiten. Deshalb müssen wir möglichst viele Menschen erreichen, die gegen den Rüstungswahnsinn der NATO und der USA aufstehen und am 27. April zum "Elbeday" kommen, der am Brückenkopf zum Denkmal der Begegnung mit einem Mahngang stattfindet.
Unser nächstes Treffen der "Aufstehen"-Gruppe Torgau und Umgebung findet am 30. März um 10.30 Uhr in der Torgauer Gaststätte "Mohrrübe" statt.

Elke Tentzsch, Torgau


Auf einem Freundschaftstreffen in einem Lichtenberger Betrieb, an dem ich als stellvertretender Kreissekretär der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft teilnahm, lernte ich Anastasia Michailowa (Jenia) kennen. Sie hatte die Reise als Auszeichnung bekommen und kam aus Moskau. Nach dem Austausch von Reden und Präsenten wurde zum Tanz aufgespielt. Als ein Betriebsangehöriger sie zum Tanz aufforderte, lehnte sie ab. In einem Gespräch erfuhr ich dann von ihrem Schicksal. Als Krankenschwester hatte sie während des 2. Weltkrieges den langen Weg von Moskau bis in Berlin mitgemacht. Von ihrer großen Familie blieb nur eine Schwester übrig.
Das hat sie geprägt. Sie konnte die Toten und das Elend der vielen Verwundeten, die sie auf ihrem Marsch sah, nicht vergessen. Jenia war mit vielen Auszeichnungen geehrt worden, die sie auch trug. Tanzen mit einem Deutschen überstieg ihre Kräfte. Dennoch wurden wir Freunde. Als sie wieder nach Moskau zurückfuhr, fiel uns der Abschied schwer. Wir mochten uns sehr.
Im Briefwechsel erfuhren wir viel voneinander. Wir hatten eine ähnliche Kindheit, einen ähnlichen Beruf und trafen uns später einige Male in Moskau. Unsere Korrespondenz bis kurz vor ihrem Tod ließ erkennen, daß ihr die Kriegsfolgen schwer zu schaffen gemacht haben. Sie litt sehr unter den sich entwickelnden Spannungen und ständigen Unruhen in aller Welt. Immer wieder brachte sie ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck, wie leicht sich die Menschen verleiten lassen, für fremde Interessen und Profite unsagbares Leid anzurichten. Sie verstand die Welt nicht mehr. Der Gedankenaustausch mit Jenia und unsere Verbindung, die in keiner Weise eine aufoktroyierte Freundschaft war, haben mich sehr berührt und nachdenklich gemacht. Jenia wäre entsetzt gewesen, wenn sie erfahren hätte, daß heute schon wieder deutsche Soldaten mit ihren Panzern an den Grenzen Rußlands stehen und provozieren. Da müssen wir aufstehen und Flagge zeigen und hinausschreien: Das wollen wir nicht!

Lisa Däne, Berlin


Ein Glück, daß es den "RotFuchs" gibt. Der Artikel über Nadeshda Krupskaja in der Februar-Ausgabe ist mir Anlaß, an ein längst vergessenes Stück deutsch-sowjetischer Pädagogik nach 1917 zu erinnern.
Als ich 1958 als Absolvent nach Wickersdorf kam, hörte ich beiläufig von ehemaligen russischen Bürgern an der Schule. Ich dachte dabei zunächst an die Mädchen aus der Ukraine, die während des Faschismus in diese Einrichtung verbracht wurden und entwürdigenden Prozeduren ausgesetzt waren.
In den 70er Jahren erhielt ich als Leiter der Schule - seit 1964 "Spezialschule zur Vorbereitung auf ein Studium als Russischlehrer" - überraschenden Besuch von zwei ehemaligen sowjetischen höheren Offizieren, die mir mitteilten, sie seien in den 20er Jahren Schüler in Wickersdorf gewesen. Ein Blick in das gut geführte Schülerbuch offenbarte immer mehr russische Namen, insgesamt etwa 70.
Während der Vorbereitung unserer 75-Jahr-Feier 1981 erfuhr ich dann von Prof. Helmut König, der nach dem Krieg selbst Lehrer in Wickersdorf war und älteren Schülern aus dem Umkreis von Kurt Pätzold und Helmut Kormann noch bekannt sein dürfte, was es mit diesem ungewöhnlichen Umstand auf sich hatte. Beim Aufbau des Volksbildungswesens in der UdSSR stieß Nadeshda Krupskaja auf die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (FSG), deren pädagogisches Konzept sich ganz und gar nicht in das preußische Schulsystem einordnen ließ, und veranlaßte die Mitarbeiter der diplomatischen und Handelsmissionen in Europa, ihre Kinder nach Wickersdorf zu schicken.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, daß die Schriften des Gründers der Schule zuerst in der Ukraine und in Rußland und erst später in Deutschland erschienen. Mir wurden Zitate von Krupskaja und anderen sowjetischen Pädagogen bekannt, die sich mit Wickersdorf befaßten. 1978 gab es sogar an der Universität in Essentuki eine Promotion zu Erziehungsfragen an der FSG. Analogien zwischen Makarenko und der Freien Schulgemeinde sind unverkennbar.
Zu bewegenden Höhepunkten deutsch-sowjetischer Freundschaft gestaltete sich die Feier 1981, als sich die Professoren Kurt Liebknecht und Igor Kastell, beide ehemalige Schüler der Einrichtung, sowie mehrere Bürger aus der UdSSR nach Jahrzehnten an "ihrer" Schule wiedertrafen. Ihre Erinnerungsberichte an diese Jahre, der letzte wurde 1933 der Schule verwiesen, sind im Kreisarchiv in Rudolstadt aufbewahrt.

Dieter Barth, Wickersdorf

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
http://www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2019/RF-254-03-19.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 254, 22. Jahrgang, März 2019
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2019

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