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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1252: Frankreich - Von der LCR zur NPA


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Frankreich - Von der LCR zur NPA
Neue Antikapitalistische Partei gegründet

Von Bernard Schmid


Die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) ist tot. Es lebe die Neue Antikapitalistische Partei (NPA)!


Zum Abschluss des Gründungskongresses der NPA, der am 8. Februar 2009 in einer Veranstaltungshalle im Pariser Vorort Saint-Denis zu Ende geht, singen die rund 1000 Teilnehmenden (650 Delegierte, Gäste, ausländische Delegationen) die "Internationale" Bei einigen - einer Minderheit - hapert es mit dem Text, manche fallen zum unpassenden Zeitpunkt in den Refrain ein. Ein Ausdruck dessen, dass nicht alle der hier Anwesenden aus derselben politischen Tradition kommen: Bei der LCR, deren Organisationsleben dreieinhalb Tage zuvor am selben Ort nach 40 Jahren zu Ende ging, hätte man sich auf das reibungslose Absingen der Hymne des Internationalismus eher verlassen können.

Unberührt davon bleibt der Enthusiasmus. Die meisten Anwesenden im Saal stehen auf, ballen die Fäuste. Es folgen Applaus und Ausrufe: "Ce n'est qu'un début, continuons le combat!" (Dies war nur der Anfang, setzen wir den Kampf fort!) Eine alte Parole aus den Tagen, in denen der Mai 1968 zu Ende ging. Ein neues Kapitel in der Geschichte der französischen radikalen Linken wird aufgeschlagen - und das vorhergehende endet mit demselben Satz, mit dem es begonnen hatte.

Wehmut ist nur bei sehr wenigen zu verspüren, als am Donnerstag, dem 5. Februar, rund 150 Delegierten vier Jahrzehnten politischer Existenz der LCR ein Ende setzen. Keine Nostalgie kommt auf. Stattdessen packen die Kongressdelegierten - 150 bei der LCR, 650 beim Gründungsparteitag der NPA - lieber neue Aufgaben an. Enthusiasmus überwiegt über den Rückblick auf vergangene Zeiten.

Die Auflösung der französischen LCR, der wohl mit Abstand bedeutendsten Organisation der französischen radikalen Linken im vergangenen Jahrzehnt, erfolgte weder überraschend noch überstürzt. Sie steht vielmehr am Ende eines anderthalb Jahre dauernden Transformationsprozesses, dessen verschiedene Etappen sich in aller Transparenz verfolgen ließen.

Tatsächlich hat die LCR es geschafft, das in die Tat umzusetzen, was auch andere Strömungen der radikalen Linken in Frankreich - vor allem solche, die in trotzkistischer Tradition stehen - angekündigt hatten oder verbal in Aussicht stellten: das Aufgehen in einer breiteren, über bisherige politisch-ideologische Grenzen hinausreichenden und über die trotzkistischen Bezüge hinausweisenden, jedoch dem Klassenkampf klar verpflichteten Sammelbewegung.

Zuerst hatte die - ideologisch orthodoxer ausgerichtete, und ein eher ökonomistisch verengtes (d.h. den sozialen und politischen Kampf auf materielle Verteilungsfragen reduzierendes) Klassenkampfverständnis pflegende - trotzkistische Partei Lutte Ouvrière einen solchen Schritt angekündigt. Lutte Ouvrière (LO - "Arbeiterkampf") war in der jüngeren Vergangenheit die erste Partei der radikalen Linken, der es gelang, nennenswerte Wahlerfolge zu verzeichnen. Als ihre damalige, langjährige Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller - die 2008, nach sechs Präsidentschaftskandidaturen, ihren Abschied aus der aktiven Politik genommen hat - im April 1995 erstmals die Grenze von einer Million Stimmen überschritt, trug sich LO bereits mit dem Gedanken an die Gründung einer neuen Sammlungspartei. Im Wahlkampf hatte sie angekündigt, im Falle eines guten Stimmenergebnisses eine breitere "neue Arbeiterpartei" zu gründen.

Arlette Laguiller erhielt daraufhin 1,3 Millionen Stimmen oder 5,3%. Doch die Neugründung wurde abgeblasen: Man habe es versucht, beschied LO, aber nicht die dafür notwendigen "ausreichend ernsthaften" Mitstreiter gewonnen. Wahrscheinlich hatte man es wirklich versucht, und es hatte nicht geklappt - kein Wunder freilich angesichts der rigiden Organisationsstrukturen bei LO, die das persönliche Leben der Mitglieder stark einengen und beeinträchtigen (was man der LCR nicht nachsagen konnte).


Die Partei ist kein Selbstzweck

Über alle, teilweise großen, inhaltlichen und strukturellen Unterschiede hinweg haben die unterschiedlichen Varianten des französischen Trotzkismus grundsätzlich miteinander gemeinsam, dass sie nach einer Überwindung ihrer eigenen bisherigen Organisationsstrukturen streben. Der Grund liegt in einer politischen Konzeption, welche die "eigene" Partei nur als Mittel zum Zweck betrachtet - gebunden an eine bestimmte historische Situation und Zeitspanne -, aber nicht als Selbstzweck überhöht. Dies steht im Gegensatz zur stalinistischen Parteikonzeption, in der "die Partei" als das zentrale historische Instrument des Fortschritts und als höchster Ausdruck des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse firmiert. Diese Selbstüberhöhung haben sich die meisten Strömungen des organisatorisch vielfach zersplitterten Trotzkismus nie zu eigen gemacht - und darin liegt einer ihrer sympathischsten Züge.

Und dies von Anfang an. Seitdem sich der Trotzkismus auf der französischen radikalen Linken ab 1936 (im Kontext der Massenstreiks unter der Volksfrontregierung und des "Verrats" der in Regierungsnähe gerückten französischen KP) als linke Alternative zur KP politisch verankern konnte, betrachteten sich seine Anhänger eher als "Stachel im Fleisch" der übrigen Linken und der sozialen Bewegungen, denn als "die" Avantgardepartei.

Deshalb waren sie in aller Regel auch immer bereit, auf höchst unsektiererische Art zusammen mit anderen Strömungen etwa Streiks und soziale Bewegungen zu unterstützen, ohne darin stets ihre eigene Partei oder Strömung vorrangig "aufbauen" zu müssen. Aber die Frage nach der politischen Organisierung jenseits bzw. diesseits der Sozialdemokratie und der KP, stellte sich schließlich dennoch. In den letzten Jahren umso drängender, als einerseits die französische Sozialdemokratie kaum noch als politische Kraft der Arbeiterbewegung auftritt, sondern ihre bürgerliche Wandlung nahezu abgeschlossen hat, andererseits die französische KP sich im Niedergang befindet; dieser Prozess setzte Mitte der 80er Jahre ein, hat sich jedoch seit 2002 beschleunigt. Das historisch zu nennende "Rekordtief" für die KP-Kandidatin Marie-George Buffet bei den Präsidentschaftswahlen vom April 2007 (nur noch 1,9%) hat dies noch einmal drastisch vor Augen geführt.


Viele wollen mitmachen

Die LCR, mit ihrem jungen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot - der landauf landab als "der Briefträger" bekannte Postbedienstete wird im übernächsten Monat 34 Jahre alt -, hat unterdessen wachsende Zustimmung besonders unter jüngeren Wählern gefunden. Besancenot erhielt zuletzt, bei den Präsidentschaftswahlen 2007, ein 4,1% (bei einer hohen Wahlbeteiligung) und 1,5 Millionen Stimmen. Sein wahlpolitischer Erfolg ist nur die Spitze eines Eisbergs, denn zugleich haben sich zahlreiche Menschen bei der Partei gemeldet, die mitmachen und sich politisch betätigen wollen. Besancenot hatte vor der Wahl erklärt, im Erfolgsfalle zur Gründung einer neuen, breiteren Partei aufrufen zu wollen. Zahlreiche Personen nahmen ihn nunmehr beim Wort.

Seit nunmehr zwei Jahren gibt es eine anhaltend starke Mobilisierung für das Projekt. Hatte die LCR zum Schluss rund 3000 Mitglieder - womit sie das Niveau der 70er Jahre wieder erreichte, während sie auf ihrem Tiefpunkt (1996) auf 800 Mitglieder gesunken war -, so hat die neue Partei bei ihrer Gründung 9100 Mitgliedskarten ausgegeben. An den örtlichen Vorkongressen, die im Regelfall einen vollen Tag dauerten, und an den Abstimmungen vor dem Kongress nahmen 5800 Aktive teil.

Wegen des erfolgreich verlaufenen Kongresses, bei dem unkonstruktive Auseinandersetzungen vermieden werden konnten und zugleich ein hohes demokratisches Niveau gewahrt wurde, und wegen des starken Medienechos wird für die kommenden Monate mit einer anhaltenden Eintrittswelle gerechnet.


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Die wichtigsten Parteitagsbeschlüsse

Der Ablauf des NPA-Kongresses zeigte ein hohes Niveau an innerparteilicher Demokratie.

Ein mit Spannung erwartetes Votum betraf den zukünftigen Parteinamen. Über 500 Vorschläge waren in den Ortsgruppen gesammelt worden, die 20 am häufigsten genannten wurden den Delegierten unterbreitet. Bei der Abstimmung entschieden sich 53% der Delegierten für die Beibehaltung des Parteinamens NPA, nur knapp verlor der Alternativvorschlag Parti Anticapitaliste Révolutionnaire (PAR), der 44% der Stimmen erhielt.

Lebhaft debattiert wurde auch über die Benutzung der Begriffe "Sozialismus" oder, was zunächst als Alternative gefordert wurde, "Ökosozialismus". Der letzte Vorschlag widerspiegelt die Tatsache, dass die NPA und vor ihr bereits die LCR nicht nur klare Positionen zur Klassenfrage bezieht, sondern auch zu Themen wie Ökologie, Feminismus, Diskriminierung von Homosexuellen und - natürlich - Internationalismus arbeitet. Als Kompromissvorschlag wurde schließlich eine dritte Alternativformulierung gewählt: "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Allein sagt sie noch nicht viel aus, in der Resolution wird sie jedoch mit konkreten Inhalten gefüllt. Trotzdem findet sich der Begriff "Ökosozialismus" mehrfach in der angenommenen Programmerklärung.

Bei den Statuten gab es eine Auseinandersetzung um einen Satz, demzufolge die neue Partei zwar eine innere Demokratie aufweisen soll, die Entscheidungsfindung jedoch politisch zentralisiert verläuft. Begründung: "Das Gegenüber, das Kapital und der Staat, sind ebenso zentralisiert". Viele Delegierte fanden das problematisch, weil die stalinistische Praxis den früheren kommunistischen Begriff des "demokratischen Zentralismus" diskreditiert habe. Bei der Abstimmung gab ein Dutzend Stimmen den Ausschlag für die Beibehaltung der ursprünglichen Formulierung.

Die neue Partei erkennt das "Tendenzrecht" an, das ist das Recht innerparteilicher Strömungen, sich eigenständig zu organisieren und ihren Positionen kollektiven Ausdruck zu verleihen. Treten im Vorfeld einer Gremienwahl mehrere politische Strömungen auf, so muss das Leitungsgremium nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden, um den Minderheiten einen proportionalen Anteil zu sichern. Mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde der Vorschlag, das "Tendenz-" auf das "Fraktionsrecht" zu erweitern, also auf die Herausbildung quasi eigenständiger Parteien innerhalb der Partei.


Strömungen außerhalb der LCR, die in der NPA aufgingen

Neben der LCR, die rund 3000 der insgesamt 9000 Mitglieder in die "Neue Antikapitalistische Partei" einbringt, wurden auch andere - kleinere - politische Strömungen aus der radikalen Linken von der NPA absorbiert.

Die Konzeption der NPA zielt darauf ab, die Einheit der antikapitalistischen Kräfte durch einen Aufbau "an der Basis", nicht durch "Abkommen an der Spitze" zwischen verschiedenen politischen Apparaten herzustellen. Die Konstituierung der neuen Organisation beruht also nicht auf Abkommen zwischen der LCR und anderen (bisherigen) Parteien, sondern darauf, dass sich bislang Unorganisierte oder Enttäuschte aus "reformistischen" Parteien und Gewerkschaften mit den bisherigen Mitgliedern in der LCR zusammengefunden haben. Zudem wurden auch andere, kleinere, Kräfte aus der radikalen Linken integriert.

Dies gilt insbesondere für die Fraction Etincelle ("Der Funke"), die lange Jahre Minderheitenfraktion innerhalb bzw. am Rande von Lutte Ouvrière war, sich aber nun von ihr abgespalten hat.

Ebenso ging auch die relativ kleine Gruppe Gauche Révolutionnaire in der "Neuen Antikapitalistischen Partei" auf, die sich in den frühen 90er Jahren von der damaligen LCR-Jugendorganisation JCR getrennt und in Kontakt mit einer britischen trotzkistischen Gruppierung, der Militant-Strömung, standen.

Anfänglich mit dabei war auch die Gruppe CRI. Diese ist eine Abspaltung von den "Lambertisten", einer sektiererischen und autoritären Sonderströmung des französischen Trotzkismus. Durch ihr destruktives und sektenhaftes Verhalten wurden die meisten ihrer Wortführer aus NPA-Ortsgruppen ausgeschlossen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 24. Jg., März 2009, Seite 15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2009