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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1311: Das Bundesverfassungsgericht nimmt den Bundestag in die Pflicht


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 - September 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Das BVG nimmt den Bundestag in die Pflicht
Jürgen Klute über das Urteil des Verfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag

Von Angela Klein


Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat am 30. Juni über die Klage der Fraktion DIE LINKE, des Abgeordneten Gauweiler, einer Vielzahl von Abgeordneten des Deutschen Bundestags und einiger Einzelpersonen entschieden, den Lissabon-Vertrag - die Nachfolge des gescheiterten EU-Verfassungsvertrags - für grundgesetzwidrig zu erklären. Das BVG hatte nur Klagepunkte zugelassen, die sich auf die Einschränkung der Souveränitätsrechte des Bundestags (und Bundesrats) beziehen. Die Fraktion DIE LINKE war die einzige Klägerin, die das Problem aufgeworfen hatte, dass der Lissabon-Vertrag den grundgesetzlich geschützten Parlamentsvorbehalt bei der Zustimmung zu Militäreinsätzen im Ausland verletzt.

Jürgen Klute ist Sozialpfarrer und seit der letzten Europawahl Abgeordneter der LINKEN im Europaparlament. Mit ihm sprach Angela Klein.


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SOZ: Das Bundesverfassungsgericht hat am 30. Juni über mehrere Anträge geurteilt, den Lissabon-Vertrag für verfassungswidrig zu erklären. Herausgekommen ist scheinbar ein "teils-teils". Was besagt das Urteil genau?

KLUTE: Die Verteidiger des Lissabon-Vertrags - CDU, Grüne, FDP und SPD - haben die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in ersten Reaktionen als Entscheidung zugunsten des Vertrags und als Scheitern der Kläger interpretiert. Zwar ist der Vertrag als solcher nicht gekippt worden. Das stimmt und das war auch nicht zu erwarten gewesen.

Aus friedenspolitischer Sicht ist aber festzuhalten, dass der Parlamentsvorbehalt bei Militäreinsätzen der Bundeswehr bestärkt worden ist. Das heißt, der Bundestag muss über Militäreinsätze entscheiden, bevor die Regierung Militäreinsätzen auf EU-Ebene im Rahmen eines Ministerratsbeschlusses zustimmen darf.

Vor allem aber ist der Bundestag durch die Verfassungsgerichtsentscheidung in die Pflicht genommen worden. Bisher haben Bundesregierung und Bundestag in stiller Übereinkunft all jene Deregulierungsmaßnahmen, die in der BRD nicht oder nur schwer durchsetzbar waren, gerne solange auf die EU-Ebene befördert, bis sie von der Kommission durchgesetzt wurden. Nun funktioniert die Ausrede nicht mehr, man würde schließlich nur umsetzen, was aus Brüssel kommt. Der Bundestag muss sich zukünftig intensiv mit den politischen Projekten der EU befassen und sich dazu im Vorhinein verhalten. Gegenüber der heutigen Situation ist das ein Fortschritt.

SOZ: Was hat das BVG dann abgelehnt, wenn es den Lissabon-Vertrag selbst nicht abgelehnt hat?

KLUTE: Es hat einen Teil der Begleitgesetze für grundgesetzwidrig erklärt, mit denen der Bundestag und der Bundesrat den Vertrag ratifiziert haben. Ausdrücklich sagt das BVG: "Das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Ausweitungsgesetz) verstößt insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und des Bundesrates nicht in dem erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind."

SOZ: Will das BVG die Bundesregierung damit auf ein Verfahren festlegen?

KLUTE: Im Prinzip ja, aber nach meinen Informationen wird derzeit versucht, das aufzuweichen. Die Bundesregierung will noch vor der Bundestagswahl ein neues Begleitgesetz durch den Bundestag bringen.

SOZ: Worin unterscheidet sich der neue Entwurf gegenüber dem alten?

KLUTE: Es gibt noch keine Vorlagen. Ich weiß nur, dass das Parlament nicht groß interessiert ist an den Rechten, die das BVG ihm zuspricht. Er will hauptsächlich, dass die Bundesregierung handlungsfähig ist. Auch in der Militärfrage will die Mehrzahl der Abgeordneten den Ball so flach wie möglich halten. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das neue Begleitgesetz nicht sehr viel anders ausfällt als das alte.

SOZ: Gäbe es theoretisch die Möglichkeit, gegen ein solches Gesetz wieder vors Verfassungsgericht zu ziehen?

KLUTE: Es gibt zumindest einige Leute, die derzeit überlegen, das zu tun. Es gibt auch in der LINKEN Abgeordnete, die sich beim nächsten Gesetz enthalten wollen. Das wäre jedoch schädlich. Denn die LINKE ist besonders gefordert, wenn das Parlament seine eigenen Souveränitätsrechte nicht in vollem Umfang wahrnehmen will.

SOZ: Wie könnte man ein Parlament dazu zwingen?

KLUTE: 100000 SoZzen drucken und auf der Straße verteilen; den Skandal publik machen; eine Debatte darüber anzetteln, Öffentlichkeit herstellen...

SOZ: DIE LINKE war die einzige Klägerin, die auf den Parlamentsvorbehalt über militärische Einsätze der EU hingewiesen hat. Sie war damit offenkundig erfolgreich?

KLUTE: Ja. Dennoch kann die Entscheidung des BVG auch in diesem Punkt nicht ohne Kritik bleiben. Die Klage der Linksfraktion im Bundestag zielte auf die offensichtlichen Demokratiedefizite der EU. In dieser Frage hat das BVG die Kritik der LINKEN bestätigt. Doch DIE LINKE hatte eine Demokratisierung Europas im Blick, eine EU der Bürgerinnen und Bürger, des sozialen Fortschritts, des Friedens und des Umweltschutzes.

Das BVG versucht hingegen, die von der LINKEN thematisierten Defizite vorrangig auf der nationalstaatlichen Ebene zu korrigieren - andernfalls hätte es den Vertrag zu Fall bringen müssen. Wie weit dieser Weg praktikabel ist, muss sich zeigen. Immerhin sind die Regierungen in Dänemark, Finnland und Österreich in ihren europapolitischen Entscheidung recht eng an Vorgaben ihrer jeweiligen Parlamente gebunden, ohne dass dies zu Problemen geführt hätte. In Dänemark z.B. muss der Minister oder der Ministerpräsident erst vor dem Parlamentsausschuss darlegen, welche Verhandlungsposition er einnehmen will, bevor er sie im Ministerrat vertritt. Und wenn der Ministerrat anders beschließen will, muss er seine Sitzung unterbrechen, damit sich der dänische Minister wiederum mit dem Ausschuss konsultieren kann. Verhandlungsstrategisch ist das eine sehr sinnvolle Regelung, und das dänische Beispiel zeigt, dass sie auch machbar ist.

Ich habe von ausländischen Kollegen immer gehört: Die EU ist so gut wie das, was die Mitgliedsländer wollen. Die deutsche Bundesregierung aber ist die treibende neoliberale Kraft in EU, unabhängig davon, welche Parteien gerade die Regierungskoalition bilden. Das Positive am BVG-Urteil ist: Es will, dass der Bundestag sich zuerst äußert, und dass der Bundestag in die Pflicht genommen wird.

SOZ: DIE LINKE hat auch eingeklagt, der Lissabon-Vertrag verstoße gegen den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit. Das BVG hat diese Klage ausdrücklich für zulässig erklärt, man hat aber nicht den Eindruck, es habe sie in seinen Schlussfolgerungen berücksichtigt.

KLUTE: Es ist eine vertane Chance, dass sich das Bundesverfassungsgericht nicht ernsthaft mit der sozialpolitischen Seite der EU befasst hat. Gerade die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu Laval, Viking und Rüffert haben deutlich gemacht, dass auf EU-Ebene die Rechte von Unternehmen und Kapitalbesitzern Vorrang vor sozialen und Menschenrechten, vor Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten haben. Der Idee der Europäischen Union selbst, ihrer Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger schadet diese einseitige Ausrichtung der Union an Wirtschaftsinteressen. So kann man die geringe Beteiligung an der EU-Wahl durchaus als Ablehnung einer weiteren Stärkung der EU als reine Wirtschaftsunion interpretieren. Gestützt wird diese Deutung dadurch, dass die Beteiligung an den Volksabstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und in Irland deutlich höher waren. Hier haben die Bürgerinnen und Bürger offensichtlich die Chance genutzt, um zu sagen, was für eine EU sie nicht wollen. Eine Bereitschaft zu einer Debatte über das, was die EU positiv sein sollte und was nicht, scheint also vorhanden zu sein. Politisches Ziel, insbesondere der LINKEN, muss daher sein, diese Debatte in Deutschland und in Europa voranzutreiben.

SOZ: Kann man dem BVG an diesem Punkt etwas nachhelfen?

KLUTE: Will man hier in eine andere politische Richtung, dann muss der Lissabon-Vertrag gestoppt werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, die Verabschiedung des Begleitgesetzes erst nach den Bundestagswahlen durchzuführen. Eine Verabschiedung davor dürfte den Druck in Richtung eines Ja zum Lissabon-Vertrag deutlich erhöhen. Damit würde auch der Druck auf die Iren zunehmen, bei der von ihnen verlangten Wiederholung der Volksabstimmung am 2. Oktober (was ein absolut undemokratischer Vorgang ist) nun doch mit Ja zu stimmen, wollen sie nicht das einzige Land in der EU bleiben, in dem ein NEIN zum Lissabon-Vertrag nicht verhindert werden konnte. Diesen Manipulationsversuch zu verhindern, ist für proeuropäische Linke deswegen das Gebot der Stunde.

SOZ: Was will DIE LINKE an die Stelle des Lissabon-Vertrags setzen?

KLUTE: An die Stelle dieses Vertrages muss eine Verfassung treten, die von ihrem Inhalt her diese Bezeichnung auch wirklich verdient. Eine Verfassung formuliert die grundlegenden Rechte, sie formuliert die Menschenrechte und die Grundprinzipien, nach denen ein Staat, eine Gesellschaft funktionieren soll. Sie bildet das Vorzeichen zum Verständnis für alle unterhalb der Verfassung stehenden Gesetze und Regelungen und setzt die Spielregeln für unvermeidliche politische Konflikte. Nur im Rahmen einer solchen Rechtshierarchie ist es letztlich möglich, Menschenrechte, soziale Rechte, Rechte von Arbeitnehmern und Gewerkschaften auf Dauer durchzusetzen und gegen die Interessen der Unternehmen und Kapitalbesitzer erfolgreich zu verteidigen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 24.Jg., September 2009, Seite 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2009