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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1335: Die SPD hinterläßt ein großes Loch


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 - November 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die SPD hinterlässt ein großes Loch
Eine nüchterne Wahlbilanz

Von Angela Klein


Die Bundes- und Landtagswahlen vom 27. September und 30. August stellen eine historische Zäsur dar: DIE LINKE erzielt herausragende Ergebnisse auf beiden Ebenen und etabliert sich als stabile fünfte Partei im Parlament. Die SPD wandert zurück ins 30-Prozent-Ghetto, aus dem Willy Brandt sie 1972 herausgeholt hatte.


Beide Entwicklungen führen paradoxerweise dazu, dass rechnerische Mehrheiten für Rot-Rot-Grün sich nicht mehr ohne weiteres in politische Mehrheiten umsetzen. So geschehen im Saarland, wo eine "linke" Alternative zum deutlich abgewählten Peter Müller an den Grünen scheiterte; so geschehen in Thüringen, wo Christoph Matschie sich über den Willen seiner eigenen Partei hinwegsetzte. DIE LINKE gilt immer noch als Bürgerschreck, obwohl sie es gar nicht sein will; an ihr scheidet sich die Frage nach mehr oder weniger Ausgaben für Soziales und nach der Haltung zum Krieg. Beide Fragen sorgen in den Grünen und in der SPD für Sprengstoff.

Wenn man sich ein Urteil über die Wahlen in diesem Herbst bilden will, darf man nicht nur auf die Bundestagswahlen schauen. Anders als hier nämlich, und mit Ausnahme von Sachsen) hat es bei den Landtagswahlen Ende August und am 27.9. überall Stimmenmehrheiten für Rot-Rot-Grün gegeben - selbst in Schleswig-Holstein, wo das Wahlgesetz es möglich machte, dass diese Stimmenmehrheit sich nicht in eine Mehrheit der Landtagssitze übersetzte.

Ein Beispiel für das unterschiedliche Wahlverhalten für den Bund und fürs Land ist Brandenburg: Hier wurde am selben Tag für Bund und Land gewählt. CDU und FDP haben im Bund um 3,4 Prozentpunkte besser, die SPD hingegen um 1,6 Prozentpunkte schlechter abgeschnitten als im Land, ein Abstand von 5 Prozentpunkten zulasten der SPD im Bund. DIE LINKE schnitt beides Mal ziemlich gleich ab, wurde damit jedoch bei der Bundestagswahl in Brandenburg stärkste Partei, bei der Landtagswahl zweitstärkste Partei.


Der Abstieg

Bei der Bundestagswahl haben die bürgerlichen Parteien nicht gewonnen, sie haben sogar leicht verloren: 2005 erzielten Union und FDP zusammen noch 21.282.250 Stimmen; 2009 sanken sie auf 20.971.084 Stimmen (311.166 weniger). Das Entscheidende, und für linke Politik wesentliche, Element bei dieser Wahl war, dass die SPD 6 Millionen Stimmen verloren hat und mit 23% (9.990.488 Stimmen) auf den niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik gefallen ist. Ein schlechteres Wahlergebnis hat die SPD nur 1890 eingefahren, als die Sozialistengesetze gerade abgeschafft waren, und in den turbulenten Weimarer Jahren 1920, 1924, 1932 und 1933. Turbulent werden die Jahre wieder, und es bestätigt sich erneut, dass die SPD eine Schönwetterpartei ist, dazu in der Lage, für die arbeitende Bevölkerung in Zeiten guter Konjunktur Verbesserungen herauszuholen, aber unfähig, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen, wenn dieser in die Krise gerät.

Die SPD hat keine Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus aussehen könnte. Früher wurde dieses Defizit durch programmatischen Verbalradikalismus und Sonntagsreden überdeckt; seit Godesberg ist der Ballast abgeschafft.

Das kurze Zwischenhoch mit Willy Brandt verdankte sich den Ostverträgen und einer nachholenden Demokratisierung und Modernisierung des Kapitalismus, aber das waren die guten Zeiten. Der Amtsantritt Schröders war noch von Versprechungen für mehr soziale Gerechtigkeit begleitet; als 2003 die Konjunktur nachließ und die Arbeitslosenzahlen auf den höchsten Stand seit 1997 schnellten, kapitulierte Schröder, riss das Ruder herum und schoss dabei mit der Agenda 2010 weit über das Ziel hinaus - nur um die Vermögenden nicht zu verprellen und ihnen auch in Krisenzeiten noch gute Einkünfte in Form von Steuererleichterungen zu ermöglichen.

In der Krise folgt die Nach-Godesberg-SPD den Anforderungen der Kapitalbesitzer und Vermögenden; 1930 war das noch anders, da brachte sie Brünings Notverordnung zu Fall.

Elf Jahre war die SPD jetzt an der Regierung; in diesen elf Jahren hat sie die Hälfte ihrer Wähler verloren und ist auf 500.000 Mitglieder geschrumpft (Ende der 70erJahre hatte sie über eine Million!). Die Schröder-Riege hat ihre Spuren hinterlassen: Politik wurde in seiner Regierungszeit von oben mit Machtwörtern dekretiert ("Basta!"), die Meinung der Kreis- und Bezirksvorsitzenden war nicht mehr gefragt, die untere und mittlere Funktionärsschicht spielte im parteilichen Willensbildungsprozess keine Rolle mehr. Damit wurde auch der Rest an Verbindungen, die zwischen der Basis in den Ortsvereinen, Gewerkschaften und Verbänden und der Parteispitze existierten, gekappt.

Die SPD ist heute keine Partei mehr, die einfachen Leuten hilft, ihre Probleme zu lösen, sie ist nicht mehr die Partei derer, die im Rennen um die Wettbewerbsfähigkeit zurückbleiben. Von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern bekommt sie gerade noch 35% der Stimmen, von den nicht gewerkschaftlich Organisierten 21%.

Seit Schröder predigt sie mehr Eigenverantwortlichkeit, weniger Staat, mehr Privat. Sie lässt ihre Wähler in der Kälte stehen, hat sich neuen Schichten zugewandt, die "in der Mitte" sitzen und ein dickeres Polster haben. Eine Arbeiterpartei ist sie schon rein soziologisch nicht mehr. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder sind Akademiker. Den größten Zulauf an Wählern bekommt sie von Rentnern und Beamten.

Sie ist in sich gespalten, weiß nicht mehr, ob sie den Sozialstaat verteidigen oder ob sie ihn abschaffen soll. Um aus der SPD wieder eine genuine Vertretung der Lohnabhängigen zu machen, müsste eine ganze neue Generation eintreten, die sie darauf verpflichtet. Das ist nicht absehbar, deshalb wird sich die Erosion der Wähler und Mitglieder fortsetzen - was zwischenzeitliche Erholungen nicht ausschließt.


Bedingungen für eine Wende

Die SPD hinterlässt ein großes Loch. Bis in die Amtszeit von Rau hinein hat sie Teile der Gesellschaft strukturiert; zwar nicht mehr mit Arbeitersport- und -kulturvereinen oder Selbsthilfeorganisationen wie in der Weimarer Zeit, sondern mit karriereorientierten Seilschaften, die es verstanden, Pfründe unter ihre Kontrolle zu bekommen, und mit sozialstaatlichen Regelungen, die trotz hoher Arbeitslosigkeit den meisten Menschen ein Auskommen ermöglichte.

Der Wechsel zur Agenda 2010, die Konzentration auf die Medienresonanz zulasten der parteiinternen Debatte und Willensbildung, und die Aushöhlung des Sozialstaats haben der SPD den Boden unter den Füßen entzogen.

DIE LINKE füllt dieses Loch nicht. Sie hat nur ein Sechstel der Stimmen gewonnen, die die SPD verloren hat, und sie hat in das Lager der Nichtwähler keinen Einbruch erzielt, im Gegenteil, sie hat 350.000 Stimmen dahin abgegeben. Trotzdem hat sie einen bemerkenswerten Wahlsieg errungen, 5 Millionen Stimmen erobert und ist in allen Bundesländern über 5% gekommen.

Im Osten ist sie in Brandenburg sogar stärkste Partei, in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zweitstärkste Partei geworden. Sie hat einen stabilen Platz im Fünfparteiensystem erobert. Aber sie ist - zumindest im Westen - eine Wahlpartei; im Osten soll ihre Rolle als "Partei für den Alltag, nicht nur für den Wahltag" auch schwächer geworden sein.

Mit stolz geschwellter Brust geht DIE LINKE nun daran zu überlegen, wie sie die SPD für gemeinsame Regierungskoalitionen gewinnen kann. Es ist ja nicht außerhalb der Welt, dass bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr in NRW die bürgerlichen Parteien weiter verlieren und die SPD sich wieder ein wenig erholt. In der SPD fallen derzeit die Tabus, mit denen DIE LINKE belegt wurde.

Wenn DIE LINKE aber nur darauf schielt, wie sie sich mit einstelligen Stimmergebnissen und null parlamentarischer Erfahrung in (westliche) Landesregierungen beamen kann, wird sie auf die Nase fallen. Denn es fehlt ihr schlicht der gesellschaftliche Unterbau.

Es wird von der LINKEN mehr verlangt, als die sozialdemokratischen Parolen zu verteidigen, die die SPD verlassen hat. Sie muss etwas tun, was die SPD seit dem Krieg vernachlässigt hat: unter den vielen Verlierern der Krise wieder Solidarstrukturen schaffen. Und sie muss diese verbinden mit etwas, was die SPD nie hatte: eine klare Vorstellung von einem gesellschaftspolitischen Ziel jenseits der Profitorientierung - von einer Wirtschaft die nicht mehr auf fossilen Brennstoffen basiert, die die regionalen Kreisläufe stärkt, die Industrie ökologisch umbaut, die Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung, technologischen Wandel und Formen der solidarischen Ökonomie senkt. Das beinhaltet konkrete Schritte auf dem Weg zu mehr öffentlichem Eigentum und mehr direkte Mitsprache- und Kontrollrechte der Bevölkerung durch geeignete Mechanismen der Partizipation.

Eine solche LINKE wäre allerdings auch in einer Regierung Opposition.


Die Aufgabe der kommenden Wochen und Monate für DIE LINKE wie für die sozialen Bewegungen wird sein, mit allen Mitteln die Kräfte der Gegenwehr zu stärken. In Frankreich bilden sich wieder örtliche Komitees gegen die Privatisierung der Post; wie wäre es, wenn es hier etwas Ähnliches gäbe? Das wäre eine Gelegenheit, einen betrieblichen Kampf zu einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung auszuweiten.

Nicht nur die SPD, auch die Gewerkschaften wissen nicht, in welcher Perspektive sie ihre Kämpfe führen wollen. Michael Sommer und Berthold Huber beschwören die Union als Stütze des Sozialstaats. Eine Perspektive für das eigene Handeln ist das nicht. Die Linken in Ver.di und in der IG Metall versuchen, andere Perspektiven zu formulieren. Der Brückenschlag zwischen ihnen, den sozialen Bewegungen und den oppositionell gesinnten Kräften in der LINKEN ist noch schwach, aber dringend nötig. Das Sozialforum im Wendland hat ihn nicht geschafft, vielleicht kommt die Aktionskonferenz am 17. November in Stuttgart ein Stück weiter.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 24.Jg., November 2009, Seite 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2009