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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1951: Ernest Mandel - Lange Wellen der Konjunktur


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, Juli/August 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Lange Wellen der Konjunktur
Die Rhythmen der kapitalistischen Entwicklung

Von Manuel Kellner


Einer der wichtigsten theoretischen Beiträge Ernest Mandels zur politischen Ökonomie war die Fortentwicklung der Theorie der Langen Wellen der kapitalistischen Entwicklung. Die Auseinandersetzung damit ist bis heute aktuell geblieben.


Die Theorie der Langen Wellen der kapitalistischen Konjunktur ist klassischerweise mit dem Namen Nikolai Kondratjew verbunden, der in der Sowjetunion in den 20er Jahren dazu forschte und publizierte, bevor er unter Stalin verhaftet und im Zuge der Moskauer Schauprozesse hingerichtet wurde.

Ernest Mandel hat diesen Ansatz aufgegriffen, war aber im Gegensatz zu Kondratjew der Meinung, dass lange Wellen mit expansiv-prosperierendem Grundton zwar in sich die Bedingungen für den Umschlag in eine nachfolgende Welle mit depressiv-stagnativem Grundton ausbrüten, nicht aber umgekehrt die Wellen mit stagnativ-depressivem Grundton die Bedingungen für eine neue Welle mit expansiv-prosperierendem Grundton. Hierfür seien vielmehr als Auslöser starke "exogene" (außerökonomische) Faktoren erforderlich.

Das unterschied aus seiner Sicht die langen Wellen von den 7- bis 10jährigen Konjunkturzyklen, deren Wechsel mit "endogenen" (wirtschaftlichen) Faktoren erklärt werden könne, weil Krach und Depression die Bedingungen für einen kommenden Aufschwung schaffen und der Boom die Bedingungen für die nächste Krise.

Die außerökonomischen Faktoren erklären eine lange Welle mit expansivem Grundton nicht allein. Hinzu müssen ökonomische Faktoren kommen, die eine Zeit lang den Umschlag in eine Welle mit depressiver Tendenz verhindern. Der Weltmarkt muss dafür expandieren, die Profiterwartungen der Kapitalisten hoch und ihre Bereitschaft groß sein, technologische Neuerungen, die in der vorangehenden Periode entwickelt wurden, auf breiter Skala in den Produktionsprozess einzuführen.


Die Phasen der kapitalistischen Entwicklung

Lange Wellen sind an die kapitalistische Ökonomie gebunden, sie treten also erstmals zu Beginn des 19.Jahrhunderts auf, als der Kapitalismus beginnt, sich als die vorherrschende Wirtschaftsweise auf dem Kontinent durchzusetzen. Mandel unterteilt die kapitalistische Entwicklung bis 1989 in mehrere lange Wellen:

1. Die Periode von 1793 bis 1825. Ihr folgte eine erste Welle mit stagnativ-depressivem Grundton 1826-1847.

2. Die aufsteigende Phase 1848-1873 wird ausgelöst durch die Entdeckung der kalifornischen Goldfelder und getragen von der Einführung neuer großer Maschinen in die Produktion. 1874-1893 folgt darauf eine Welle mit stagnativ-depressiver Tendenz - die Verallgemeinerung des Einsatzes der genannten Maschinen hatte die Quellen der Extraprofite erstickt.

3. Die dritte lange Welle mit expansiver Tendenz 1894-1913 wurde von der Aufteilung der Welt unter die führenden Industriestaaten ausgelöst und vom Aufkommen des klassischen Imperialismus und Monopolkapitalismus geprägt. Ihr folgte die lange depressive Zeit von 1914 bis 1939. Der Erste Weltkrieg hatte den Welthandel zerrüttet und in die kapitalistische Beherrschung der Welt war durch die Oktoberrevolution von 1917 in Russland eine Bresche geschlagen worden.

4. 1940 (für Europa 1948) bis 1967 folgte die vierte lange Welle mit expansivem Grundton. Die Zerstörungen, die der Faschismus und der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatten, boten viel Platz für einen kapitalistischen Wiederaufbau, zumal er wesentlich vom Sieger des Krieges, den USA, ermöglicht wurde und die katastrophalen Niederlagen der Arbeiterbewegung in den 30er Jahren eine revolutionären Lösung wie nach dem Ersten Weltkrieg ausschlossen. Der Ausbeutungsgrad der Lohnabhängigen konnte zwar spektakulär gesteigert werden, schließlich stieg aber auch ihr Lebensstandard: sie erhielten Zugang zu billigeren langlebigen Konsumgütern, die Reallöhne stiegen über einen längeren Zeitraum wieder an, die Erwerbslosigkeit sank, zumindest in den führenden Industrieländern, und die Sozialleistungen verbesserten sich spürbar (Rente, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall usw.).

Die Expansion stieß 1966/67 erstmals an ihre Grenzen und mündete 1974 in die erste Weltwirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg. Mandel sagte einen solchen Umschlag früh voraus - bereits 1964 in einem Beitrag für die Zeitschrift von Jean-Paul Sartre Les Temps Modernes. In seinem Spätkapitalismus (1972) benannte er die Tendenz zur keynesianischen Krisendämpfung und betonte: "Die Kehrseite dieser Entwicklungen liegt in einer Tendenz zur permanenten Inflation, vor allem zur Kreditinflation."


Grundtendenz Barbarei

Hat der Zusammenbruch der Sowjetunion und der "Triumph des Kapitalismus" seit Beginn der 90er Jahre eine neue lange Welle mit expansiver Tendenz eingeläutet? Darüber hat es auf Zusammenkünften und in der Presse der IV. Internationale Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre unter Ökonomen eine ausführliche und differenzierte Debatte gegeben - ihre vorläufigen Ergebnisse hat der verantwortliche Redakteur von Inprecor (der Zeitschrift der IV. Internationale in französischer Sprache), Jan Malewski, im Oktober 2000 zusammengefasst.

Vereinfacht gesagt, lautete das Ergebnis, dass es eine solche neue expansive Welle nicht gibt. Charakteristisch für lange Wellen mit stagnativ-depressivem Grundton sind unter anderem scharfe und potenziell explosive Konjunkturkrisen sowie die Unfähigkeit, in der Boomphase die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Bekanntlich ist die Neigung des Großkapitals zu produktiven Investitionen aber nach wie vor eingeschränkt, das Schlagwort vom "finanzmarktgetriebenen Kapitalismus" spiegelt eher die anhaltende Flucht großer Kapitalien in spekulative und unproduktive Anlagen wider.

Die Diskussion über die langen Wellen und die Frage, wie der kurze Boom der New Economy und der beeindruckende Aufschwung des Kapitalismus in ehemals staatssozialistischen und in Schwellenländern einzuschätzen ist, ist verwickelter, als hier in einem kurzen Beitrag dargelegt werden kann. Das betrifft nicht nur die empirischen Untersuchungsmöglichkeiten - die marxistischen Wertkategorien (es geht ja um die Entwicklung der Profit- und Akkumulationsraten) finden sich ja nicht einfach in den gegebenen statistischen Befunden wieder, weshalb methodisch schwierige indirekte Maßstäbe angelegt werden müssen.

Es gibt auch epochale Grundtendenzen im Kapitalismus, die nicht nur die Konjunkturkrisen, sondern auch die langen Wellen überlagern. So unterscheidet Mandel das Zeitalter des Kapitalismus in eine allgemeine Aufstiegsphase (im 19. Jahrhundert), die mit dem Eintritt in den Imperialismus gegen Ende des Jahrhunderts in eine Phase des Niedergangs umgeschlagen ist und die Menschheit seitdem vor die Alternative "Sozialismus oder Barbarei" stellt.

Im Herbst 1994, wenig mehr als ein halbes Jahr vor seinem Tod, leitet Ernest Mandel seinen verschriftlichten Beitrag zu einem Kolloquium im "Kulturzentrum Rote Fabrik" in Zürich mit einer Erwähnung der langen Welle mit stagnativ-depressiver Tendenz ein, deren Beginn er hier mit dem Jahr 1973 datiert und deren Ende er nicht kommen sieht. Er zählt dazu einige Symptome auf wie die anhaltende Massenerwerbslosigkeit und die Tatsache, dass die Spekulation auf den globalen Devisenmärkten "von den Großbanken und von einem nicht unbedeutenden Teil der Großindustrie, d.h. vom Kern der kapitalistischen Klasse getragen" wird.

Er hält jedoch keinen Fachbeitrag, sondern formuliert einen leidenschaftlichen Appell zu Aktivität, Widerstand, Rebellion und zur Überwindung der Glaubwürdigkeitskrise der sozialistischen Idee. Dazu bringt er das Beispiel der drei Frösche, die in ein Milchfass gefallen sind. Der neokonservative Frosch sagt, es sei sowieso alles verloren, weil Frösche eben schlecht sind. Der sozialdemokratische Frosch sieht das zwar anders, meint aber, man könne nichts machen. Beide ertrinken. Nur der linke, der revolutionäre Frosch lehnt diese Passivität ab und strampelt und strampelt - bis die Milch zu Butter geworden ist und er allein überlebt.


LITERATUR

- Ernest Mandel:
Die Langen Wellen im Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung. Frankfurt a.M.: isp-Verlag, 1983.

- Michel Husson:
Nach dem Goldenen Zeitalter. In: Gerechtigkeit und Solidarität. Ernest Mandels Beitrag zum Marxismus (Hrsg. G.Achcar). Köln: Neuer ISP Verlag, 2003.

- Francisco Louçã:
Ernest Mandel und der Pulsschlag der Geschichte. In: ebd. (dieser Beitrag zeichnet die Ideengeschichte zu den "Langen Wellen" nach).

- Manuel Kellner:
Gegen Kapitalismus und Bürokratie. Zur sozialistischen Strategie bei Ernest Mandel. Köln, Karlsruhe: Neuer ISP Verlag, 2009 (in dieser Werkbiografie findet sich ein Unterkapitel über Mandels Version der "langen Wellen der Konjunktur").

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 30. Jg., Juli/August 2015, S. 19
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2015

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