SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10 · Oktober 2018
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!
"Es ändert sich erst was, wenn wir anfangen, gemeinsam zu
kämpfen"
Alexandra Willer hat am Uniklinikum Essen den Streik gegen den
Personalmangel mit angeführt
Interview mit Alexandra Willem von Petra Stanius und Ralf Hoffmann
An den Krankenhäusern reißen die Streiks gegen den Personalmangel
nicht ab. Ende Juni sind an den Unikliniken Düsseldorf und Essen
Hunderte Beschäftigte für mehr Personal im Krankenhaus in den Streik
getreten, Ende August haben sie ihren Streik mit einem Teilerfolg
beendet.
Alexandra Willer ist Mitglied des Streikkomitees, das sich die
Streikenden am Uniklinikum Essen zur Leitung ihres Streiks gewählt
haben. Für die SoZ haben Petra Stanius und Ralf Hoffmann mit ihr über
den Streik und seinen Verlauf gesprochen und sie gefragt, wie sie das
Ergebnis beurteilt.
SoZ: Was waren die Gründe für den Streik und was wollt ihr damit?
Alexandra Willer: Seit mehreren Jahren ist spürbar, dass bei
uns viele den Personalmangel, die Überlastung und unmöglichen
Arbeitszeiten nicht mehr ertragen können. In diesem Streik ist die
bislang eher ohnmächtige, individuelle Wut zum ersten Mal in
Entschlossenheit umgeschlagen - in die Entschlossenheit, gemeinsam
etwas dagegen zu unternehmen.
Entsprechend war auch die allgemeine Forderung: Mehr Personal und
Entlastung für alle!
Was das für die verschiedenen Beteiligten heißt, ist ganz
unterschiedlich. Deshalb haben sich alle Streikenden in den ersten
Streiktagen zusammengesetzt und ihre konkreten Forderungen entwickelt.
Für die Pflegekräfte etwa war eine der wichtigsten Forderungen, dass
es verbindliche Mindestbesetzungen gibt und der Vorstand verpflichtet
ist, bei Unterbesetzung die Arbeit zu verringern und notfalls Betten
zu schließen. Die wichtigste Forderung der Reinigerinnen war, dass sie
endlich nicht mehr zwölf Tage am Stück arbeiten müssen.
Anders als die meisten Streiks der letzten Jahrzehnte war der Streik
damit ein offensiver Kampf.
SoZ: Wer hat alles am Streik teilgenommen?
Alexandra Willer: Über 15 verschiedene Berufsgruppen waren
dabei: Pflegekräfte, Servicekräfte, Reinigerinnen, Elektriker,
Labor- und Röntgenassistentinnen, Erzieherinnen, Angestellte der
Verwaltung und viele mehr. Gemeinsam haben sie alle an einem Strang
gezogen, was im Krankenhaus etwas Besonderes ist. Denn die Hierarchien
zwischen den Berufsgruppen und berufsständische Ansichten sind hier
besonders ausgeprägt.
Außerdem haben Beschäftigte der Tochtergesellschaften des Uniklinikums
Düsseldorf mitgestreikt. Eine Forderung unseres Streiks war, dass die
Beschäftigten der Tochterfirmen endlich einen Tarifvertrag bekommen.
SoZ: Wie hoch war die Streikbeteiligung insgesamt?
Alexandra Willer: Wir waren nur eine Minderheit, in Essen
durchschnittlich zwischen 200 und 350 Streikende pro Tag. Doch diese
Minderheit war sehr entschlossen. Der Vorstand hat vieles versucht, um
diese Entschlossenheit zu brechen und den Streik zu beenden. Er hat in
Artikeln und großen Anzeigen in der Presse behauptet, der Streik würde
Menschenleben gefährden. Er hat versucht, die Nichtstreikenden gegen
die Streikenden aufzuhetzen. Er hat versucht, die Streikenden zu
erpressen nach dem Motto: "Wir verhandeln mit euch, aber erst, wenn
ihr den Streik beendet." Dann hat er versucht, die Streikenden über
die Zeit mürbe zu machen.
Nichts davon hat funktioniert. Die Streikenden haben weiter
durchgehalten. Und noch mehr: Über 30 Kolleginnen und Kollegen - die
zum Teil vorher nie gewerkschaftlich aktiv gewesen waren - haben sich
aktiv an der Leitung des Streiks beteiligt, doppelt so viele an der
täglichen Organisation des Streiks. Und die große Mehrheit der
Streikenden hat über Wochen fast täglich bei Aktionen nach innen wie
nach außen mitgemacht. Sie haben ihren Streik selber in die Hand
genommen.
SoZ: Wie war das Verhältnis zwischen den Streikenden und denen, die nicht gestreikt haben?
Alexandra Willer: Wir sind so oft wie möglich mit vielen Kolleginnen und Kollegen durch das Klinikum gegangen und haben mit denen gesprochen, die nicht streiken. Dabei haben wir immer wieder festgestelllt, dass die allermeisten mit unserem Streik solidarisch waren und uns unterstützen, auch wenn sie sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sahen, mit zu streiken. Der Vorstand hat mit Verleumdungskampagnen versucht, einen Keil zwischen Streikende und Nichtstreikende zu treiben. Doch nicht zuletzt, weil wir immer einen engen Kontakt zu den Nichtstreikenden gesucht haben, hat er es nicht geschafft. Und diese ungebrochene Sympathie eines Großteils der Beschäftigten hat sicher eine Rolle dabei gespielt, dass der Vorstand trotz des Minderheitenstreiks letztlich nachgegeben hat.
SoZ: Habt ihr auch von anderer Seite Solidarität erfahren?
Alexandra Willer: Ich glaube, niemand von den Streikenden wird
jemals vergessen, wie viel Unterstützung wir bekommen haben. Hunderte
von Solibotschaften aus dem ganzen Land haben wir erhalten. Wir sind
zu rund zwanzig anderen Krankenhäusern gefahren, zu verschiedenen
anderen Betrieben, in zahlreiche Stadtteile. Überall haben wir fast
ausnahmslos Solidarität erfahren, die Menschen haben uns mit ihrer
Unterschrift und teilweise auch finanziell unterstützt.
Einmal haben wir entschieden, innerhalb einer Woche eine Solidemo zu
organisieren - und mehrere hundert Menschen sind gekommen! Auch
Patienten und Angehörige haben oft ihre Sympathie für unseren Streik
bekundet. Die erlebte Solidarität hat allen enorm geholfen, den Streik
so lange durchzuhalten, und ist auch eine wichtige Erfahrung für die
Zukunft.
SoZ: Wie bewertest du das Ergebnis eures Streiks?
Alexandra Willer: Angesichts des Kräfteverhältnisses - ein paar
hundert Streikende gegen den Vorstand, die Landesregierung und den
bundesweiten Arbeitgeberverband - ist es beeindruckend, was die
Streikenden mit ihrer Entschlossenheit und der breiten Solidarität
haben durchsetzen können: 180 zusätzliche Arbeitsplätze pro Klinikum,
darunter 40 für die nichtpflegerischen Berufe; verpflichtende
Besetzungen auf den Stationen, bei deren Unterschreitung Maßnahmen bis
hin zu Bettenschließungen ergriffen werden müssen; Tarifverhandlungen
für die Tochterfirmen.
Am Ende waren die Vorstände gezwungen, auch mehr Personal für die
nichtpflegerischen Berufe herauszurücken und Tarifverhandlungen mit
den Tochtergesellschaften zuzusagen, obwohl sie darüber ursprünglich
gar nicht verhandeln wollten.
Doch ein noch größerer Erfolg sind all die Erfahrungen, die gemacht
wurden: Das Bewusstsein und Selbstbewusstsein, das Hunderte Streikende
gewonnen haben, und der Zusammenhalt über die Berufsgrenzen hinweg,
der in dem Kampf entstanden ist. All dies ist für die Zukunft und die
Situation der Beschäftigten noch viel entscheidender als das
materielle Ergebnis.
SoZ: Siehst du eine besondere Relevanz dieses Streiks im Vergleich zu Arbeitskämpfen, bei denen eine Lohnerhöhung im Vordergrund steht?
Alexandra Willer: In der Öffentlichkeit wurde unser Streik zum
Teil als "Streik für die Allgemeinheit" gelobt - im Vergleich zu
"egoistischen" Streiks für mehr Lohn. Wir haben versucht, solchen
Aussagen entgegenzuwirken, denn sie sind gefährlich. Die
Arbeiterklasse ist täglich für die Allgemeinheit da, denn sie hält mit
ihrer Arbeit die gesamte Gesellschaft am Laufen. Sie hat alles Recht,
dafür sowohl vernünftige Arbeitsbedingungen wie vernünftige Löhne zu
fordern.
In unserem Streik waren beide Fragen übrigens gar nicht so getrennt.
Die Servicekräfte bspw. haben gefordert, dass sie von Teilzeit auf
Vollzeit aufstocken können, weil sie die Arbeit in sechs Stunden nicht
schaffen und weil der Lohn sonst nicht reicht. Und für die Arbeitenden
der Tochtergesellschaften ging es sogar hauptsächlich um mehr
Lohn.
Wir stellten fest, dass sich Kolleginnen und Kollegen der
unterschiedlichsten Branchen von allen unseren Forderungen
angesprochen fühlen. Denn überall leiden sie im Grunde unter denselben
Angriffen: unter Stellenabbau und Überlastung ebenso wie unter
Zwangsteilzeit oder Auslagerungen mit Niedriglöhnen.
Sowohl die Forderung nach mehr Personal und Entlastung wie auch die
nach mehr Lohn und Vollzeitstellen sind Forderungen, die die gesamte
Arbeiterklasse vereinen und perspektivisch größere,
branchenübergreifende Kämpfe möglich machen können. Und nur das ist
wichtig.
SoZ: Siehst du mögliche Verbindungen eurer Auseinandersetzung zu anderen gesellschaftlichen Kämpfen?
Alexandra Willer: Sicher, das Gesundheitswesen wird immer
stärker auf Wirtschaftlichkeit und Profitlogik ausgerichtet. Doch
diese Profitlogik durchzieht die gesamte kapitalistische Gesellschaft
- und sie ist in der Autoindustrie oder Lebensmittelindustrie genauso
eine Katastrophe wie im Gesundheitswesen. In der Krise setzt die
herrschende Klasse diese Logik besonders brutal durch. Es hilft
niemandem, wenn man die Illusion schürt, man könne inmitten des
Kapitalismus und seiner Krise ein staatliches Gesundheitswesen
schaffen, das von dieser Entwicklung ausgenommen ist.
Auch diese schlimme Entwicklung hat etwas Positives: Mit dem Einzug
der Profitlogik in die Krankenhäuser haben viele Beschäftigte dort
angefangen, sich mehr als Arbeitende und weniger als Helfende zu sehen
und sich zu sagen, dass sie streiken können. Es ist möglich, ein
Bewusstsein davon zu entwickeln, dass sie dieselben Probleme und
Gegner haben wie die Beschäftigten der anderen Branchen. Wie bedeutend
das ist, haben wir gerade bei unserem Streik erlebt. Und ich finde es
wichtig, dieses Bewusstsein zu stärken.
Denn letztlich wird sich auch für die Arbeitenden im Gesundheitswesen
erst dann wirklich etwas ändern, wenn sie und die Arbeitenden der
anderen Branchen anfangen, gemeinsam zu kämpfen: Heute, um sich gegen
den wachsenden Wahnsinn auf der Arbeit zu wehren, und morgen, um die
Gesellschaft von diesem ganzen kapitalistischen System mit seiner
Profitlogik zu befreien.
*
Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 33. Jg., Oktober 2018, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2018
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