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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2437: Krieg um Rojava, Kampf um die Türkei


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 · November 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Krieg um Rojava, Kampf um die Türkei
Der Verrat der USA zwingt die Autonomieverwaltung zum Bündnis mit Damaskus

von Nick Brauns


Am 9. Oktober begann der schon lange von der türkischen Staatsführung angedrohte Angriffskrieg auf die als Rojava bekannte Selbstverwaltungsregion im Norden und Osten Syriens. Vorangegangen war die Erklärung von US-Präsident Donald Trump, die in Nordsyrien offiziell zum Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) stationierten US-Soldaten abzuziehen, um einen Zusammenstoß der beiden NATO-Partner zu verhindern.


Dies wurde vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu Recht als grünes Licht für den Einmarsch verstanden. Die Autonomieverwaltung selbst hat in den USA immer nur einen taktischen Verbündeten gesehen. Die Plötzlichkeit der Rückzugsentscheidung, die Trump ohne Konsultation seiner eigenen Regierung oder Militärführung per Twitter bekanntgab, wurde nichtdestotrotz als Verrat empfunden. Denn noch im August hatte die US-Regierung zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden türkischen Invasion in Nordsyrien mit Ankara und den Demokratischen Kräften Syriens (DKS) einen "Sicherheitsmechanismus" vereinbart. Auf US-Geheiß hin zerstörten die DKS als vertrauensbildende Maßnahme Grenzbefestigungen und zogen sich fünf Kilometer tief ins Landesinnere zurück.

Der "Sicherheitsmechanismus" konnte Ankara allerdings nicht zufriedenstellen, da von der Autonomieregion ja keinerlei militärische Gefahr für die Türkei ausging. Bedroht sah sich die türkische Regierung vielmehr durch die Ausstrahlungskraft des dortigen, an den Ideen des PKK-Vordenkers Abdullah Öcalan orientierten Gesellschaftssystems, insbesondere auf Kurden und Linke innerhalb der Türkei.


Das Kriegsziel der Türkei

Erklärtes Kriegsziel der Türkei ist, Nordsyrien von den als "Terroristen" bezeichneten DKS zu "säubern" und eine rund 450 Kilometer breite und 30 Kilometer tiefe, auf syrisches Territorium reichende "Sicherheitszone" unter Kontrolle der türkischen Armee zu errichten. Innerhalb dieses Besatzungsgebietes, das fast alle größeren Städte der Selbstverwaltungsregion umfasst, plant Ankara den Bau von über hundert neuen Orten zur Ansiedlung von Millionen in der Türkei lebenden und dort vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise zunehmend angefeindeten syrischen Flüchtlinge. Da die Flüchtlinge in der Masse sunnitische Araber aus anderen Teilen Syriens sind, würde dies eine massive demografische Veränderung der Bevölkerungsstruktur zuungunsten der Kurden, wenn nicht sogar deren Vertreibung bedeuten.

Da die türkische Armee nicht die Kraft hat, auf einen Schlag die gesamte Autonomieregion zu besetzen, besteht ihre Taktik darin, das Selbstverwaltungsgebiet von der Mitte her zu zerteilen. In einer zweiten Phase sollen von einem dort errichteten Brückenkopf aus weitere Gebiete besetzt werden. Zwar erfolgten auch auf die Städte Kobanê, Qamishli und Derik Luft- und Artillerieangriffe. Doch der Schwerpunkt der Militäroperationen liegt auf dem 150 Kilometer breiten und mehrheitlich von Arabern besiedelten Gebiet zwischen den Grenzstädten Tal Abyad (Girê Sipî) und Serê Kaniyê (Ras al-Ain).

Tal Abyad, das bis 2015 als wichtigste Durchgangsstation des IS für Kämpfer und Güter aus der Türkei diente, fiel relativ schnell an die türkische Armee. Dagegen hielten die Verteidiger der umzingelten Stadt Serê Kaniyê - darunter Kommunisten aus der Türkei sowie eine syrisch-armenische Einheit - den zahlenmäßig und waffentechnisch massiv überlegenen Invasionstruppen auch nach zehn Tagen noch stand.

Am Boden kämpfen hauptsächlich die Söldner der sog. Syrischen Nationalarmee, die unter türkischer Aufsicht aus einer Vielzahl früher zur Freien Syrischen Armee zählender jihadistischer Kampfgruppen einschließlich ehemaliger Angehöriger von al-Qaeda und des Islamischen Staates gebildet wurde.

Luft- und Artillerieangriffe richten sich insbesondere gegen die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Strom- und Wasserversorgung und Großbäckereien. Dahinter steht das Ziel, die Zivilbevölkerung zu vertreiben. Um die 200.000 Menschen sind auf der Flucht aus ihren Heimatorten, die Zahl der zivilen Toten ging bereits nach den ersten zehn Kriegstagen in die Hunderte. Gezielt wurden Gefängnisse und Internierungslager für IS-Angehörige von der türkischen Armee bombardiert. Allein aus dem Lager bei Ain Issa konnten so etwa tausend IS-Kämpfer und Familienangehörige entkommen.


Der innenpolitische Zweck

Wie schon beim Einmarsch in den syrisch-kurdischen Kanton Afrin wird die Türkei von einer massiven nationalistischen Welle erfasst. Diejenigen, die die "Operation Friedensquelle", wie der Angriffskrieg im Stile Orwellschen Neusprechs offiziell heißt, in sozialen Medien kritisieren, riskieren ihre Festnahme und eine Anzeige wegen Terrorpropaganda. Ein innenpolitisches Kriegsziel hat der nach den Kommunalwahlen politisch angeschlagene Erdoğan, dessen Regierungspartei AKP deutliche Absetzungserscheinungen zeigt, bereits erreicht. Die im Zuge der Wahlen in Istanbul erfolgte Annäherung der säkular-kemalistischen und links-kurdischen Oppositionsparteien dürfte vorerst Geschichte sein. So stellte sich die kemalistisch-sozialdemokratische CHP ebenso wie alle übrigen Parteien mit Ausnahme der linken HDP vorbehaltlos hinter den Überfall auf das Nachbarland. Auch der als demokratischer Hoffnungsträger gehandelte Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, erklärte seine Zustimmung.

Dahinter mag weniger nationalistische Begeisterung stecken als die altbekannten Sorgen eines Sozialdemokraten, andernfalls als "vaterlandsloser Geselle" zu gelten. Nur wenige prominente CHP-Mitglieder, wie die Istanbuler Parteivorsitzende Canan Kaftancioglu und der kurdischstämmige Abgeordnete Sezgin Tanrikulu, äußerten sich kritisch gegen den Krieg.


Neues Abkommen mit Syrien

Bislang konnte sich Rojava halten, indem einerseits auf die eigene Kraft durch Organisierung und Mobilisierung der Bevölkerung vor Ort gesetzt wurde, andererseits die Widersprüche der Groß- und Regionalmächte untereinander ausgenutzt wurden. Doch keine dieser Mächte hat ein Interesse am Fortleben der Rojava-Revolution. Denn der radikaldemokratische, feministische und auf die Geschwisterlichkeit der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen des Bevölkerungsmosaiks im Mittleren Osten setzende, perspektivisch auch antikapitalistische Anspruch der Rojava-Revolution steht den kolonialistischen und imperialistischen Hegemonieprojekten dieser Staaten diametral entgegen.

Von ihren US-Partnern in Stich gelassen, sah die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, deren Verteidigungskräfte über keine Luftabwehr verfügen, keinen anderen Weg, als nunmehr ein Abkommen mit dem syrischen Regime zu suchen. Vereinbart wurde, dass die Regierungstruppen Stellung an den Nordgrenzen des Landes beziehen, um gemeinsam mit den DKS die Souveränität und Einheit Syriens gegen die türkische Aggression zu verteidigen. Infolge dieses Abkommens rückte die Syrisch-Arabische Armee begleitet von russischer Militärpolizei in mehrere direkt von türkischen Angriffen bedrohte nordsyrische Städte wie Manbij und Kobanê ein, aus denen die US-Truppen zuvor teils fluchtartig abgezogen waren. Die syrischen Regierungstruppen übernahmen zudem wichtige Infrastruktur wie den Taqba-Staudamm.

Das Abkommen, für dessen Umsetzung Russland als Schutzmacht Syriens garantieren soll, war aus Sicht der Autonomieverwaltung notwendig, um die Angriffe des türkischen Staates abzuwehren und den Schutz der Bevölkerung zu garantieren. "Die Abmachung zwischen uns hat keinen politischen Hintergrund. Sie ist rein militärischer Natur", betonte der Oberbefehlshaber der DKS, Mazlum Abdi Kobanê. "Nur dort, wo es nötig ist, werden wir gemeinsam mit der syrischen Armee kämpfen. Später werden wir für die Zukunft Syriens die Grundlagen für ein politisches Abkommen ansteuern."


Kein Projekt der Sezession

Die politischen Selbstverwaltungsstrukturen und die ihr unterstehenden Kräfte der inneren Sicherheit sind von dem Abkommen nicht betroffen und existieren weiter. Dass das syrische Regime über kurz oder lang versuchen wird, seine gestärkte Position dafür zu nutzen, die rätedemokratischen Strukturen in Rojava zurückzudrängen und auszuschalten, ist zu befürchten. Doch bei einer hochpolitisierten und gut organisierten Bevölkerung, die einmal den Atem der Freiheit geschmeckt hat, dürfte zumindest ein gewaltsames Vorgehen gegen die Selbstverwaltungsstrukturen auf massiven Widerstand stoßen.

Die Internationalistische Kommune von Rojava, in der anarchistische und kommunistische Freiwillige aus vielen Ländern organisiert sind, betont in einer Erklärung, dass das Abkommen "keinen Schwenk in der taktischen Linie der Autonomieverwaltung darstellt, sondern die direkte Fortsetzung des Lösungsansatzes der Bewegung ist". Die Strategie der demokratischen Autonomie sei niemals ein Projekt der Sezession vom syrischen Zentralstaat gewesen, sondern strebe eine Lösung der Krise innerhalb der demokratischen Einheit aller Teile Syriens an. "Die Revolution hat ihre eigenen Prinzipien, und diese sind nicht verhandelbar; nicht gegenüber den USA, Russland oder auch dem syrischen Regime", erklärt die Internationalistische Kommune weiter. "Das Projekt eines vereinigten, demokratisch-föderalen und unabhängigen Syriens wird auch weiterhin die Linie des Dialogs mit der Zentralregierung definieren."

Vom Ausgang des Krieges gegen Nordsyrien, der mit Fug und Recht als ein NATO-Krieg gesehen werden muss, hängt nicht nur die Zukunft der demokratischen Revolution in Rojava ab. Dieser Krieg wird zugleich entscheidend für die Türkei sein. Sollte die Türkei - mit Rückendeckung der um ihre Gunst wetteifernden Großmächte USA und Russland - als Siegerin aus dem Krieg hervorgehen, wäre das AKP-Regime auf lange Sicht stabilisiert. Eine Niederlage aber könnte Erdoğans Sturz beschleunigen. Damit ist der Kampf der heute an der Seite ihrer kurdischen und arabischen Genossen in Rojava stehenden türkischen Kommunisten auch ein Kampf für die Freiheit ihres eigenen Landes.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 34. Jg., November 2019, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2019

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