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VORWÄRTS/584: Überwindung der Barbarei


vorwärts - die sozialistische zeitung, 1. Mai-Nr. vom 28. April 2009

Überwindung der Barbarei

Von Siro Torresan


Die Forderung nach Integration ist konservativ und verlangt gleichzeitig die Quadratur des Kreises. Ziel muss die gesellschaftliche Partizipation der Menschen sein, denn sonst bleiben wir im Heute stehen.


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Die "okaj zürich" ist der kantonale Dachverband der offenen, verbandlichen und kirchlichen Jugendarbeit und vom Kanton Zürich mit der kantonalen Jugendförderung beauftragt. In ihrem Grundsatzpapier mit dem Titel "Jugendarbeit und Integration" ist zu lesen, dass "verschiedene Dimensionen der Integration" unterschieden werden können. Eine dieser Dimensionen ist die "kulturelle oder subkulturelle Integration". Das ist nicht ganz einfach zu verstehen. Alleine schon unter der "kulturellen Integration" kann man sich vieles vorstellen, was gleichzeitig noch mehr Fragen aufwirft: Muss ich drei Bücher von Friedrich Dürrenmatt lesen, zwei Lieder von Mani Matter oder Polo Hofer singen können? Oder das Alphorn blasen? Bläst oder spielt man dieses musikalische Urkulturgut der Schweiz? Oder reicht es, wenn ich die Rösti goldbraun hinkriege, an Wilhelm Tell glaube, obwohl es ihn nie gab, bedingungslos zum Bankgeheimnis stehe und schwarze Schäfchen der SVP nicht sooo schlimm finde? Ja, das mit der "kulturellen Integration" hat so seine Tücken, und wenn noch die "subkulturelle" hinzukommt, ja dann guet Nacht am Foifi - oder ist es doch Sächsi?

Auf alle Fälle regt das Dokument der "okaj" an, sich grundsätzlich Gedanken zum Thema Integration zu machen. So wird in der "kulturellen oder subkulturellen Dimension" die Integration wie folgt definiert: "Verinnerlichung der verfassungsrechtlich geschützten Werte eines demokratischen Rechtsstaates und sprachliche Integration". Verinnerlichung? Verfassungsrechtlich geschützte Werte? Demokratischer Rechtsstaat? Mit Letzterem ist die Confoederatio Helvetica, also "unsere" Schweiz gemeint. Jener "Rechtsstaat", der zwei 15jährige Jugendliche für fast drei Wochen in U-Haft nimmt, weil sie angeblich kurz vor dem WEF in Davos Farbbeutel auf das UBS-Hauptgebäude in Zürich geworfen haben sollen. "Unsere" heilige Kuh UBS, die 68 Milliarden Steuergelder von den demokratisch gewählten VolksvertreterInnen geschenkt bekommen hat, um jetzt als Dankeschön mehrere tausend Angestellte auf die Strasse zu stellen und Lehrstellen zu vernichten. Dazu schweigt der "Rechtsstaat". Integration bedeutet nun sich zu verinnerlichen, dass in "unserem demokratischen Rechtsstaat" Tausende von Entlassungen weit weniger schlimm sind als vier oder fünf Farbbeutel an einer UBS-Fassade.

Was "unsere" Schweiz aber tatsächlich hat, ist eine Verfassung. Ich behaupte mal Folgendes: Würde ich 100 Schweizerinnen und Schweizer nach einem in ihrer Verfassung geschützten Wert fragen, hätte die Hälfte keine Ahnung, würde mich mit grossen, fragenden Augen anschauen und vielleicht gar glauben, ich sei ein Flüchtling aus einem Berlusconiland, der hier die Demokratie sucht. Die grosse Mehrheit der anderen Hälfte würde mir stolz antworten: Das Stimm- und Wahlrecht! Um dieses Grundrecht in Anspruch nehmen zu können, brauche ich in "unserer" Schweiz den roten Pass mit weissem Kreuz. Habe ich den nicht, werde ich von diesem "verfassungsrechtlich geschützten Wert" ausgeschlossen. Integration heisst nun sich zu verinnerlichen, dass in unserer demokratischen Schweiz nicht alle Menschen die gleichen Rechte haben und daher nicht alle gleich sind. Die mit "unserem" Pass sind gleicher als die mit dem anderen Pass und folgerichtig die "Mehrgleichen", die über die "Wenigergleichen" bestimmen.

Integration verlangt von denen, die sich zu integrieren haben, die Quadratur des Kreises: Wie kann mensch sich in ein gesellschaftliches System integrieren, dessen Pfeiler in der tagtäglichen Lebenspraxis oft Ausgrenzung, Ausbeutung und Rassismus sind?

Die Forderung nach Integration ist konservativ, denn sie beinhaltet nichts, dass das Bestehende überwindet oder zumindest in Frage stellt. Integration kann daher nicht das Ziel sein! Vielmehr muss die gesellschaftliche Partizipation aller Menschen gefordert und ermöglicht werden. Das bedeutet die Möglichkeit der Teilnahme und der Mitbestimmung in allen gesellschaftlichen "Dimensionen". Dafür braucht es zugängliche und kostenlose Bildung für alle, genügend Lehrstellen, selbstverwaltete Freiräume vor allem für Jugendliche und das Stimm- und Wahlrecht für alle. Es sind dies lediglich vier Beispiele von "verfassungsrechtlich geschützten Werten", die in der Verfassung von Morgen stehen müssen, um das Heute zu überwinden. Sonst bleibt die Barbarei bestehen, die auf den Namen Kapitalismus hört. Es lebe der 1. Mai!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
1. Mai-Nr., 65. Jahrgang, 28. April 2009, Seite 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2009