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VORWÄRTS/589: Feindbild "Zigeuner"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 24/25/09 vom 12. Juni 2009

Feindbild "Zigeuner"


mic. Rund zehn bis zwölf Millionen Roma leben in Europa. Sie sind damit Europas grösste ethnische Minderheit und leben unter prekärsten Bedingungen, überwiegend in Osteuropa. Rassistische Übergriffe, staatliche Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung sind ein fester Bestandteil ihres Lebensalltags


Sie sind Europas vergessenes Volk. Die Roma, besser bekannt als "Zigeuner" wie man sie im Volksmund auch heute noch meist neons. Sie leben seit über 800 Jahren in Europa und wurden teilweise in Europa - länger als AfrikanerInnen in den USA - an vielen adligen Höfen als Sklaven gehalten. Sie kommen ursprünglich tatsächlich aus Indien und Roma bedeutet "Mensch". Viel mehr weiss man bis heute eigentlich nicht und die Wahrnehmung der Roma bleibt ausschliesslich rassistisch geprägt. Sei es nun die romantische Vorstellung des fröhlich-freien und wilden Zigeunerlebens oder eher die allgemein verbreitete Ansicht, dass Roma sowieso alles trickreiche Betrüger, notorische Lügner und begnadete Diebe seien. "Assoziale", welche nicht in eine moderne Gesellschaft integrierbar sind.


Pogromstimmung gegen Roma

Sie werden seit Jahrhunderten verfolgt und marginalisiert. Pogrome, Knast, bittere Armut und Diskriminierung sind ein fester Bestandteil der Roma-Identität. Sie haben einen denkbar schlechten Ruf und sind wohl auch nicht gerade die angenehmsten Nachbarn, wenn man ehrlich bleiben will. Haben will sie niemand und sie sind die idealste aller Projektionsflächen der extremen Rechten und des Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft. Kleinkriminalität, organisierte Bettelei, Analphabetentum und Fürsorgeabhängigkeit sind in der Roma-Community weit verbreitet und teilweise bitter notwendige, weil einzige, Überlebensstrategie. Da gibt es nichts schön zu reden. Da ist mir manchmal eine SVP fast lieber, die den Hasen beim Namen nennt, als eine Berner SP, welche was von "organisierten Bettelbanden, denen das Handwerk gelegt werden soll", schwadroniert. Es ist offensichtlich, wer damit gemeint ist. Wir entsetzen uns über rassistische Übergriffe und Morde an Roma, bei uns haben möchte man sie trotzdem nicht. Es ist eine Parallelwelt, in der Europas Roma seit Jahrhunderten leben. Eine abgeschlossene Welt für sich und das aus gutem Grund. Eins haben sie aus der Vergangenheit gelernt: "Traue nie einem Gadsche, einem Nicht-Roma!" Fackelumzüge, Bürgerwehren, Aufrufe zur Selbstjustiz, Lynchversuche, rassistische Slogans und eine mörderische Pogromstimmung, damit sind Europas Roma heute wieder verstärkt konfrontiert. Ob nun in Italien, Ungarn, Rumänien oder in Tschechien. In den vergangenen eineinhalb Jahren gab es alleine in Ungarn über fünfzig politisch motivierte Mordversuche an Roma. sieben Menschen starben bei den Anschlägen. Alle Täter sind nach wie vor flüchtig. Unterdessen wurde gar das FBI zur Aufklärung dieser Anschlagsserie herbeigezogen. Während Monaten relativierte und negierte die ungarische Regierung einen möglichen rechtsextremen Hintergrund der Taten. Mindestens eine Waffe wurde jedoch bei mehreren Anschlägen eingesetzt und selbst die Behörden mussten sich unterdessen eingestehen, dass hinter den Morden mit grösster Wahrscheinlichkeit rechtsextreme Todesschwadronen stecken. Und das im Europa des 21. Jahrhunderts. In Tschechien sorgte die ultrarechte "Nationale Partei" NS (Narradoni strana) unlängst für einen Skandal, als sie im Rahmen der Europawahl in einem Werbespot, der im öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, die "Endlösung der Zigeunerfrage" (in Anspielung NS-Zeit und die "Endlösung der Judenfrage") versprachen. Hass dies nicht nur leere Worte sind, haben die Morde der vergangenen Wochen und Monate gezeigt.


Es wird Generationen dauern

Die Situation der Roma stellt eine der grössten Herausforderungen für die EU in den nächsten Jahrzehnten dar und muss in einem Atemzug mit der Klimaerwärmung oder der Finanzkrise genannt werden. Dem ist man sich bei der Eu sehr wohl bewusst. Nur können Jahrhunderte der Unterdrückung, Marginalisierung und Verfolgung nicht mit ein paar gut gemeinten Integrationsprojekten und staatlichen Subventionen innert ein paar Jahren weggemacht werden. Dieser, für beide Seiten schmerzhafte Prozess, wird sich über Generationen hinziehen und kann nicht erzwungen werden. Und ohne schonungslose historische Aufarbeitung und Wiedergutmachung wird nur schwerlich eine Lösung zu finden sein. Viele osteuropäische Roma trauern daher den Zeit während des Realsozialismus nach. Damals, als es nur Genossinnen und Genossen gab.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2009 - 65. Jahrgang - 12. Juni 2009, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2009