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VORWÄRTS/607: "Jenseits von gut und böse"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 18. Sept. 2009

"Jenseits von gut und böse"

Von Tristan P. Dzikowski


Was wäre, wenn es weder "gut" noch "böse" gäbe? Und was, wenn moralische "Schuld" nicht existierte? Was wäre, wenn die Moral der Ethik weichen würde? Bricht die Welt dann zusammen? Nein. Aus uns würden bessere Menschen werden.


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Dies jedenfalls behauptet der Schriftsteller, Musiker, Sozialwissenschaftler und Philosoph Michael Schmidt-Salomon in seinem aktuellen Buch "Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind". Intuitiv hat der eine oder andere es sicher schon gespürt oder gedacht: kann es überhaupt "das Gute" oder "das Böse" geben?


Wahnidee

Das Denken innerhalb der Kategorien "Gut und Böse" hat der Menschheit unzählige Konflikte beschert. Dies war und ist bis heute nur möglich, weil unser Denken, selbst wenn wir uns inzwischen als Atheisten verstehen sollten, weiter geprägt ist von althergebrachten Denkmustern der Religionen. Dabei ist "das Böse" eine "Wahnidee", so der Autor. Voraussetzung für diese ist die Vorstellung der menschlichen Willensfreiheit. Ihre Existenz bestreitet Schmidt-Salomon, unser Wille ist determiniert. Wesentliches Handlungsprinzip für uns Menschen als Teil der Natur ist das "Prinzip Eigennutz". Nicht nur Menschen besitzen es. Anschaulich erläutert der Autor dieses Prinzip: man nehme einen Stein und werfe ihn aus dem dritten Stock eines Hauses, durch die Blätter und Äste des Baumes, der vor dem Haus steht. Nur geistig wiederholt man den Versuch mit einer Katze. Beide Versuche kann man immer und immer wieder durchführen. Der Stein wird immer gleich fallen. Die Katze jedoch wird das Reste für sich rausholen, indem sie versuchen wird, sich an die Äste zu klammern. Pro Wurf würde sie lernen, dazulernen. Schliesslich ginge es so weit, dass die Katze nicht mehr in den dritten Stock käme, weil sie keine Lust mehr hätte, ständig aus dem Fenster geworfen zu werden. Der Unterschied zwischen Leben und Nichtleben ist, dass Leben nicht einen freien Willen, sondern überhaupt einen Willen hat. Der Philosoph untermauert seine These mit Ergebnissen aus der Hirnforschung. Schmidt-Salomon selbst sieht sich als kritisch-rationaler Philosoph, der sich dem Humanismus verpflichtet fühlt. Seiner Sicht zufolge war Hitler nicht böse. Stalin auch nicht. Das bedeutet aber nicht, dass Verbrechen der beiden von einer Gesellschaft einfach so hingenommen werden müssen. Zu Konsequenzen seines Denkmodells nimmt Schmidt-Salomon ausführlich Stellung. Zudem tritt der Autor dafür ein, dass religiös besetztes Moraldenken durch ethische Werte ersetzt werden sollte. Er verweist dabei auch auf unbestreitbare Probleme der multikulturellen Gesellschaft heute.

Eindringlich beschreibt Schmidt-Salomon die Persönlichkeit des 1961 in Jerusalem angeklagten ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann. Dabei zitiert er Hannah Arendt, die in diesem Zusammenhang von der "Banalität des Bösen" sprach. Sie tat dies deshalb, weil dem Massenmörder Eichmann, dem "Schreibtischtäter", jene "teuflisch-dämonische Tiefe" fehlte, die man annehmen müsste, wenn man sich vor Augen hält, was dieser Mensch verbrochen hat. Das Beunruhigende an seiner Person sei gerade gewesen, "dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind." Eichmann selbst sah sich als Rädchen in einem Werk, das seine Aufgabe zu erfüllen hatte. Schon von Kindesbeinen an anerkannte und akzeptierte Eichmann Autoritäten. Es sei leicht für Dritte, im Nachhinein zu urteilen. Gewiss: das sind Worte, die danach klingen, als wolle er den Überführten aus der Schlinge ziehen. Eichmann konnte keine dämonische Tiefe besitzen, weil es derartige Tiefen nicht gibt, so der Autor. "Gut und Böse sind banale, substanzlose Begriffe, die die Wirklichkeit eher verschleiern, als dass sie diese erhellen."


Beeindruckend

Der Stil des Buches beeindruckt. Die Allgemeinverständlichkeit liegt dem Autor besonders am Herzen. Und diese ist ihm zu 100 Prozent gelungen. Michael Schmidt-Salomon beschreibt komplexe Sachverhalte sehr anschaulich. Dabei reduziert er die Verwendung von Fremdwörtern auf ein Minimum. Fussnoten mit Anhang führen Interessierte weiter. Auf den Leser warten viele zitierte, interessante Werke anderer, zum Teil weltberühmter AutorInnen. Zur Veranschaulichung der vorliegenden Philosophie flechtet Schmidt-Salomon Beispiele unserer gegenwärtigen Kultur ein, von Harry Potter über Herr der Ringe bis hin zu Star Wars. Gleichzeitig zitiert er gekonnt andere WissenschaftlerInnen und arbeitet akademische Streitthemen für Laien nachvollziehbar heraus. Geschickt transportiert er seine religionskritische Haltung, indem er andere zu Wort kommen lässt. Beispiel: Bekannt ist, dass der Reformator Luther in Deutschland bis heute kein schlechtes Ansehen geniesst. Schmidt-Salomon zitiert Luther in einem Aufsatz aus dem Jahre 1543. Aus diesem Zitat wird deutlich, welch abgrundtiefer Antisemit Luther war. Schliesslich fehlt es "Deutschlands Chef-Atheisten" (Der Spiegel) nicht an dem, was seine Philosophie verspricht: Humor, eine entspanntere Weltsicht und die Möglichkeit, zu mehr Glück für sich selbst zu finden.


"Jenseits von Gut und Böse", Pendo-Verlag München und Zürich,
352 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-86612-212-3, Euro 19,95,
CHF 24.-, www.schmidt-salomon.de


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 65. Jahrgang - 18. Sept. 2009, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2009