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VORWÄRTS/624: Sterben in der Krise


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 47/48 vom 18. Dez. 2009

Sterben in der Krise

Von Tristan P. Dzikowski


In den USA werden immer mehr Verstorbene von ihren Hinterbliebenen auf die Strasse gelegt, weil sie sich eine Beerdigung nicht mehr leisten können. In den Leichenhäusern stapeln sich die Toten, für die sich niemand mehr verantwortlich fühlt. Die deutsche Sendung "Weltspiegel" (ARD) berichtete kürzlich vom "Sterben in der Krise".


"Der Zustand einer Gesellschaft zeigt sich auch daran, wie sie mit ihren Toten umgeht. Und da scheint es um die USA nicht gut bestellt zu sein", so die Sprecherin der Sendung. In guten Zeilen waren keine Kosten zu hoch, um Beerdigungen mit allen Absurditäten zu inszenieren. Man konnte die Asche seiner Liebsten im heimischen Wohnzimmerregal aufbewahren, sie in einen künstlichen Diamanten gepresst um den Hals tragen oder sogar ins Weltall schiessen lassen. Doch jetzt schlägt die Wirtschaftskrise voll zu und immer mehr Tote werden gar nicht mehr von ihren Angehörigen begraben. In den Leichenschauhäusern stapeln sich die Verstorbenen für die sich niemand mehr verantwortlich fühlt. Der freie Markt hilft sich selbst. Als neuester Trend, so die Sprecherin, werden in Discount-Märkten inzwischen Särge als Billigware angeboten. Die Sendung zeigt ein riesen Gebäude, einen Wolkenkratzer des Konzerns General Motors, aus weiter Entfernung, mit einem starken Tele-Objektiv heran gezoomt. Die Musik im Hintergrund klingt schwer und tragisch. Der Sprecher: "General Motors. Zu Füssen des Konzerns liegt die Stadt, die er mit in den Abgrund gerissen hat." Die Kamera zoomt aus. Im Vordergrund sind jetzt marode und verlassene Industriegebäude mit eingeschlagenen Fenstern zu sehen. "In der ehemaligen Industriestadt Detroit ist jeder Sechste arbeitslos", so die Stimme. Obdachlosenheime und Suppenküchen sind voll von ehemaligen Industriearbeitern.


Jahrelang als Leiche warten

Der Absturz aus der unteren Mittelklasse in die Gosse geht schnell in Amerika. Schnitt. Die Kamera schwenkt in den Gebäudekomplex des "Wayne County Medical Examiner". Hier werden in Kühlräumen Leichen aufbewahrt. "Wer hierhin kommt, hat das Elend hinter sich", so der Sprecher. Das Leichenschauhaus von Wayne County kümmert sich um Tote, die auf den Strassen aufgesammelt wurden. Menschen, die keine Papiere bei sich hatten. "Das war schon immer so", meint der Sprecher. Doch seit ein paar Monaten hat Albert Samuels, der leitende Kriminalbeamte, ein ganz neues Problem. Es sind Familien, die ihre Angehörigen nicht mehr abholen und selbst beerdigen wollen. "Diese Leichen hier sind nie von ihren Familien abgeholt worden" erklärt der vielleicht über 50-jährige farbige Beamte in weissem Kittel und öffnet eine Kühltür, die den Blick freimacht auf Leichen, die in weisse Plastiksäcke verpackt sind. Auf jedem der weissen Säcke steht etwas in schwarzem Benzinfilzstift geschrieben. "Die Familien haben einfach das Geld nicht für die Beerdigung", so der Staatsdiener. Das Team um Samuels bringt die nicht abgeholten Toten dann zum Tiefkühlen in den "Freezer". Die Hälfte seiner 150 Toten gelten als "unclaimed", niemand will sie bestatten. "Ein entscheidender Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist doch, dass wir unsere Toten begraben", so der grau melierte Samuels. "Aber offenbar können einige Familien selbst diese 500 Euro nicht mehr bezahlen, und ich verstehe das sogar in diesen schweren Zeiten", sagt er. Nach endlosen Anträgen übernehmen irgendwann Stadt und Bezirk die anonyme Bestattung. Doch auch die sind klamm. Hier warten Leichen seit 2006. Die Sendung zeigt eine Familie im Wohnzimmer, die ihre Tante verloren hat. Der behinderte und arbeitslose Familienvater der "Wickers" erzählt, dass er im Leichenschauhaus zur Identifizierung war und nicht wusste, wie er an staatliche Zuschüsse kommen kann, um die Tante begraben zu können. Die Sozialversicherung zahle, aber er wisse, dass auch der Bezirk etwas dazu lege. Aber er wusste nicht, wie man das alles beantrage. Er gibt den Behörden die Schuld. Und er meint, dass man das nicht machen könne in den USA, Hinterbliebene nicht begraben zu können. Nicht hier, nicht in Amerika, wie er betont.


Luxustod

Die Kamera zeigt einen Luxus-Friedhof in Los Angeles. 90.000 Euro kostet hier ein Grab. Es sind noch viele Plätze frei. Auch in Kalifornien hat die Krise den Umgang der Lebenden mit den Toten verändert. Die Kamera zeigt eine Sargfabrik, nicht unweit von Hollywood. Zu sehen sind Luxussärge aus dunklem Holz mit glänzender Oberfläche und fein gearbeiteter Sargmatratze plus Kissen. Die Fabrik hat sich auf Spezialanfertigungen spezialisiert, auf Übergrössen und Sonderwünsche. "Alles kein Problem", meint Inhaber Joe Consible. Seit einem Jahr sinkt sein Umsatz Monat für Monat. Einäscherungen dagegen erleben einen Boom. Urnen sind billiger als Särge. Seine Meinung: "Die Leute können sich nicht mehr leisten, den Grabplatz zu kaufen, die Beerdigungsfeier zu bezahlen". Man solle sich nichts vormachen, viele Menschen in den USA seien jetzt arbeitslos. Auch Consible hat Leute entlassen müssen. Und verkauft erstmals ab Werk an die Endkunden. Trotzdem: "Wenn wir unser Geschäft in einem anderen, nicht so bevölkerungsreichen Bundesstaat hätten, wären wir längst pleite", so der Mittevierziger mit Strohhut und eckiger Brille auf seiner weissen Unternehmer-Nase. Mehrere Tausend für einen handgefertigen Holzsarg? Der Unternehmer zeigt dem Kamerateam seine neueste Konkurrenz im Internet. Billigketten bieten im Netz Särge unter 1000 Dollar an.

Zurück nach Detroit: Gezeigt wird ein städtischer Lieferwagen, der aus einem Haus eine Leiche abtransportiert, weil die Hinterbliebenen sich einen Bestattungsunternehmer nicht leisten können. Manchmal werden sie auch gerufen, weil Leichen einfach auf der Strasse abgelegt werden. Etwa zehn Zugänge hat das Leichenschauhaus pro Tag. Die Suche nach Verwandten, die vielleicht doch das Geld noch aufbringen können, ist eine mühevolle Aufgabe. Carl Schmitt, der Chefpathologe des Leichenschauhauses, sieht eine zweite Auswirkung der Krise. Statt Mord und Totschlag sieht man jetzt immer mehr natürliche Todesursachen. "Mit der Krise verlieren die Menschen ihre Krankenversicherung, sie sehen ihren Arzt nicht mehr", sagt er. "Und wenn sie ihn doch sehen, dann kaufen sie die verschriebenen Medikamente nicht mehr, weil sie sich diese nicht leisten können", fügt er hinzu. In diesen Zeiten ist das Geld so knapp, dass die Leute die bittere Wahl haben, entweder Essen auf den Tisch zu bringen oder Grossvater zu begraben".


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 47/48 - 65. Jahrgang - 18. Dez. 2009, S. 16
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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reduziert (AHV, Studenten): Fr. 110.-


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2010