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VORWÄRTS/632: "Die Geschichte der Häuser dokumentieren"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 19. März 2010

"Die Geschichte der Häuser dokumentieren"

Seit dem 11. März läuft der Film "Allein machen sie dich ein" von Mischa Brutschin.
Der achtteilige Film befasst sich mit der Zürcher Häuserbewegung von 1979 bis 1994.
Ein Interview mit dem Produzenten.

Von Lukas Arnold


FRAGE: Mischa, um was geht es bei deinem Film?

MISCHA BRUTSCHIN: Der zeitliche Schwerpunkt der Filme liegt in den Jahren 1979 bis 1994. Sie sind im ersten Teil um eine kurze Rückblende auf die wichtigsten Ereignisse der 60er und 70er erweitert worden.

Ich habe gut acht Jahre lang unterschiedlichstes Archivmaterial zusammengetragen, durch die lange Zeit immer einen neuen Zugang gefunden zum Thema. Es konnten sich Gedanken setzen und neue entwickeln. Die unterschiedlichen Dokumente habe ich zu einer Geschichte verknüpft, ergänzt mit Original-Tondokumenten. Zum Beispiel aus dem Regionaljournal DRS oder dem LoRa, und Musik von Bands aus der Stadt Zürich und Umgebung.

Trotz des grossen Umfangs des Projekts stellt der Film aber keine vollständige Dokumentation dar. Die Entwicklung und der Alltag der Häuserbewegung wird anhand verschiedener Häuser, Gruppen und Aktionen dargestellt. Sie alle stehen stellvertretend für die zahlreichen Hausbesetzungen und den Widerstand von MieterInnen in dieser Stadt.

FRAGE: Wie bist du darauf gekommen, den Film zu machen?

MISCHA BRUTSCHIN: Ich war selbst aktiv in der Hausbesetzerszene, in den 60er Jahren und anfangs 90er. Ich habe mehrere Jahre in besetzten Häusern gelebt und im Infoladen für Häuserkampf mitgearbeitet.

Anfangs der 90er Jahren habe ich einen Film über die Geschichte der Hüttisstrasse und die daraus entstandenen Besetzungen gemacht. Am Anfang meines jetzigen Projekts stand die Überarbeitung dieses viel zu langen Films sowie die Zusammenstellung der Geschichte anderer besetzen Häuser. Ich habe nicht vorgehabt, so einen monumentalen Wälzer zu machen.

FRAGE: Bist du immer noch in der Hausbesetzerszene aktiv?

MISCHA BRUTSCHIN: Ich lebe seit 1993 nicht mehr in besetzten Häusern. Ich habe inzwischen drei Kinder, da blieb mir neben der Arbeit und dem Filmprojekt nicht mehr viel Raum. Kontakt habe ich aber immer noch. Ich freue mich auch darauf, die Fäden wieder aufzunehmen.

FRAGE: Der Film besteht aus acht Teilen und dauert etwa sieben Stunden. Weshalb wurde er so lang?

MISCHA BRUTSCHIN: Ich habe so viel Material gefunden. Ich hatte freien Zugang zum Archiv des Schweizer Fernsehens, des Videoladen Zürich, der Videowerkstatt Kanzlei, Red Fox Underground (Wohlgroth) und verschiedensten Privat-Archiven. Im Laufe der Recherchen veränderte sich das Exposé stark. Mit jedem weiteren Interview wuchsen die Erinnerungen, sie wurden farbiger und detaillierter. Je mehr Zeitdokumente ich fand, desto genauere Fragen konnte ich stellen, umso mehr Personen musste ich angehen. Es war mir auch sehr wichtig, Raum zu haben, so dass man die Stimmungen und Momente entwickeln und sich ein Bild über das Geschehene machen kann.

FRAGE: Wofür und für wen wurde der Film gemacht?

MISCHA BRUTSCHIN: Diese Filme zeigen, weshalb die verschiedensten Personen sich dazu entschieden hatten, gegen den Strom zu schwimmen und welche Lebensformen sie zu entwickeln versuchten. Sie stellen dar, weshalb sich viele Menschen auf die vielseitigen Auseinandersetzungen innerhalb der Häuser einliessen. Jedes ausgewählte Haus, jede Aktion, jeder Text, jedes Musikstück ist Teil eines grossen Puzzles, mit welchem diese facettenreiche und chaotische Welt beschrieben wird. Er richtet sich sowohl an damals Aktive als auch an diejenigen, die nicht aktiv waren. Der Film ist eine historische Aufarbeitung der neueren lokalen Geschichte. Es ist eine spannende Zusammenfassung von öffentlich zugänglichen und privaten Dokumenten, wie sie nirgends vorhanden ist. Ein Beitrag der Oral History an das gesellschaftliche Gedächtnis.

FRAGE: Wie wird die Geschichte der Häuserbewegung dargestellt? Kommentierst du selbst?

MISCHA BRUTSCHIN: Ein Hauptziel war es, mit Originalaussagen zu arbeiten. Sie geben die damalige Stimmung am Besten wieder. Obwohl natürlich eine grosse Skepsis der Hausbesetzerszene gegenüber dem Schweizer Fernsehen und dem Radio vorhanden war, gab es doch viele Interviews und Stellungnahmen. Ich hatte durch meine Arbeit im Infoladen natürlich auch selbst Zugang zu vielen Dokumenten.

Wo hingegen Original-Material fehlte, habe ich selber Texte verfasst, indem ich Flugblätter, Texte aus Zeitschriften und Gespräche mit damals Aktiven zusammenfasste.

FRAGE: Hast du mit anderen zusammengearbeitet?

MISCHA BRUTSCHIN: Die Recherchen und den Rohschnitt habe ich alleine durchgezogen. Für den Schluss-Schnitt und die Produktion war ich auf die Arbeit von Profis angewiesen. Während der gesamten Projektdauer konnte ich auf die Unterstützung zahlreicher Personen zählen. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.

FRAGE: Was gibt es sonst noch Wichtiges zum Inhalt des Films zu sagen?

MISCHA BRUTSCHIN: Gerade in der Häuserbewegung waren es oft nicht politische oder ideologische Ideen, welche für die meisten im Vordergrund standen. Viel eher fühlten sie sich von diesen radikal anderen Lebensformen angesprochen, die alle Bereiche des bürgerlichen Lebens und der bürgerlichen Ordnung in Frage stellten. Die Lust und Freude am Leben prägten den Alltag der Häuserbewegung genauso wie Repression, Gewalt, Sucht und Tod. Durch die ganze Filmreihe zieht sich auch die Geschichte der Drogenszene - der Gasse. Die Geschichte der Häuserbewegung wäre unvollständig ohne sie. Sei es im AJZ, in der Wohlgroth oder in grösseren Wohnprojekten (besetzt oder legal): Alle mussten Stellung beziehen, wie sie zum Umgang mit illegalen Drogen standen, welchen Platz die KonsumentInnen dieser Drogen beanspruchen konnten.

FRAGE: Wann und wo kann man deinen Film sehen?

MISCHA BRUTSCHIN: In der Aktionshalle der Roten Fabrik sind am 25. März noch die Teile 5 und 6 zu sehen, die Teile 7 und 8 am 1. April, jeweils ab 20 Uhr.

FRAGE: Wo ist dein Film sonst noch erhältlich?

MISCHA BRUTSCHIN: Ab dem 25. März kann man ihn als DVD-Box kaufen. Die fünf DVDs mit Booklet und sieben Stunden Filmmaterial kosten 80 Franken.

VORWÄRTS: Herzlichen Dank für das Interview!


Bestellen kann man die DVD-Box direkt beim Vorwärts (Mail an vwzh@smile.ch)
oder über die webseite www.zureich.ch.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12 - 66. Jahrgang - 19. März 2010, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-
reduziert (AHV, Studenten): Fr. 110.-


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2010