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VORWÄRTS/746: "Demokratie" auf Türkisch


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.25/26/2011 vom 8. Juli 2011

"Demokratie" auf Türkisch

Von Siro Torresan


Obwohl vom Volk gewählt, sollen sechs kurdische Abgeordnete nicht ins türkische Parlament einziehen dürfen. Diese Vorgehensweise verstösst gegen die türkische Verfassung und ist vor allem ein bedrohlicher Schlag gegen die Friedensbemühungen in der Kurdenfrage. Die Polizei ist mit massiver Gewalt gegen DemonstrantInnen vorgegangen.


"Wir lassen unsere GenossInnen nicht auf halbem Weg zurück. Wir sind Revolutionäre und ihr werdet euch an uns im Parlament gewöhnen müssen. Solange Hatip Dicle nicht im Parlament ist, werden wir auch nicht dort sein", erklärte der gewählte Abgeordnete Sirri Süreyya Önder an einer Demonstration in Istanbul. Seine Wut richtet sich gegen die türkische Regierung. Diese verweigert sechs gewählten Vertretern des Wahlblocks "Arbeit, Demokratie und Freiheit", dem auch die prokurdische BDP angehört, den Einzug ins Parlament. Das Beispiel von Haip Dicle spricht Bände: Seine Kandidatur wurde zugelassen. Dies ist zu unterstreichen, da er seit über einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt. Angeklagt ist Dicle unter anderem deswegen, weil er bei seiner Verteidigung "kurdisch gesprochen hat". Dicle wurde glanzvoll gewählt und schaffte mit 80.000 Stimmen das Direktmandat im Wahlbezirk Amed (Diyarbakir). Die staatliche Wahlkommission hat dann mit Bezugnahme auf die Anklage und mit juristischen Windungen, die klar gegen die türkische Verfassung verstossen, die Wahl als nichtig erklärt. Fakt ist, dass mit dem Einzug ins Parlament Dicle und die fünf anderen Genossen den Schutz des Immunitätsgesetzes genossen hätten. Dies soll offensichtlich mit allen Mitteln verhindert werden. Ob legal oder illegal ist dem türkischen Staat scheissegal.


Eine Frage des Willens

Pikant und von politischer Tragweite ist folgende Tatsache: Im April 1998 wurde der aktuelle türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vom Staatssicherheitsgericht Diyarbakir wegen Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten gemäss Artikel 14 der türkischen Verfassung zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Anlass war eine Rede, in der er aus einem religiösen Gedicht folgende Sätze zitierte: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." Am 24. Juli 1999 wurde Erdogan aus der Haft entlassen. Bei den Parlamentswahlen 2002 errang er mit seiner "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) einen überragenden Wahlsieg, konnte jedoch aufgrund des bestehenden Politikverbots das Ministerpräsidentenamt nicht übernehmen, da nach damaliger Rechtslage nur ein Parlamentsabgeordneter zum Ministerpräsidenten gewählt werden durfte. Ministerpräsident wurde Erdogans Stellvertreter Abdullah Gül. Nach einer rasch durchgeführten Verfassungsänderung, die das lebenslängliche Politikverbot Erdogans aufhob, wurde er am 12. März 2003 Ministerpräsident der Türkei. Die Moral der Geschichte: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.


Politische Lösung oder Volkskrieg

Und genau dieser politische Wille fehlt der türkischen Regierung in der Kurdenfrage. "Die Reaktion des türkischen Staates mit dem Entzug des Mandats für Hatip Dicle und damit dem de facto Entzug des Mandats für fünf weitere kurdische Gewählte zeigt deutlich, dass der türkische Staat nicht bereit für eine politische Lösung ist", schreibt die "Föderation Kurdischer Vereine in der Schweiz" (FEKAR) in ihrer Stellungnahme. Die Alternativen hat Abdulah Öcalan "nicht als Drohung, sondern als Tatsachenfeststellung" deutlich gemacht: "Die Geduld der Bevölkerung ist am Ende, es kann nun entweder eine politische Lösung oder einen revolutionären Volksknieg geben. Je weiter der türkische Staat die Optionen für eine politische Lösung verschliesst, desto wahrscheinlicher wird die zweite Alternative."

Die Fakten geben Öcalan recht. Sofort nach der Bekanntgabe der Entscheidung bezüglich Hatip Dicle am 22. Juni gingen Zehntausende in verschiedenen Städten auf die Strassen. Der Verkehr in Amed wurde blockiert, in Istanbul protestierten rund 10.000 Menschen. Die Polizei griff die Demonstration in Istanbul massiv mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln an. Am 26. Juni erreichte die brutale Repression eine neue Qualität. Die Polizei und faschistische Schlägertruppen griffen friedliche DemonstrantInnen an. Dabei wurde ein Demonstrant schwer verletzt. Die gewählte Kandidatin der BDP, Sebahat Tuncel, wurde dabei von Polizisten so heftig über den Boden geschleift und misshandelt, dass sie mit einer Hüftverletzung und zahlreichen Prellungen ins Krankenhaus musste. Zuvor hatte die Polizei mit Gasgranaten in den Bus der BDP geschossen. Die Polizei schoss Tränengas direkt in die Menschenmenge, schwangere Frauen und Kinder wurden von der Polizei misshandelt. Auffällig war dabei auch der erstmalige Einsatz von Elektroschlagstöcken, insbesondere gegen Jugendliche.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26/2011 - 67. Jahrgang - 8. Juli 2011, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2011