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VORWÄRTS/769: Das ägyptische Militär versucht die politische Herrschaft zu sichern


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40/2011 vom 4. November 2011

"Das Militär versucht die politische Herrschaft zu sichern"

von Thomas Schwendener


Der Journalist Jano Charbel hat die Arbeitskämpfe und Strassenproteste in Ägypten verfolgt und aktiv daran teilgenommen. Der Vorwärts hat mit dem ägyptischen Aktivisten über die aktuellen Entwicklungen und den Verlauf der "ägyptischen Revolution" gesprochen.


FRAGE: Mehr als ein halbes Jahr ist vergangen, seit die Revolution am 25. Januar begann. In wenigen Worten, was denkst du über die allgemeine Entwicklung der Bewegung? Ist sie nun mehr in der Defensive? Oder werden die Dinge noch immer vorangetrieben?

JANO CHARBEL: Die Revolution des 25. Januar drängt weiter vorwärts. Allerdings entfaltet sich auch die Konterrevolution und drängt rückwärts. Die interimistische Militärjunta, die Ägypten beherrscht, auch als Oberster Rat der bewaffneten Kräfte (SCAF) bekannt, ist aus den 20 höchsten Generälen Mubaraks zusammengesetzt. Der SCAF herrscht mit unbeschränkter Gewalt als exekutive, legislative und judikative Abteilung der Regierung. Unter ihren Anweisungen wurden mehr als 12.000 ägyptische ZivilistInnen von Militärtribunalen angeklagt. Was Mubarak angeht - den Befehlshaber der bewaffneten Kräfte - so steht er vor einem Militärgericht. Ebenso Habib el-Adli, Mubaraks Innenminister, zusammen mit allen anderen abgesetzten Ministern und Staatsmännern. Der SCAF hat eine Pressesperre über diese Verfahren verhängt. Auch hat der SCAF die Notstandsgesetze seit Mubaraks Amtsenthebung weiter bestehen lassen. Seit dreissig Jahren wird Ägypten mit diesem unterdrückenden Gesetz regiert. Zudem fügte der SCAF zwei weitere restriktive Massnahmen hinzu - die nun sowohl gegen JournalistInnen wie auch AktivistInnen angewandt werden können. Wenn das SCAF weiter an der Macht bleibt, dann wird die gesamte revolutionäre "Übergangsperiode" untergraben von ihren Interessen, mit dem Ziel ihren Status quo als politische Herrscher zu sichern. Trotzdem sind Millionen von ÄgypterInnen standhaft in ihrem Verlangen nach einer zivilen Regierung. Millionen kämpfen noch immer für Freiheit, Würde, Demokratie und Menschenrechte. Millionen im ganzen Land treiben die Revolution noch immer voran, trotz der Konterrevolution des SCAF. FRAGE: Kürzlich hörten wir von Arbeiteraufständen und Streiks in verschiedenen Sektoren Ägyptens. Welche Streiks fanden in den letzten Wochen statt? Was waren ihre Hauptanliegen? Und welche Perspektive haben sie?

JANO CHARBEL: Im September gingen geschätzte 500.000 ägyptische ArbeiterInnen in den Streik, an ihren verschiedenen Arbeitsplätzen und in den Bezirken. Die aktuellsten Streiks beinhalteten einen massiven öffentlichen Bus-Streik, einen landesweiten Streik der Lehrer, Streiks von Professoren und Reinigungskräften an Universitäten, Streiks von TextilarbeiterInnen sowie Doktoren- und Krankenschwestern-Streiks. Daneben gibt es eine Unzahl weiterer Streiks. Es gab also Dutzende, wenn nicht Hunderte von ArbeiterInnenprotesten: Märsche, Sit-Ins und andere landesweite Aktionen. Ihre Forderungen sind fast immer sozio-ökonomische Forderungen. Politische Streiks und Generalstreiks (die kollektiv verschiedene Industrien, Sektoren und Dienstleistungen umfassen) sind noch nicht üblich. Diese sozio-ökonomischen Forderungen umfassen typischerweise verbesserte Löhne und Arbeitsbedingungen, zusammen mit der Bezahlung von überfälligen Boni und Vollzeitverträgen für Vollzeitarbeit. ArbeiterInnen haben einen monatlichen Mindestlohn von 1.200 ägyptischen Pfund (um die 170 Franken) gefordert. ArbeiterInnen und Angestellte haben ebenso Maximallöhne für administrative und leitende öffentliche Angestellte verlangt, die nicht mehr als das 15-fache des Mindestlohns betragen sollen. Der Staat hat bisher weder Mindest- noch Maximallohn festgelegt, obwohl die Staatsmänner nun von einem Mindestlohn von 700 ägyptischen Pfund sprechen.

FRAGE: Wir hörten kürzlich von der Repression gegen die Kopten. Was geschah dort? War es im Allgemeinen das Militär, das gegen sie kämpfte oder gab es ernsthafte Zusammenstösse zwischen Kopten und Islamisten?

JANO CHARBEL: Die Zusammenstösse vom 9. Oktober wurden gelenkt vom SCAF und seinem Ministerium für Information, das in das Ministerium für Desinformation und Propaganda umbenannt werden sollte. Staatlich kontrollierte Radio- und TV-Anstalten riefen die ägyptischen Menschen dazu auf, "die Armee vor den Angriffen wütender koptischer Protestierender zu schützen". Die Armee ist mit Panzern, gepanzerten Personaltransportern, Maschinengewehren, Kanonen und Raketen ausgerüstet. Wie soll die ägyptische Zivilbevölkerung sie beschützen? Die Propaganda sprach auch von Toten bei Armeesoldaten und Offizieren, jedoch gaben offizielle Auskünfte nach den Ereignissen bekannt, dass keine Armeeangehörigen starben. Diese Propaganda brachte Tausende wütender muslimischer ÄgypterInnen auf die Strasse, nachdem die Armee bereits mehr als 20 Protestierende getötet hatte. Gesänge gegen Christen und einige Angriffe auf Kopten und ihr Eigentum fanden statt. Der SCAF nutzt seine sektiererische Karte, um die revolutionären Reihen Ägyptens zu schwächen. Es ist eine offensichtliche Politik des teilen und herrschen. Es muss angemerkt werden, dass viele muslimische Protestierende mit den Kopten marschierten und sie in ihren Forderungen unterstützten. Der SCAF muss für diese Toten zur Rechenschaft gezogen werden, sowohl für die der koptischen wie auch die der muslimischen Protestierenden. Er muss ebenso für seine bewusst in die Irre führenden Aussagen, seine Propaganda und Hasspredigten verantwortlich gemacht werden. Dieser diktatorische Militärrat muss auch zur Rechenschaft gezogen werden für die Prozesse gegen 12.000 ZivilistInnen vor seinen eigenen Gerichten, in denen die Armee als Richter, Geschworener und Henker handelt. Zusammengefasst: Der SCAF muss die Macht übergeben oder durch eine weitere Volksrevolution abgesetzt werden.

FRAGE: Sind organisierte linke Gruppen in den Kämpfen anwesend? Und welche Rolle spielen sie in der Bewegung? In welche Richtung geht die Bewegung im Moment? Was ist die Perspektive der Bewegung von einem kommunistischen oder anarchistischen Gesichtspunkt aus?

JANO CHARBEL: Ja, KommunistInnen und AnarchistInnen aller Strömungen sind in die laufenden Kämpfe involviert - sowohl in die Strassenproteste, wie auch in die Arbeitsproteste. Obwohl die ägyptische radikale Linke zahlenmässig klein ist - es sind nur einige Tausend - ist sie sehr aktiv und militant in diesen Kämpfen. Die radikale Linke ist an vorderster Front. Die KommunistInnen, besonders der marxistisch-leninistisch-trotzkistischen Strömung, sind die grösste Gruppe. Sie haben herausragende Arbeit in der Unterstützung von Streiks, bei der Medienarbeit zu diesen Arbeitsaktionen und im Agitieren für eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung geleistet. Fünf dieser radikalsozialistischen Gruppierungen haben kürzlich eine politische Aktionsfront gegründet. Ich wünsche ihnen Glück, denn sie sind unsere GenossInnen und PartnerInnen im Klassenkampf. AnarchistInnen gibt es zahlenmässig weit weniger, allerdings waren auch sie im Arbeitskampf aktiv - jedoch sind sie mehr im Strassenprotest, in Umweltkampagnen, Graffiti- und Strassenkunst involviert. Eine Gruppe von AnarchistInnen veranstaltete am 7. Oktober die "Erste Libertäre Sozialistische Konferenz in Ägypten". Viele ÄgypterInnen haben kürzlich ihr Interesse für den Anarchismus ausgedrückt, und seit der Revolution des 25. Januar sind viele mehr für neue und alternative politische Ideen offen. Anarchistisch-libertärer Sozialismus kann unter diesen Umständen gedeihen. Ich bleibe optimistisch in Hinsicht auf die Revolution als Ganzes, und ich bleibe auch optimistisch bezüglich der Kämpfe der radikalen Linken in Ägypten.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40/2011 - 67. Jahrgang - 4. November 2011, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011