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VORWÄRTS/823: Die Betreuung rund um die Uhr


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20/2012 vom 11. Mai 2012

Die Betreuung rund um die Uhr

Von Silvia Nyffenegger



Demenz ist ein abschreckendes Schlagwort. Die Erkrankung des Gehirns weckt intensive Ängste. Doch sie wird sich in den kommenden Jahrzehnten noch ausbreiten. Ein Betreuungsnotstand zeichnet sich bereits jetzt ab.


Die Haushalthilfe aus Polen, der Slowakei, Ungarn oder Ostdeutschland ist im Schweizer Haushalt einer schwer demenzerkrankten Person für fast alles zuständig. Die Arbeitnehmerin aus den neuen EU-Ländern besorgt nicht nur den Haushalt einer älteren, stark demenzkranken Person. Sie betreut diese auch, organisiert deren Freizeitaktivitäten und lebt im gleichen Haushalt wie sie. Dies im 24-Stunden-Betrieb und möglichst 365 Tage im Jahr.


Es herrscht Betreuungsnotstand

Fachleute sprechen von der "entgrenzten Arbeitszeit". Nach drei Monaten ist die Betreuerin ausgebrannt. Sie setzt während drei Monaten aus. Oft kommt ein ausländisches Familienmitglied oder eine Verwandte für die nächsten drei Monate oder eine kürzere Zeit in eine Schweizer Familie, danach wieder die erste Haushalthilfe. Die Schweizer Familienmitglieder sowie die öffentlichen Spitexdienste beteiligen sich mit kleineren Pensen an der Betreuung. Die ausländische Haushalthilfe unterstützt mit ihrer Erwerbstätigkeit ihre Familie oder Verwandte daheim.

Dass ein Betreuungsnotstand vorliegt, ist angesichts der grossen Abhängigkeit einer schwer demenzkranken betagten Person nicht verwunderlich. Die rund-um-die-Uhr Betreuung beträgt umgerechnet drei Vollzeitpensen. So viele Erwerbstätige zu rekrutieren und zu bezahlen, ist illusorisch. Doch eine qualifizierte Fachfrau würde so viel wie ein Pflegeheim kosten: Rund 8.000 Franken im Monat. Diesen Preis können nur der Mittelstand und Begüterte zahlen. Im Gegensatz dazu kostet eine Haushalthilfe aus den neuen EU-Ländern knapp 2.000 bis 2.200 Franken im Monat. Der Zugriff auf Frauen aus Niedriglohnländern beruht auf rein ökonomischen Erwägungen.

Zwei Betreuungsverhältnisse sind bekannt. Entweder kommt die Haushalthilfe durch eine in- oder ausländische Personalvermittlungs- oder -verleihagentur zu ihrer Arbeitsstelle in der Schweiz, oder eine Familie rekrutiert die Haushalthilfe gleich selber. Familien tauschen sich zu diesem letzteren Zweck die Adressen von arbeitswilligen Ausländerinnen aus. Nachteilig ist dabei, dass die Behörden über diese Arbeitsverhältnisse oft nicht informiert werden. Sozialabzüge vom Lohn, Zahlungen an die Schweizer Sozialversicherungen sowie spätere Leistungen von AHV/IV/EO in harter Westwährung fallen weg, und die Ränge der Schwarzarbeitenden schwellen an.


Weiter betreuen wie heute

In- und ausländische Vermittlungs- und -verleihagenturen profitieren vom Betreuungsnotstand und operieren zum Teil in einem Graubereich. Ausländische Agenturen besitzen beispielsweise weder eine eidgenössische Personalvermittlungsbewilligung noch eine eidgenössische Niederlassung und verstossen somit gegen das Schweizer Gesetz. Fraglich ist auch, ob Agenturen den Mindestlohn des Normalarbeitsvertrags (NAV) Hauswirtschaft und die Höchstarbeitszeit einhalten. Fragt man beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Bern nach, kann in Erfahrung gebracht werden, ob eine bestimmte Agentur dem Amt bekannt ist oder nicht. Verwarnen und einschreiten tun jedoch die kantonalen Behörden. Das Seco überprüft im Rahmen der Erneuerung des NAV bis Ende 2013 die hauswirtschaftliche Erwerbstätigkeit in Schweizer Privathaushalten. Unregelmässigkeiten sind schon früher ans Licht gekommen. So berichtete der Beobachter im Juli 2011 über ein halbes Dutzend mehrheitlich ausländische Agenturen, die Geschäfte auf Kosten der Haushalthilfen und der betroffenen Familien machen.

Auch aus den Reihen der kantonalen Alzheimervereinigungen sind kritische Töne vernehmbar. Ganz kleine Firmen, welche sich auf dem Markt etablieren wollen, würden sogar Hungerlöhne zwischen 1.000 und 2.000 Franken bezahlen. "Das sind keine inländischen Löhne und auch die Arbeitszeiten entsprechen nicht dem Gesetz", beanstandet Ruth Rutman, Präsidentin der Alzheimervereinigung Zürich.

Derweil nehmen die Demenzerkrankungen zu. Sind heute in der Schweiz 110.000 Menschen betroffen, werden es im Jahr 2030 doppelt so viele sein. "Wenn wir den heute 60-Jährigen in 20 Jahren die gleiche Unterstützung geben wollen wie heute, müssen wir jetzt investieren. Nur so wird die Betreuung dann noch so sein wie sie heute ist", warnt Ruth Rutman nachdrücklich.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20/2012 - 68. Jahrgang - 11. Mai 2012, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2012