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VORWÄRTS/858: Kampf um letzte Kohlenmine Italiens


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 33/34 vom 14. September 2012

"Carbosulcis": Ein Kampf gegen die Ungewissheit

von Maurizio Coppola



Im sardischen Nuraxi Figus im Sulcis steht die letzte Kohlenmine Italiens. Die "Carbosulcis" wurde 1996 von der Region Sardinien übernommen, mit dem Ziel der Privatisierung. Doch heute steht die Mine vor der Schliessung. Gegen die Unsicherheit der Beschäftigung haben die Minenarbeiter nun einen harten Kampf begonnen.


1950 drehte der Italiener Pietro Germi den neorealistischen Film "il cammino della speranza" (Weg der Hoffnung). Der Film zeigt die dramatische Realität der italienischen Wirtschaft unmittelbar nach dem Weltkrieg. Aufgrund der Schliessung einer Schwefelmine in Sizilien entscheiden die Kumpel, die Mine zu besetzen. 62 Jahre später wiederholt sich die Geschichte. In der sardischen Stadt haben sich 40 Minenarbeiter in 373 Meter Tiefe verbarrikadiert - und haben 100 Kilo Sprengstoff mitgenommen. Der Protest der 120 Minenarbeiter begann am 27. August. Sie forderten die Regierung in Rom dazu auf, das Projekt zur Weiterführung der Produktion freizugeben. Es handelt sich dabei um 200 Millionen Euro für die Realisierung eines Depots für die Lagerung von Kohlendioxidabfällen in Zusammenarbeit mit dem Energiekonzern ENEL.


Radikalität des Protests

Der Protest gipfelte schon nach zwei Tagen in einen Höhepunkt. Als JournalistInnen und Kameraleute die kämpfenden Arbeiter besuchten, erklärte ein Kumpel vor laufenden Kameras: "Wir können nicht mehr und sind nicht mehr bereit, die Zeit vergehen zu lassen. Das lassen wir nicht zu. Denn wenn jemand entschieden hat, die Familien der Minenarbeiter sterben zu lassen, dann, meine Damen und Herren, schneiden wir uns." Daraufhin packte er ein Messer aus der Hosentasche und begann, sich in den Arm zu schneiden. So tragisch diese Bilder auch erscheinen, es ist nicht die Radikalität dieses Aktes, die zum Nachdenken anregen soll, sondern vielmehr die von den Arbeitern erlebte Unsicherheit und Ungewissheit, die sie zu solch verzweifelten Handlungen drängt.


Arbeit oder Umwelt?

In der Mine geht das Gespenst der Ungewissheit um. Es ist eine von der Politik produzierte Unsicherheit, die nicht mehr fähig ist, das Überleben des Territoriums zu garantieren und als einzige Alternative die Frage "Arbeit oder Umwelt" stellt. Die Beschäftigungs- und Industriepolitik wird somit zu einem "Regierungs- und Herrschaftsinstrument. In diesem Zusammenhang sprach ein anderer Kumpel davon, dass nun alle auf "diese verdammte Erde des Sulcis" schauen und sich die öffentliche Meinung in zwei spalte. Ein Teil solidarisiert sich mit den Minenarbeitern - oft aber im Namen eines simplen und ideologischen "Rechts auf Arbeit" - andere hingegen versuchen sich kritisch abzuheben und verurteilen die ökologische Unvertretbarkeit der Weiterführung der "Carbosulcis", ohne jedoch die politische Dimension dieser Problematik zu verstehen. Dadurch distanzieren sie sich unausweichlich von den Bedingungen der Lohnarbeit, von der Materialität der erlebten Erpressung, von der Suche nach kollektiven Organisationsformen für die gemeinsame Befreiung vom "falschen Dilemma". Darum: "Solange diese politische Klasse existiert, solange hat auch die 'Carbosulcis' das Recht zu existieren" - mit all ihren Widersprüchen und ihrer Schädlichkeit.

In der Zwischenzeit hat die italienische Regierung angekündigt, die Schliessung der "Carbosulcis" werde mindestens um sechs Monate verzögert. Nach dieser Ankündigung verliessen die Arbeiter die Mine, doch ihre Agitation wird mit der Blockade der Asche- und Gipsdeponie des naheliegenden Kraftwerks der ENEL weitergeführt.


Weg der Hoffnung?

Es ist kein Zufall, dass sich innerhalb von wenigen Wochen die Auseinandersetzungen häufen, in denen die Frage der Arbeit und des Territoriums unmittelbar zusammentreffen. Im apulischen Taranto kam es aufgrund der Schliessungsdrohung des Stahlwerkes "Ilva" zu Protesten (vorwärts Nr. 31/32). In Sardinien kündete das US-amerikanische Aluminiumunternehmen "Alcoa" die Schliessung des Werkes an, daraufhin demonstrierten die Beschäftigten sowohl im Betrieb, wie auch in Rom vor dem Ministerium für Wirtschaftsentwicklung. Der Schweizer Multi Glencore hat schon Interesse für die Übernahme angekündigt. Zudem gehen Minenarbeiter weltweit auf die Strasse (Spanien, Südafrika), und die Auseinandersetzungen erreichen stets eine sehr hohe Konfliktualität.

Im Film "Weg der Hoffnung" verlassen die Minenarbeiter angesichts der Erfolglosigkeit ihres Kampfes Sizilien und emigrieren nach Frankreich, wo gerade andere Minen eröffnet und erfahrene Arbeiter gebraucht werden. Doch auch mit der Emigration konnte die Unsicherheit der Arbeiter und ihrer Familien nicht beseitigt werden, denn diese Ungewissheit ist eine "condition d'existence" aller Lohnabhängigen. Und so ist die Besetzung der "Carbosulcis" in erster Linie ein Kampf gegen diese Ungewissheit, die gerade in der Krise sowohl die Arbeit wie auch das Territorium durchdringt und die uns eine unaufschiebbare Frage nach dem Willen, der kollektiven Organisierung unserer Leben stellt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 33/34/2012 - 68. Jahrgang - 14. September 2012, S. 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2012