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VORWÄRTS/865: Klassiker zum Sozialstaat


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 26. Oktober 2012

Klassiker zum Sozialstaat



mau. Anfang der 1970er-Jahre erschien in den USA ein Buch über die Rolle des Sozialstaats und der Sozialpolitik. Was es auszeichnet: Die Autorinnen reflektieren ihre Entwicklung im Kontext einer seit Ende 1972 andauernden Krise des westlichen Kapitalismus.


"Dem Sozialstaat Grenzen setzen", "die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Bürgers stärken" und "das Finanzierungsproblem des Sozialstaates lösen": Mit solchen Schlagwörtern wurde das "Problem Sozialstaat" im Kontext der andauernden Stagflationsphase der 1970er-Jahre des westlichen Kapitalismus sowohl von den Bürgerlichen, wie auch in der herrschenden Wissenschaft debattiert. Unberücksichtigt blieb dabei aber meist eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat als solchen.

In ihrer Studie zur Genese staatlicher Sozialpolitik kritisieren Piven und Cloward die These, wonach der "Wohlfahrtskapitalismus" immer mehr Verantwortung übernehme. Sie zeigen, dass der Zugang zu sozialstaatlichen Vorteilen stets an Bedingungen geknüpft ist, die wiederum von der Arbeitsrolle abhängig sind. Die AutorInnen verstehen öffentliche Wohlfahrtsprogramme vielmehr als sekundäre und ergänzende Institutionen, die dem kapitalistischen Markt "untergeordnet" sind. Sie plädieren für eine genaue empirische Analyse der Ausdehnung und Verringerung der Leistungen, haben also ein zyklisches Verständnis der Funktion von Sozialpolitik.


Ordnung und Arbeit

Die These der AutorInnen kann wie folgt zusammengefasst werden: Fürsorgemassnahmen werden eingeleitet, um mit Erschütterungen in der Beschäftigungsstruktur, die Massenunruhen hervorrufen können, fertig zu werden, und dann - in veränderter Form - beibehalten, um die EmpfängerInnen zur Arbeit anzuhalten. "Expansive Fürsorgestrukturen" sind in diesem Verständnis also dazu bestimmt, Unruhen einzudämmen und die Aufrechterhaltung der Ordnung zu garantieren. Später werden Fürsorgestrukturen wieder "restriktiver" gehandhabt. Sie verschwinden nicht, ihre Form und ihre Funktion ändern sich aber, denn es geht nun darum, Arbeitsnormen zu verstärken und somit die Verallgemeinerung von Arbeit durchzusetzen.

Die Sozialfürsorge leistet daher einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der fortdauernden Schwächen des Marktes bei seiner Funktion, Menschen zu lenken und zu kontrollieren. Ist die ökonomische Erschütterung vorüber und die staatliche Ordnung wieder hergestellt, wird die Unterstützung von "ökonomisch Nutzlosen" weitergeführt. Es geht dann aber nicht mehr um die Aufhebung ihres Elends, sondern um Erniedrigung, damit die arbeitende Bevölkerung weiss, was ihnen bevorsteht, wenn sie arbeitslos wird. Zudem werden Arbeitslose für die härteste Arbeit und die geringste Entlohnung "fit" gemacht.


Idee weiterentwickeln

Die Idee von Piven und Cloward, wonach der Sozialstaat die Funktion der Regulierung der Armut übernimmt, läutet die theoretischen Auseinandersetzungen um das Thema "workfare" ein. Sie stellen anhand eines reichhaltigen empirischen Materials die Entwicklungen in den USA dar. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, ihre Positionen "überhistorisch" auf alle Länder und auf alle sozialpolitischen Programme anwenden zu wollen. Vielmehr sollen Expansion und Restriktion von Sozialpolitik empirisch überprüft, stets in ihrer historischen Entwicklung und in Bezug auf die zyklischen Bedürfnisse des Kapitals nach ausbeutbarer Arbeitskraft analysiert werden. Hierin liegt das sprengende Potential der Vorarbeit von Piven und Cloward.

FRANCES F. PIVEN, RICHARD A. CLOWARD (1977).
REGULIERUNG DER ARMUT. DIE POLITIK DER ÖFFENTLICHEN WOHLFAHRT.
EDITION SUHRKAMP.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40/2012 - 68. Jahrgang - 26. Oktober 2012, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2012