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VORWÄRTS/884: Lagerpolitik


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.47/48 vom 21. Dezember 2012

Lagerpolitik

Von Philippe Blanc und Maria Winker



Derzeit setzt sich eine neue Ära der Lagerpolitik durch. In der Schweiz sollen die bestehenden Lager für abgewiesene Asylsuchende und Lager für Personen mit laufendem Verfahren durch zentralisierte große Lager nach dem "Modell Holland" ersetzt werden. Lager aber sind totale Institutionen und führen zu Segregation, Disziplinierung und Prekarisierung.


Seit dem 28. September besteht die gesetzliche Grundlage zur Errichtung repressiverer grösserer Lager für Asylsuchende, denen nachgesagt wird, durch ihr Verhalten den ordentlichen Betrieb eines Zentrums gestört zu haben (AsylG, Art 26). Diese Lager für sogenannt "renitente" Asylsuchende sind ein wichtiger Schritt in Richtung rascher Umsetzung von Sommarugas Plänen zur Errichtung von halbgeschlossenen Bundeslagern. Die kantonalen Sozial- und PolizeidirektorInnen veröffentlichten hierzu am 21. November 2012 einen Bericht. Sie schlagen zwei Varianten vor: Erstere besteht darin, sämtliche Asylsuchende während des gesamten Verfahrens in fünf Bundeslager mit je 1200 Plätzen unterzubringen. Die Zweite sieht vor, im Umfeld der bestehenden Empfangszentren mehrere neue Lager für je 400 Asylsuchende zu errichten. Laut Bericht wäre der Bund dann für 60 Prozent Asylsuchende, primär Personen mit Negativ- oder Nichteintretens-Entscheid, zuständig. 40 Prozent der Gesuche würden weiterhin den Kantonen zugeteilt.

Um die Ausschaffungen zu beschleunigen, sollen zudem 700 zusätzliche Haftplätze geschaffen werden. Die SVP geht noch weiter und fordert in einer jüngst lancierten Volksinitiative Internierungslager.


Europäisches Grenzregime

Die Lagerpolitik der Schweiz orientiert sich am europäischen Grenzregime. Mit dem Haager Programm (2004) beschlossen die Mitgliedsstaaten des Schengenraums, die Einwanderung durch beschäftigungspolitische Kriterien, verstärkte Kontrolle und Militarisierung der Aussengrenze und systematische Ausschaffung abgewiesener Asylsuchender zu regulieren. Ziel ist es, nicht-europäische. EinwanderInnen frühzeitig zu erfassen, zu kontrollieren und zu verwahren. Seither intensiviert die Grenzschutzagentur Frontex ihre Einsätze auf der mediterranen See und entlang der östlichen Landesgrenzen. Zunehmend beteiligen sich auch Grenz- und Transitländer an der Kontrolle der Flüchtlingsströme.

Bei Bedarf wird als Druckmittel die Entwicklungshilfe an migrationspolitische Ziele gekoppelt. Im Zuge dieser Externalisierung der Grenzkontrollen entstanden innerhalb und ausserhalb des Schengenraums Hunderte von Lagern für Asylsuchende. In Grenzgebieten bilden sie mittlerweile ein gigantisches Bollwerk.


Abschottung und Disziplinierung

Von Lagern ist die Rede, weil es sich um Räume der kollektiven, ohne Strafverfahren verordneten Unterbringung zwecks Unterwerfung, Isolation und Repression handelt. Lager liegen meist an abgelegenen oder versteckten Standorten und weisen einen polizeilich-militärischen Charakter auf. Offiziell soll diese Segregation Migrationsströme abschrecken und die Bevölkerung vor ihnen schützen. Mit diesem Ziel werden in sogenannt entwickelten Demokratien Tausende von Nicht-EuropäerInnen in zweckentfremdeten Anlagen, Baracken, Zivilschutzanlagen, Kasernen usw. untergebracht.

Lager sind totale Institutionen. Sie sind nach Goffman (1961) "Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern". Dies erfolgt durch Disziplinierungmassnahmen. Das Zusammenleben der zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft ist geprägt durch rigide Vorschriften. Das Verhalten der BewohnerInnen wird überwacht und bei Devianz repressiv sanktioniert. Die täglichen Präsenzkontrollen, die zufälligen Zimmerkontrollen oder die akribischen Kontrollen in den schlechtbezahlten Arbeitsprogrammen sorgen dafür, dass sich die BewohnerInnen fügsam verhalten. Disziplinierend wirkt auch die Hierarchisierung der Asylsuchenden. Indem sie in Empfangs-, Durchgangs-, Sachabgabe- oder Speziallagern mit unterschiedlichen Lebensbedingungen untergebracht werden, erhalten sie entsprechend ihres Aufenthaltsstatus oder ihres Verhaltens gegenüber den Behörden eine ungleiche Behandlung.


Die Macht der Lager

Die Wirkung der Lager fusst aber nicht nur auf Segregation und Disziplinierung. Sie ist auch produktiv: Zwang und Konsens können zeitgleich erfolgen. Denn in Lagern internalisieren viele die Rolle, die ihnen das utilitaristisch-fremdenfeindliche Migrationsregime zuweisen will. Asylsuchende lernen, sich mit ihrer Stellung am untersten Ende der kapitalistischen Ausbeutungskette abzufinden und dementsprechend zu verhalten. Als Prekäre, die bei Bedarf auf geringst möglichem Niveau ausbeutbar sind, bilden sie einen Bestandteil der "industriellen Reservearmee". Sie ermöglichen Mehrwertsteigerung und intensivieren den allgemeinen Lohndruck.

Lager haben auch eine politische Macht. Der provisorische Charakter der Bauten, die ständigen Polizeikontrollen, die verordnete materielle Prekarität u.v.m. stigmatisiert Asylsuchende. Der Staat setzt auf Lager, um sein Migrationsregime aufrechtzuerhalten. Damit werden gleichzeitig Sündenböcke produziert, die fremdenfeindliche, rassistische oder faschistische Kräfte benötigen, um ihre Konstruktion einer Bedrohung der nationalen Identität, Sicherheit und Wohlstand voranzutreiben und die rassistischen Verhältnisse, die demokratische Gesellschaften tief durchdringen, zu reproduzieren.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 47/48/2012 - 68. Jahrgang - 21. Dezember 2012, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2013