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VORWÄRTS/885: Der lange Streik der Pfleger und Pflegerinnen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 25. Januar 2013

Der lange Streik der PflegerInnen

von Maurizio Coppola



Am 26. November 2012 begannen die Pflegerinnen des Privatkrankenhauses "La Providence" in Neuchâtel einen unbefristeten Streik. Sie kämpfen für den Erhalt des Gesamtarbeitsvertrages, der vom Regierungsrat ausser Kraft gesetzt wurde. Der Widerstand deckt Probleme und Fragen auf, die über die engen Grenzen des Krankenhauses hinausgehen und den gesamten Sektor betreffen. Am Samstag, 26. Januar findet eine Solidaritätsdemo in Neuenburg statt.


Im November 2012 teilte der Neuenburger Regierungsrat mit, dass die Gruppe "Genolier Swiss Medical Network", welche das Krankenhaus "La Providence" aufgekauft hat, eine Ausnahmebewilligung erhalten hat. Dies'e erlaubt, dass ab 2014 bis Ende 2016 der gültige Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für das Personal von "La Providence" nicht eingehalten werden muss. Die Folge davon ist, dass die Arbeitsbedingungen bei "La Providence" drastisch verschlechtert werden. Wie ein Beschäftigter während einer Versammlung erklärt, würde sein Monatslohn ohne den GAV um 1000 Franken sinken.

"La Providence" ist ein privates Krankenhaus, welches vom Kanton Neuchâtel aufgrund seiner regionalen und medizinischen Bedeutung subventioniert wird. Wie für alle anderen öffentlichen und subventionierten Gesundheitsinstitutionen gilt auch für "La Providence" der GAV "Santé 21". Zur Erinnerung: Ein GAV garantiert den Beschäftigten einerseits, dass die Unternehmen sie nicht gegeneinander ausspielen können, indem Arbeitsbedingungen, Lohn und Arbeitszeit einheitlich geregelt werden. Andererseits jedoch wird mit dem Abschluss eines jeden GAV auch eine Verpflichtung zum Arbeitsfrieden unterzeichnet: die Beschäftigten, Gewerkschaften und Unternehmen einigen sich darauf, in Bezug auf die im GAV festgelegten Regelungen keine konfliktuellen Mittel anzuwenden, sondern in einem "partnerschaftlichen Rahmen" zu verhandeln. Die Einhaltung eines GAV ist jedoch stark abhängig vom Kräfteverhältnis im Betrieb und in der Branche: Je organisierter die Beschäftigten sind, desto eher werden die Regeln eingehalten.


Die Grenzen von Verhandlungen

Die Beschäftigten haben mit der Unterstützung der Gewerkschaften vpod und syna gleich nach der Ankündigung der Ausnahmebewilligung reagiert. Über den Regierungsrat haben sie das kantonale Einigungsamt eingeschaltet, um gemeinsam am Verhandlungstisch einen "realistischen Lösungsvorschlag" zu erarbeiten. Doch schnell stiessen die Beschäftigten an die Grenzen dieser gewerkschaftlichen Konzertationspolitik, wie schon vorher viele ArbeiterInnen von öffentlichen und privaten Unternehmen, die sich gegen Entlassungen und Betriebsschliessungen organisierten (siehe exemplarisch das Beispiel von Merck Serono in Genf). Das Unternehmen weigerte sich, auf die Vermittlungsvorschläge einzutreten. Der Regierungsrat hingegen weigerte sich, die Durchsetzung des GAV zu verordnen, sprich die Ausnahmebewilligung aufzuheben. Denn in seiner Logik lassen sich Unternehmen im interkantonalen Wettbewerb nicht anziehen, wenn die Arbeitsbedingungen zu stark reguliert sind. Das Beispiel "La Providence" zeigt einmal mehr, dass die Lohnabhängigen auch in der Schweiz weder auf den Staat, noch auf das Kapital zählen können, um ihre Interessen durchzusetzen.


Die Forderungen der Beschäftigten

In der Versammlung vom 22. November 2012 entschieden die Beschäftigten, ab dem 26. November in einen unbefristeten Streik zu treten. Die Forderungen zeigen, dass es nicht nur um die Einhaltung des GAV "Santé 21" geht. Genolier strebt eine allgemeine Restrukturierung von "La Providence" an - und somit der gesamten Krankenhauslandschaft des Kantons. Denn mit der Übernahme des Krankenhauses sollen die nicht-medizinischen und nicht-pflegerischen Tätigkeiten wie die Wäscherei, die Reinigung und diejenigen rund um die Unterbringung der Patienten ausgelagert werden. Das Ziel dabei ist, diese Bereiche aus dem Geltungsbereich des GAV zu verbannen. Zudem kündete Genolier an, den Personalbestand reduzieren zu wollen. Dadurch soll der Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft erhöht und das Krankenhaus zunehmend zu einem profitablen Unternehmen verwandelt werden. In einer Resolution verwerfen die Beschäftigten diese Restrukturierungen und verlangen den Status quo im Krankenhaus "La Providence>.


Zuspitzung des Konflikts

Auch nach fast zwei Monaten bleibt die Mobilisierung ein Minderheitenstreik. Zwar konnten die Streikenden weitere KollegInnen dazu bewegen, sich ihnen anzuschliessen, doch der Streik bleibt isoliert. Genau hierin jedoch liegt der Knackpunkt, um das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Streikenden umzukippen. Und als sich der Streik ausweitete, reagierten Krankenhausdirektion und Kanton massiv: Am Weihnachtstag verordnete der Kanton die Räumung des Streikpostens, der gleich gegenüber des Krankenhaus lag. Dies schüchterte die Streikenden nur beschränkt ein, denn in kurzer Zeit wurde ein neuer Streikposten aufgebaut. Auf diese Entschlossenheit müssen die Streikenden aufbauen, um die Konfrontation mit der Direktion des Krankenhauses und dem Kanton zuzuspitzen.


Die Waffe der Solidarität

Die aktuelle Situation macht eine breite Solidarität notwendig. Prioritär ist zur Zeit, unsere individuellen und kollektiven Kräfte zu bündeln, um auf der Seite der Streikenden zu stehen, ihren Kampf aus der Isolierung zu reissen und ihn somit zu stärken. Zudem geht es darum, vermehrt über die kantonalen und Sprachgrenzen hinaus über den Streik zu informieren. Denn die Probleme der Arbeitsbedingungen, der Externalisierung und der Verringerung des Pflegepersonalbestandes bestehen auch in anderen Spitälern. Darum: Am 26. Januar alle nach Neuchâtel an die Solidaritätsdemo!

INFOS ZUM STREIK UND ZUR SOLIDEMO: WWW.SOLIDARITE-LAPROVIDENCE.CH

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2013 - 69. Jahrgang - 25. Januar 2013, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2013