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VORWÄRTS/903: Migrationsregime - Von Verwertung zu Ausgrenzung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.07/08 vom 1. März 2013

Migrationsregime: Von Verwertung zu Ausgrenzung

Von Anna Krauss



Die heutige Welt ist geprägt von zahlreichen Migrationsbewegungen mit globaler Reichweite. Die Ursachen von Migration(*) scheinen vielfältig zu sein: dazu gehören Kriege und Konflikte, Umweltkatastrophen und ökologische Verödung, Kapitalisierung der Landwirtschaft und ökonomische Perspektivenlosigkeit.


Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Migrationsbewegungen seit dem späten 20. Jahrhundert und gleichzeitig der qualitative und konsequenzenreiche Unterschied zu früheren Migrationsbewegungen liegt im tendenziell globalen Prozess der ökonomischen "Austrocknung": Die Menschen werden in stärkerem Masse nicht mehr aus agrarischen Verhältnissen (zwangsweise) für Lohnarbeit freigesetzt (zum Beispiel durch Landflucht hin zu Industriestandorten); sondern sie werden aus der Lohnarbeit selber herauskatapultiert. Den Hintergrund der Migration bildet nicht mehr die (gewaltsame) Mobilisierung der Arbeitskraft für den Kapitalismus, sondern im Gegenteil die weltweite Demobilisierung der Arbeitskraft. Es könnte von einer doppelten Entwürdigung gesprochen werden und zwar in dem Sinne, dass die Menschen erst dazu herabgewürdigt werden, sich als Ware Arbeitskraft verkaufen zu müssen, um dann nicht einmal mehr dies tun zu können, da sie schlicht nicht gebraucht werden. Anders formuliert: Immer mehr Menschen werden aus kapitalistischer Sicht unbrauchbar, weil sie ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können.

Dieses ökonomische Überflüssigwerden spiegelt sich auch auf der rechtlichen Ebene wieder. So droht all den ökonomisch Unbrauchbaren im Zuge des Ausnahmezustands die Reduzierung auf ihr nacktes Leben, auf ein rechtloses Leben. Der entsprechende Ort für jene Menschen ist das Lager. Allgemein ist die kapitalistische Produktions- und Lebensweise ein permanenter, relativer Ausnahmezustand unter dem Dauerterror der Verwertung. Das Lager ist - mal mehr, mal weniger präsent - untrennbar mit dieser Gesellschaftsform verwoben. In Zeiten der Krise spitzt sich der relative, demokratisch-rechtlich abgemilderte, permanente Ausnahmezustand der Normalität zu einem absoluten Ausnahmezustand bis hin zur völligen Entrechtung und Kontrolle zu. Dies gilt insbesondere für all jene, die nicht mehr den Anforderungen der kapitalistischen Verwertungsmaschine entsprechen können. So werden MigrantInnen für den Kapitalismus zunehmend zu überflüssigen, wertlosen und somit störenden Menschen.


Von der Verwertung zur Abschottung

Die Konsequenz: Das europäische Migrationsregime, wovon die Schweizer Asylpolitik ein Teil ist, verschiebt sich von Verwertung zu Abschottung und Ausgrenzung. Das heisst die Verwertung und Ausbeutung legaler und illegaler MigrantInnen existiert weiter, der Fokus der Politik (das lässt sich anhand der Investitionen, zum Beispiel für Frontex, leicht nachvollziehen) verschiebt sich jedoch zu Gunsten einer verstärkten Abschottung und Ausgrenzung. Das europäische Migrationsregime verschärft sich in einer zunehmenden und räumlich ausgedehnten Ausgrenzung sowohl nach innen als auch nach aussen hin: Europa verkommt zur Festung, das Mittelmeer zum Massengrab, die Aussengrenzen verschieben sich nach Nordafrika. Die europäische Migrationspolitik äussert sich in immer zahlreicher werdenden Lagern, sowohl in Europa als auch in Afrika, in als progressiv verkauften Rückführungsabkommen, in Aussetzungen in der afrikanischen Wüste, als sinkende Boote im Mittelmeer und zahlreichen Toden in Lagern, Ausschaffungsknästen und an den Grenzen. In der Schweiz lässt sich die Tendenz der Ausgrenzung beispielsweise an der Planung geschlossener Internierungslager und an den erneuten Verschärfungen des Asylrechts sowie der hetzerischen Stimmung gegen Asylsuchende festmachen.


Frauen und Migration

Die Rede von "der Migration" geht oft von einem einheitlichen migrierenden Subjekt aus. Dass eine solche Verallgemeinerung der Realität, die aus Tausenden Lebensläufen zusammengesetzt ist, nicht gerecht wird, ist klar. Frauen und Kinder machen weltweit den grössten Teil der Flüchtlinge aus. Die meisten von ihnen schaffen es nicht in die Festung Europa. Etwa ein Drittel der Asylgesuche, die 2011 und 2012 in der Schweiz gestellt wurden, stammen von Frauen. Die Migration von Frauen unterscheidet sich jedoch in einigen Aspekten von derjenigen von Männern. Migrantinnen sind sowohl von der kapitalistischen Verwertung als auch von der Tendenz der Ausgrenzung unterschiedlich betroffen.

MigrantInnen stehen in der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie am unteren Ende. Sie arbeiten vorwiegend in Billiglohnsektoren und sind dadurch einem erhöhten Risiko der Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt. Migrantinnen haben noch schlechtere Lebensbedingungen als Migranten. Frauen arbeiten vorwiegend in prekären, frauenspezifischen Jobs wie als Haushaltshilfen, als Putzfrauen, als Pflegerinnen, sowohl bei Privaten als auch in Spitälern, Heimen usw. sowie in der Prostitution. So sind sie gerade in Zeiten der Krise stärker durch Einsparungen und den Abbau der entsprechenden Infrastrukturen betroffen und somit durch eine entsprechend höhere Arbeitslosigkeit gefährdet.

MigrantInnen haben zudem ein erhöhtes psychisches und körperliches Gesundheitsrisiko, welches sich bei Frauen wiederum multipliziert. Es erklärt sich durch die schlechteren Arbeitsbedingungen, sowie durch die rechtliche wie soziale Diskriminierung als Minoritätsangehörige. Dazu gehören der schlechtere Zugang zum Gesundheitssystem, existenzielle Ängste und Rassismus. Die Diskriminierung und Abweisung durch die Mehrheitsgesellschaft haben einen direkten Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Die Ablehnung drückt sich dabei in Stressfaktoren aus, die die Psyche stark belasten können.


Ausgrenzung von Frauen

Frauen haben teilweise andere Fluchtgründe als Männer. Diese ergeben sich bereits aus ihrer Stellung in oft stark patriarchalisch geprägten Gesellschaften. Frauen werden Opfer von gewaltsamen Konflikten, häuslicher und sexueller Gewalt. Politische Verfolgung äussert sich bei Frauen zum Teil in anderer Form als bei Männern. Frauen haben andere gesellschaftliche Rollen inne und agieren häufig eher im Hintergrund. Ausserdem sind Frauen viel stärker als Männer von Verfolgung aufgrund von politischen Betätigungen ihrer Verwandten betroffen, sei es, weil ihre Verwandten im Gefängnis sind oder dass sie ins Ausland geflohen sind. Die Regierungen üben in vielen Fällen Druck auf die zurückbleibenden Frauen aus, um an Informationen über ihre Verwandten zu kommen.

Die Verfolgungsart äussert sich bei Frauen in fast allen Fällen in sexualisierter Gewalt. Hinzu kommt, dass Frauen auf ihrem Fluchtweg oder sogar im Zielland immer wieder sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass ein grosser Teil der migrierenden Frauen sexualisierte Gewalt in irgendeiner Form erlebt hat.

Erst seit 1998 sind frauenspezifische Fluchtgründe im Asylgesetz verankert (zum Beispiel häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Zwangsverheiratung). Die Chancen auf Anerkennung sind jedoch gering. Die Befragungssituation, ähnlich einem Verhör, ist zusätzlich traumatisierend. Den Behörden geht es bei dieser Befragung vor allem darum, der Gesuchstellerin Lügen zu unterstellen, um ihr Gesuch abzulehnen. Die Aussagen werden als unlogisch beurteilt, das Denken der BefragerInnen ist von Stereotypen und Vorurteilen geprägt. Die Gesuche werden in erster Instanz oft abgelehnt. Durch die geplante Einführung von Vorgesprächen, die an Dritte ausgelagert werden können, wird diese Situation weiter verschärft. Ergibt die Befragung, dass es sich um ein nicht "rechtmässiges" Asylgesuch handelt, wird sofort die Rückschaffung eingeleitet. Das Bundesamt für Migration stützt sich zudem auf "Herkunftsländerinformationen", deren Quellen geheim sind. Asylgesuche aus sogenannten "safe countries" werden nicht behandelt. Mit der neusten Revision wird zudem die Möglichkeit abgeschafft, in einer Schweizer Botschaft ein Asylgesuch zu stellen. Diese Massnahme trifft Frauen besonders hart, da eine Flucht für sie besonders risikoreich ist.


Negative Stereotypen

MigrantInnen sind Zielscheiben von Rassismus. Seien es latente rassistische Vorurteile oder medial inszenierte Hetzjagden, Rassismus dient der Verschleierung struktureller Ausbeutung und soll ablenken von der Gemeinsamkeit des Verwertet-Werdens im Kapitalismus. Zusätzlich werden Migrantinnen mittels Rassismus verschiedene negative Stereotypen zugeschrieben: Sie gelten als Exotinnen oder als rückständig und unterdrückt. Mit der Folge, dass Migrantinnen in einer passiven Opferrolle verschwinden und ihre Realität unsichtbar wird und bleibt. Dies dient der Entsolidarisierung durch die Verdeckung der verschiedenen Unterdrückungsmechanismen, die im Patriarchat alle Frauen betreffen.

Der Umgang mit Migration ist Ausdruck der kapitalistischen Ausbeutung. Hier leben darf nur, wer nützlich und verwertbar ist oder viel Vermögen mitbringt. Die anderen sollen bleiben, wo sie sind, oder sie werden in Lagern verwaltet.

Rechtliche Anerkennung, Bleiberecht und Bewegungsfreiheit sind Forderungen, welche angestrebt werden müssen. Dennoch muss dabei immer mitgedacht werden, dass diese im Kapitalismus niemals für alle Menschen umsetzbar sind. Ausschluss, und somit "VerliererInnen, sind dem Kapitalismus innewohnende und ihn bedingende Kategorien. Ein gutes und würdiges Leben für alle ist nur jenseits des kapitalistischen Systems möglich! Wehren wir uns gegen patriarchale und kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung! Für eine Welt ohne Grenzen!

(*) Migration meint in diesem Text nicht die der oberen Klassen. Das Beschriebene gilt nur für die unten, denn die anderen erleben gerade das Gegenteil: Die Mobilität von ManagerInnen, Expats usw. ist erwünscht und wird politisch gefördert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 07/08 - 69. Jahrgang - 1. März 2013, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2013