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VORWÄRTS/908: Marx' Fetische


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.09/10 vom 15. März 2013

Marx' Fetische

Von Peter Streckeisen



Marx' "Kapital" steckt voller religiöser Metaphern und seine Ökonomiekritik kommt nicht selten im Ton der Religionskritik daher. Was hat es mit dem "Fetischtheorem" auf sich, dem die marxistische Tradition wenig Beachtung geschenkt hat?


Im Vorwärts vom 15.2.2013 klagt Ralf Binswanger vom Revolutionären Aufbau über die Tendenz, "Engels als Verflacher und Dogmatisierer von Marx zu verunglimpfen" ("Über Engels nur leeres-Gerede"). Er wirft auch mir vor, Engels ohne Belege zu kritisieren und dazu beizutragen, dass die "praktische Sprengkraft" der marxschen Theorie "abgestumpft wird".

Ich will hier nicht auf die Kontroverse zu Engels' Rolle bei der Herausgabe des 2. und 3. "Kapital"-Bandes eingehen. Es geht mir nicht um die Frage, ob Engels Aussagen fälschte: Das tat er meines Erachtens nicht. Doch seine "Vollendung" des "Kapital" liess das Werk zur "Bibel der Arbeiterklasse" werden - das sind seine eigenen Worte - und so konnte eine marxistische "Marx-Religion" entstehen. Zugleich hatte Engels viel Einfluss, wie "Das Kapital" gelesen wurde, und dabei sind gewisse Aspekte unter den Tisch gefallen. So etwa das "Fetischtheorem", das erst mit Lukacs' "Geschichte und Klassenbewusstsein" (1923) neu entdeckt wurde.


Von der "dürren Ausbeutung"...

Marx' Einleitung "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" beginnt mit dem Satz: "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik". Der junge Marx folgte der Feststellung von Feuerbach, nicht Gott habe die Menschen nach seinem Bild gemacht, sondern umgekehrt: Menschen haben Gott nach ihrem Bild erfunden. Nun gelte es, die "Kritik des Himmels" in eine "Kritik der Erde" zu verwandeln und jene gesellschaftlichen Verhältnisse ins Visier zu nehmen, welche die Religion als "Opium des Volkes" hervorbringen. Diese Aufgabe werde dadurch begünstigt, dass die Herrschaft der Bourgeoisie den Ausgebeuteten ein klares Bild ihrer Lage präsentiere: "Sie hat an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt", steht im "Kommunistischen Manifest". Und weiter: "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen".


...zur "Alltagsreligion"

Diese Hoffnung auf eine neue Durchsichtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ist im "Kapital" verflogen. Da ist nicht von "nüchternen Augen" die Rede, sondern der berühmte Satz "Sie wissen das nicht, aber sie tun es" steht im Zentrum. Marx beobachtet, dass der Kapitalismus eine "Alltagsreligion" hervorbringt, ein neues System von Trugbildern, das an die Stelle mittelalterlicher Illusionen tritt und die gesellschaftlichen Verhältnisse verzaubert. So betrachten die Menschen ihre Lage durch die Brille der "Trinitarischen Formel" und glauben, dass Arbeit, Boden und Kapital (die Produktionsfaktoren der klassischen Ökonomie) ihnen so selbstverständlich ein Einkommen garantieren, wie ein Baum Früchte trägt. Marx spricht von "verrückten", aber "gesellschaftlich gültigen", "objektiven Gedankenformen": Das Kapital prägt die Formen, in denen Menschen die Welt wahrnehmen, auf eine Art, die Analogien zur "Nebelregion der religiösen Welt" aufweist.


Kapitalfetisch

Als das im klassischen Marxismus vergessene "Fetischtheorem" durch Lukacs und andere wieder entdeckt wurde, konzentrierte sich die Diskussion auf das berühmte Kapitelchen zum "Warenfetischismus" im ersten Band des "Kapital". Doch für Marx ist nicht die Ware, sondern das Kapital der mächtigste Fetisch. Es hat die "okkulte Qualität" sich selbst zu vermehren. Es "wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier". Fetischismus bedeutet einerseits, dass gesellschaftliche Verhältnisse undurchsichtig sind, weil sie sich an Dingen äussern und hinter diesen verstecken. Darüber hinaus ziehen die Dinge, in denen das Kapital haust, Menschen in ihren Bann und üben eine magische Kraft auf sie aus, bei der es sich um nichts anderes handelt als um gebündelte soziale Energie, die durch massenhafte Verwertung von Arbeitskraft entsteht. Die Finanzmärkte stehen heute als schlagendes Beispiel sowohl der Faszination als auch der brutalen Gewalt des Kapitalfetisches da.


Ideologiekritik reicht nicht

Marx' "Kapital" zeigt, dass Religionskritik im Kampf gegen den Kapitalismus wichtig bleibt - anders als Marx in den Frühschriften erwartete. Nur geht es nun um die kapitalistische "Alltagsreligion" und die Kritik an den HohepriesterInnen des Kapitals, die unter Ökonomen und anderen so genannten ExpertInnen stark vertreten sind. Sie stehen den zynischen IdeologInnen zur Seite, die dem Volk eine Religion predigen, an die sie nicht glauben - nach dem Motto: "Sie wissen sehr wohl, was sie tun, doch sie tun es trotzdem" (Sloterdijk). Wenn wir das "Fetischtheorem" ernst nehmen, genügt es nicht, kapitalistische Ideologien zu kritisieren. Vielmehr muss untersucht werden, wie und warum diese wirken. Es kann nicht einfach "falsches" durch "richtiges" Klassenbewusstsein ersetzt werden, indem die Wahrheit über die Ausbeutung verkündet wird. Denn die Macht der "verrückten Gedankenformen" des Kapitals ist daran geknüpft, in welchem Ausmass sie für die Menschen praktisch wahr oder nützlich sind. Wie der Gläubige konkrete praktische Vorteile daraus zieht, den religiösen Regeln zu folgen, hängt die Existenz der Menschen im Kapitalismus "bei Strafe des Untergangs" daran, sich gemäss der "Alltagsreligion des Kapitals" zu verhalten. Um dies zu tun, brauchen sie nicht unbedingt an den Kapitalfetisch zu glauben.


Verdrängung

Das "Fetischtheorem" ist eine schlechte Nachricht für jene RevolutionstheoretikerInnen, die zu wissen glaub(t)en, wie und wann sich der Kapitalismus stürzen lässt. Das ist sicher ein Grund, warum es in der marxistischen Tradition verdrängt wurde. Lange Zeit vor der "Bestechung" durch den Sozialstaat oder der "Verdummung" durch das Fernsehen hat Marx ein Phänomen analysiert, das den Klassenkampf sehr schwierig macht. Doch es erhöht nicht die "praktische Sprengkraft" seiner Theorie, davor die Augen zu verschliessen. Der Preis, den der Marxismus für die Verdrängung des "Fetischtheorems" bezahlte, war nicht zuletzt die unbewusste Reproduktion kapitalistischer Fetische: So wies etwa der "real existierende Sozialismus" in Sachen technischer Fortschrittsglaube oder Arbeitsfetisch die Tendenz auf, den "Klassenfeind" noch zu überbieten.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 09/10 - 69. Jahrgang - 15. März 2013, S. 12
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2013