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VORWÄRTS/941: Kroatien ante portas


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 21. Juni 2013

Kroatien ante portas

von Michael G. Kraft



Am 1. Juli 2013 wird Kroatien als 28. Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) beitreten. Doch entgegen der Euphorie wie beim EU-Beitritt Sloweniens im Jahr 2004, als das Land als erster Nachfolgestaat Jugoslawiens in den exklusiven Club aufgenommen wurde, mehren sich in Kroatien die kritischen Stimmen. Die Erzählung der EU von Frieden und Wohlstand wird zunehmend - insbesondere von einer jungen und schlagkräftigen Linken - in Frage gestellt. Selbst der ehemalige Musterschüler Slowenien taugt seit der fatalen kapitalistischen Krise nicht mehr als erstrebenswertes "role model".


Mitte Mai in der kroatischen Hauptstadt. Es herrscht geschäftiges Treiben in der Zagreber Innenstadt. Die Cafés und Bars sind voll junger Menschen, westliche Einkaufsketten prägen das Stadtbild, Manager und Banker dinieren in den Gastgärten und die Stadt erscheint im Glanz der alten österreichisch-ungarischen Monarchie. Kroatien ist noch vor dem formalen Beitritt in der EU angekommen. Doch das Bild trügt in mehrerer Hinsicht bzw. gibt es nur einen kleinen Ausschnitt der kroatischen Realität nach 20 Jahren der Transformation preis. Die soziale und wirtschaftliche Situation hat sich in Kroatien in den letzten Jahren massiv verschlechtert. Daran wird auch der kommende EU-Beitritt wenig ändern. Vielmehr wird er von der neuen Linken in Kroatien "eher als Teil des Problems denn der Lösung" gesehen, wie der kroatische Intellektuelle und Aktivist Srećko Horvat feststellt. Und tatsächlich hat die EU mit ihren Auflagen und neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Die Subventionen an die großen Schiffswerften wurden weitgehend gestrichen, der allgemeine Prozess der Deindustrialisierung vorangetrieben und bei den Sozialausgaben wird weiter gekürzt. Deshalb kann heute die wirtschaftliche und soziale Situation getrost als desaströs bezeichnet werden. Daran hat auch die seit Dezember 2011 regierende sozialdemokratisch geführte "Kukuriku-Koalition" nichts geändert. Auch sie hält weiter am neoliberalen Kurs fest. Es ist also kaum verwunderlich, dass beispielsweise in Bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit Kroatien mit 51,6% vor Griechenland und Spanien an drittletzter Stelle liegt. Fallende Industrieproduktion, steigende Arbeitslosenzahlen, sinkende Konsumausgaben, negative Wachstumsraten sowie steigende Inflation sind die Folgen dieser Wirtschaftspolitik. All das spiegelt sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung wider. Trotz massiver Parteipropaganda für den EU-Beitritt beim EU-Referendum im Januar 2012 gingen nur 43,5% der KroatInnen zur Urne. Und von diesen stimmten gerade einmal 66,3% für einen EU-Beitritt Kroatiens.


Mobilisieren!

Ich treffe den Dramaturgen und politischen Theoretiker Marko Kostanić im Café des Zagreber Theaters der Jugend. Er erzählt mir von der massenhaften Mobilisierung im Zuge der Studierendenbewegung und den Fakultätsbesetzungen ab 2008. Insbesondere an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb wurden neue partizipative Organisationsformen erprobt und ein Freiraum für die Vernetzung und Diskussion mit anderen gesellschaftlichen Gruppen wie BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen oder Universitätsbediensteten geschaffen. Dadurch wurde erstmals seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens in einem seiner Nachfolgestaaten ein größerer politischer Artikulationsraum für eine neue emanzipatorische Linke geschaffen. Und obgleich die Bewegung heute etwas abgeflaut ist, so arbeiten doch eine Unzahl der damaligen AktivistInnen in unterschiedlichen neuen linken Organisationen und Aktionen weiter. Als Beispiel nennt Kostanić die von ihm mitorganisierte Anti-EU-Kampagne 2012. Mittels einer gründlichen Analyse der gegenwärtigen Verfassung der EU und deren Krisenpolitik wiesen die AktivistInnen darauf hin, dass Kroatien sehr bald in eine supranationale Organisation eintreten werden, die sich durch ihr demokratisches Defizit und ihre neoliberale Krisenbewältigungsstrategie auszeichnet und die peripheren Länder Europas in einer quasi neokolonialistischen Beziehung an das kapitalistische Zentrum bindet. Man publizierte regelmäßig in der Zeitschrift Zarez und nahm an Diskussionen im Staatsfernsehen und Radio teil. Zwar konnte man den EU-Beitritt nicht abwenden, doch die niedrige Wahlbeteiligung zeigt, dass die KroatInnen wenig Zuversicht in die politischen Institutionen haben und zunehmend die vermeintlichen Segnungen jenseits der Schengen-Grenze in Frage stellen. Deshalb war die Kampagne ein wichtiger Beitrag dazu, eine solche Auseinandersetzung zu fördern und "die falsche Dichotomie zwischen der EU und dem Balkan zu durchbrechen", so Kostanić.


Postsozialistische Verhältnisse

Auf der Ilica Straße unweit des zentralen Ban-Jelacić-Platzes gehe ich an der einst größten kroatischen Kaufhauskette Nama vorbei. Ihr gegenüber das altehrwürdige Gebäude der zweitgrößten kroatischen Bank Privredna banka Zagreb (PBZ), die heute, wie fast 90% der kroatischen Banken, in ausländischem Besitz steht. Und als sei es pure Ironie, werden beide Gebäude durch ein großes Banner des 6. Subversive Festivals miteinander verbunden. Aber es gibt tatsächlich eine implizite Verknüpfung dieser scheinbar unzusammenhängenden Orte. Die jüngere Geschichte der beiden Institutionen steht sinnbildlich für den Konsens der postsozialistischen Eliten Kroatiens: im Rahmen der neoliberalen Ideologie umfassender Privatisierungen wurden beide als Selbstbedienungsläden nach dem "Unabhängigkeitskrieg" hemmungslos von den wirtschaftlichen und politischen Eliten geplündert. Als die PBZ die Kaufhauskette übernahm, begann Nama riesige Verluste anzuhäufen, indem das Unternehmensvermögen zu Gunsten von Dividenden und unrealistischen Zinsen aufgebraucht wurde. Nachdem vier Jahre später der Ressourcenraub abgeschlossen war, verkaufte die PBZ die ausgeschlachtete Nama wieder an den Staat zurück. Wie Jovica Loncar vom im Zagreb ansässigen Zentrum für Arbeiterstudien festhält, kam "dieses Modell bei vielen ähnlichen Übernahmen in Kroatien zur Anwendung." Und der Fall Nama, so Loncar, "sei beispielhaft dafür, wie in Kroatien die Mehrheit des gesellschaftlichen Eigentums während der sogenannten Transformation zur Marktwirtschaft geplündert und zerstört wurde." Doch das Transparent, das beide Gebäude miteinander verbindet, könnte gleichsam für Utopie und Aufbruch stehen. Das Subversive Festival, das heuer unter dem Titel "Die Utopie der Demokratie" zum sechsten Mal stattfand, hat Zagreb zum Mittelpunkt einer neuen Linken am Balkan gemacht. Initiiert von ehemaligen AktivistInnen der Studierendenproteste 2009 ist es mittlerweile zu einem derart großen Ereignis angewachsen, dass Bernard Cassen, Mitbegründer des Weltsozialforums, unlängst festhielt "Zagreb sei auf dem besten Wege das Porto Alegre Europas" zu werden. Und es spricht tatsächlich einiges dafür. Mit der Gründung eines Balkan-Forums 2012 treffen sich seither neben der globalen intellektuellen linken Elite auch eine ungeheure Anzahl an Graswurzelbewegungen und AktivistInnen des Balkans. Bedeutsam ist dabei einerseits, sich zu vernetzen und voneinander zu lernen, aber auch die Isolierung und Fragmentierung kleiner linker Gruppierungen zu überwinden sowie gemeinsam an einem Gegennarrativ zu arbeiten und Widerstand und Solidarität zu organisieren. Am diesjährigen Balkan-Forum wurden schwerpunktmäßig Themen wie "Commons und öffentliche Güter", "Demokratie und Teilhabe", "Arbeitskämpfe", "Medien und Öffentlichkeit" sowie "Geschlecht und Klasse" bearbeitet.


Ein Blick zum Nachbarn in der EU

Die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der korrupten liberalen Demokratie und immer skrupelloseren Austeritätsmaßnahmen hat im nördlichen Nachbarland Slowenien in den letzten Monaten zu landesweiten Protesten und Aufständen geführt. Anej Korsika von der Arbeiter-Punk-Universität in Ljubljana berichtet, wie im November 2012 erzürnte BürgerInnen gegen den korrupten Bürgermeister von Maribor auf die Straße gingen und wie sich in der Folge die Proteste über das ganz Land und die Hauptstadt Ljubljana ausweiteten. In der einst als "Schweiz des Balkans" bezeichneten Nation nahmen diese Ereignisse viele KommentatorInnen mit Überraschung. Doch tatsächlich war das postsozialistische Wirtschaftssystem auf einer Immobilienblase, Korruption und Umverteilung von unten nach oben gebaut, das einigermaßen funktionierte, solange der ausländische Kapitalfluss nicht versiegte. Nach mehreren landesweiten Protesten, sogenannten "All-Slovenian-Uprisings", lancierten AktivistInnen an der May-Day-School der Arbeiter-Punk-Universität am 1. Mai dieses Jahres eine Initiative für einen Demokratischen Sozialismus. In einem Land im Würgegriff kapitalistischer Schocks und angekündigter Privatisierungsmaßnahmen bedarf es "systemischer Veränderungen und dafür will man den Begriff des Sozialismus erstmals seit 20 Jahren wieder positiv besetzen", so der Koordinator der Initiative Anej Korsika. Langsam und von unten soll an einer konkreten Alternative gearbeitet werden, die man schrittweise auch in die von Privatisierungen bedrohten Unternehmen tragen will. Es bleibt zu hoffen, dass derartige Initiativen an Stärke gewinnen und es auch zu einer länderübergreifenden Vernetzung, Solidarität und Mobilisierung kommt. Dadurch könnte man der EU endgültig klar machen, dass sie den Balkan mehr braucht, als der Balkan die EU.


KASTEN
Hintergrundinformation: Subversive Festival

Das Subversive Festival wurde 2008 in Zagreb gegründet. Während es zu Beginn noch "ein kleines Filmfestival mit ein paar Vorträgen" war, so Festivalleiter Srećko Horvat, ist es in den letzten Jahren stark angewachsen. Seit 2011 firmiert unter dem Titel Subversive Forum ein internationales linkes Forum, das TheoretIkerInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen aus der ganzen Welt vereint. Zum diesjährigen Festival ("Die Utopie der Demokratie") kamen über 300 TeilnehmerInnen, darunter Alexis Tsipras vom griechischen Linksbündnis Syriza, der US-Regisseur Oliver Stone und der slowenische Philosoph Slavoj Zizek. Die knapp 20.000 BesucherInnen lauschten nicht nur den Gesprächen, sondern es ging insbesondere darum "eine Verbindung zwischen den Ländern der EU-Peripherie und eine neue Solidarität zwischen Nord- und Südeuropa herzustellen", so Horvat. Mit der Gründung des Balkan-Forums letztes Jahr schufen die OrganisatorInnen auch einen Rahmen für die Vernetzung linker AktivistInnen aus ganz Europa.

Weiterführende Literatur

Loncar, Jovica (2013): "Arbeitskämpfe im postsozialistischen Kroatien: Kontext und Geschichte", in: Michael G. Kraft (Hg.) Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien, Wien: Mandelbaum, S. 163-182.

Horvat, Srećko (2012): "Why the EU needs Croatia (even more than Croatia needs the EU)",
http://www.opendemocracy.net/sre%C4%87ko-horvat/why-eu-needs-croatia-even-more-than-croatia-needs-eu vom 11.12.2012.



Vom Autor ist zuletzt erschienen:
Michael G.Kraft (Hg.)
Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien
Euro 19,90
310 Seiten
Englische Broschur
Mandelbaum Verlag, Reihe kritik&utopie, Wien
Format 12 x 19 cm
ISBN 978-3-85476-621-6

Weitere Informationen:
http://www.meta-don.org/newborder/?p=2822

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2013 - 69. Jahrgang - 21. Juni 2013 , S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2013