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VORWÄRTS/948: Die Revolution der Korrektur


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.27/28 vom 19. Juli 2013

Die Revolution der Korrektur

Von Michi Stegmaier



Das postrevolutionäre Ägypten ist um eine Episode reicher. Was mit fünf jungen AktivistInnen und der Kampagne "Rebellion" vor drei Monaten begann, endete mit dem Sturz von Präsident Mursi. Für Ägypten die zweite Welle der Revolution, für den Rest Welt ein aalglatter Militärcoup.


Alleine am 30. Juni gingen in Ägypten 17 Millionen Menschen gegen die Diktatur des politischen Islams auf die Strasse. Ob's jetzt gleich die grösste politische Manifestation in der Geschichte der Menschheit war, wie die BBC berichtete, ist zweitrangig. Beeindruckend ist diese Mobilisierung alleweil. Insbesondere wenn man sich vor Augen hält, dass es weder grosse Gewerkschaften noch organisierte Parteistrukturen waren, die diesen Kraftakt an den Tag legten. Und schon im Vorfeld war klar, dass es der letzte Millionenaufmarsch dieser Art sein würde. "Heute oder nie" war die Parole, denn zu oft wurden in den letzten Monaten Massenmobilsierungen von den Mächtigen einfach ignoriert.

Einige verloren die Hoffnung, andere Teile der revolutionären Strasse begannen sich immer mehr zu radjkalisieren und selbst über den bewaffneten Kampf wurde immer lauter nachgedacht. Es sind nicht wenige in Ägypten, die der Meinung sind, dass der Geduldsfaden des ägyptischen Volkes endgültig gerissen wäre und ein Bürgerkrieg begonnen hätte, wäre Mursi weiter im Amt geblieben. Tatsächlich hat das forsche Vorgehen der Militärs die Lage in Ägypten vorerst entschärft, auch wenn die sogenannten westlichen Nahost-ExpertInnen mit ihrem islamophob-rassistischen Tunnelblick da eine andere Wahrnehmung haben. Vielleicht merken sie irgendwann selbst, dass grundsätzlich immer das Gegenteil von dem eintritt, was sie so vorhersagen. Aus dem Arabischen Frühling ist allen Unkenrufen zum Trotz jedenfalls kein islamistischer Winter geworden.


Vom Kater nach dem Feiern

Und wie meistens im postrevolutionären Ägypten folgt auf das extatische Jubeln der Kater. Spätestens nach dem Publizieren des neuen Verfassungsentwurfs, der zahlreiche Zugeständnisse an die SalafistInnen beinhaltet, sprechen die ersten Oppositionellen schon von einem neuen Komplott zwischen dem alten Regime, den USA, Saudi-Arabien und der salafistischen Bewegung, welcher die "alte Verschwörung" zwischen Muslimbrüdern, Katar und Israel einfach ablöst. Zwar sind solche unguten Gefühle nachvollziehbar - und auch nicht einfach so von der Hand zu weisen - aber vielleicht liegt gerade in diesem diffusen Antiimperialismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus die eigentliche Schwäche der Bewegung, weil damit immer auch ein Gefühl der Ohnmacht verbunden ist. Und anders als bei der ersten Revolution wird dieses Mal empört registriert, wie unausgewogenen und selektiv die westlichen Medien berichten. Selbst die "Nationale Rettungsfront" wertet dies als ungutes Zeichen, und nicht wenige sehen darin den Vorboten einer internationalen Militärintervention, um Mursi wieder ins Amt zu hieven.

Und es sollte der "Faktor Mensch" nicht ganz vergessen gehen. Gerade weil der Umbruch in der arabischen Welt viel mit Bewusstsein, neuem Denken, der Emanzipation von Unterdrückung und der Selbstbefreiung von der Angst zu tun hat. Nach zweieinhalb Jahren Strassenkampf Auge-in-Auge hat sich auch das Verhältnis zwischen den jungen RevolutionärInnen und dem Sicherheitsapparat verschoben. Es werden nicht wenige Polizisten, Soldaten und Offiziere sein, die derweil offen mit der Revolution sympathisieren und die keine Lust mehr haben, sich für eine Handvoll ägyptischer Pfund gegen die eigenen Leute zu stellen.

Wenn man sich vor Auge hält, dass Ägypten eine Volksarmee hat und dass viele, die am 25. Januar 2011 dabei waren, das Adidas-Shirt gegen eine kratzige Uniform getauscht haben, dann kann man davon ausgehen, dass die ägyptische Armee kein in sich geschlossener homogener Block mehr ist. Bis heute ist die Rolle der ägyptischen Militärs während der Revolution nicht wirklich geklärt. Vieles deutet im Nachhinein darauf hin, dass schon damals durch Befehlsverweigerung und spontane Solidarisierung ganzer Einheiten mit dem ägyptischen Volk kurzerhand Fakten geschaffen wurden, die die Generäle völlig überrumpelt und vor vollendete Tatsachen gestellt haben.


Die Blutspur der Generäle

Mit Volkes Segen und einer Legitimation ausgestattet, die das Mubarak-Regime so wohl nie hatte, war das blutige Massaker vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden an den Muslimbrüdern ein Szenario, welches zu befürchten war. Zwar bemühten sich die politischen Kräfte aller Schattierungen, das Vorgehen der Militärs aufs Schärfste zu verurteilen, forderten unisono Aufklärung und Verfolgung der Täter, erinnerten die Muslimbrüder aber ebenso an ihr eigenes Schweigen: damals, als die Proteste der christlichen Kopten gegen religiöse Hetze im Staatsfernsehen von Panzern zermalmt wurden; damals, als die Militärpolizei vor den ersten freien Wahlen - der Westen bezeichnet dies so gerne als "Demokratiebewegung" - auf dem Tahrir massakriert hat und Tote und Sterbende am Rande des Platzes einfach wie Abfall entsorgt wurden; damals, als im Nildelta die Proteste der Landlosen zusammengeschossen wurden; damals, als die Bruderschaft von der Macht beschwipst schwieg.

Viele haben ihnen das bis heute nicht vergeben. Gut möglich, dass Ägypten gerade nicht nur die Entmystifizierung des politischen Islam erlebt, sondern auch den Beginn vom Ende der Generäle. Zwar mögen sie sich derzeit wieder sicher in ihrem Sattel wähnen, doch der Schein trügt. Die Vendetta, die Rache für die vielen Toten, sie geht weiter. Die Ultras etwa - ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor - haben schon Tage vor dem 30. Juni angekündigt, nicht zu mobilisieren, sich aus den aktuellen politischen Geschehnissen rauszuhalten und sich weder von der einen noch anderen Seite vereinnahmen zu lassen, da für sie der Kampf gegen den Obersten Militärrat sowie gegen die Schergen des alte Regimes ungebrochen weitergeht. Diejenigen, die mit den Generälen noch eine offene Rechnung haben, sind diese Tage jedenfalls nicht weniger geworden.


Eine "dreckige" Allianz

Zwei Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings bestätigt sich vor allem eins: Der Westen hat von Anbeginn einen medialen Krieg um die Deutungshoheit und die Definitionsmacht der Ereignisse geführt. Mursi ist weg und auch die langen Schlangen vor den Tankstellen sind mit seinem unsanften Abgang verschwunden, wer da Böses denkt ... Die dunklen Gestalten, sie sind wieder da. Doch die ersten Risse zwischen dieser "dreckigen" Allianz der zivilgesellschaftlichen Kräften, den salafistischen Wahhabitlnnen, der revolutionären Jugend und den Kräften des alten Regimes, sie waren schon wenige Tage nach Mursis Entmachtung sichtbar.

Lang wird dieses Bündnis wohl kaum halten. Und bald kommt der Herbst und mit ihm eine ganze Reihe von "heissen Tagen" der Wut und des Gedenkens: Maspero, der Novemberaustand, die Schlacht um den Präsidentenpalast, der Mord an Gika, der Jahrestag der Revolution, das Massaker von Port Said. Dann wird die revolutionäre Avantgarde wieder zu Tausenden auf den Plätzen und der Strasse sein, sie, die Mubarak gestürzt und Mursi entmachtet hat. Es ist nicht nur ein Kampf um Ideologie oder Religion, sondern ein Generationenkonflikt und ein Aufeinanderprallen von Mentalitäten. In einem Land, wo 70 Prozent der Bevölkerung unter 28 Jahre alt ist, werden es die jungen Kräfte sein, die über die Zukunft bestimmen. "Die Revolution der Korrektur", sie hat die Tür dafür wieder aufgestossen. Entscheidend wird nun sein, inwieweit es den zivilgesellschaftlichen Kräften und alten Seilschaften gelingt, die Generation der Revolution in den Machtprozess einzubinden. Wird dies in den nächsten Wochen nicht gelingen, dann wird auch die neue Regierung kläglich scheitern.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 69. Jahrgang - 19. Juli 2013, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2013