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VORWÄRTS/969: Wir sind alle Arme!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.39/40 vom 8. November 2013

Wir sind alle Arme!

Von Maurizio Coppola



Anfang Oktober ist ein Buch mit dem Titel "Armut ist Diebstahl. Warum die Armen uns ruinieren" erschienen. Der Autor René Zeyer plädiert darin auf der Basis pseudowissenschaftlicher Fakten gegen gesellschaftliche Solidarität. Das Resultat: Ein sozialrassistisches Pamphlet.

"Die Armen machen uns alle ärmer", so beginnt die eigene Buchbesprechung von René Zeyer in der Weltwoche vom 3. Oktober 2013 - just dem 3. Oktober, an dem vor Lampedusa hunderte von Flüchtlingen bei der Überfahrt nach Europa gestorben sind. Elf Tage später erhält der Publizist gleich noch eine Plattform im "Tages Anzeiger". Thema: Die "Tragödie" von Lampedusa. Seine politische Antwort darauf: Abschaffung der Entwicklungshilfe und Aufbau von Lagern in Nordafrika, um die Flüchtlingswellen zu stoppen. Da dieser von Zeyer geführte ideologische Krieg im aktuellen gesellschaftlichen und politischen Kontext eine wahrheitskonstituierende Wirkung erzielen wird, lohnt es sich, auf seine Prämissen zu blicken - und sie mit der Waffe der Kritik zu zerschlagen.


Armut als gesellschaftliches Verhältnis

Eine der Grundprämissen Zeyers lautet, Armut sei ausschliesslich auf das individuelle Fehlverhalten von Menschen zurückzuführen. Einerseits impliziert er damit ein richtiges moralisches Verhalten, das nicht zu Armut führe; andererseits, dass jedes Armutsbekämpfungsprogramm nutzlos, ja Umverteilung gar Diebstahl sei, denn was zur Unterstützung von Armen aufgewendet werde, müsse zuerst von der Gesellschaft mit Wertschöpfung hergestellt werden. In dieser Argumentationslogik wird die kapitalistische Klassengesellschaft vollständig verschleiert: Armut ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das primär nicht durch das individuelle Verhalten von Menschen, sondern durch die Eigentumsverhältnisse und die Funktionslogik des Kapitals - Ausbeutung und private Aneignung des durch die ArbeiterInnen produzierten Mehrwerts - historisch durchgesetzt wurde. Die sozialstaatlichen Einnahmen über Steuern und Versicherungsbeiträgen steilen im entwickelten Kapitalismus eine Form sekundärer Ausbeutung dar. Die soziaistaatlichen Einnahmen über Steuern und Versicherungsbeiträge werden von ArbeiterInnen generiert und sind nicht von der Caritas der KapitalistInnen abhängig. Diese sozialstaatlichen Leistungen kommen dann erst später, indirekt und gekoppelt an Zwang, wieder den ArbeiterInnen zugute. Wenn Zeyer nun die Aussage macht, die "ständig steigenden Sozialausgaben ruinieren uns", dann blendet er aus, dass sie einen indirekten Lohn darstellen.


Autoritäre Sozialpolitik

Eine weitere Grundannahme Zeyers ist, dass aufgrund der Selbstverschuldung von Armut nur eine autoritäre Intervention des Staates diese tatsächlich angehen kann. "Der Hebel muss dort angesetzt werden, wo er wirkt: mit Zwang und materiellen Sanktionen. Nicht 'fördern und fordern', sondern 'befehlen und bestrafen'." Dieses neokonservative Plädoyer hat an sich nichts Neues: Die Armen- und Zwangsarbeitshäuser bildeten schon im 16. und 17. Jahrhundert den Ursprung sozialstaatlicher Intervention. Damals wurden vor allem die vagabundierenden Armen in Zwangseinrichtungen eingesperrt und ihre Arbeitskraft in einem regelrechten Sklavenverhältnis dem Adel zur Verfügung gestellt. Zudem wurden Zwang und Sanktionen in den USA ab den 197Oern intensiviert - dies jedoch für eine spezifische Gruppe, nämlich die afroamerikanische "Minderheit". Heute sitzen in den USA mehr Schwarze im Gefängnis als es im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert Sklaven gab. Aber auch in Europa war und ist Armenpolitik eng an Zwang (Beschäftigungsprogramme) und materielle Sanktionen (Reduzierung der finanziellen Leistungen) gekoppelt. "Fördern und fordern" bezeichnete im orwellschen Neusprech schon immer "befehlen und bestrafen". Mit dieser Grundannahme malt Zeyer einerseits ein Bild des Sozialstaates, dem dieser noch nie entsprochen hat: das Bild einer Institution, die den Menschen tatsächlich hilft. Andererseits verlagert er die Schuld für Armut weg von den gesellschaftlichen Verhältnissen aufs Individuum selbst. Seine Losung passt denn auch ins Projekt des neoliberalen individualisierten Subjekts: "Armut ist zum grossen Teil durch Eigeninitiative bekämpfbar."


Sozialrassismus

Schliesslich fussen Zeyers Argumente auf zutiefst sozialrassistischen Annahmen: "Arme sind nicht bessere Menschen, nur weil sie arm sind. Im Gegenteil: Sie sind unverfrorener, kälter im Missbrauch, erfinderischer im Betrug als nichtarme Menschen." Zeyer durchmischt hier "moralische" und "ökonomische" Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. Die bürgerliche Gesellschaftsordnung zeichnet sich dadurch aus, dass das elementare Interesse der KapitalistInnen darauf gerichtet ist, Arbeitskräfte möglichst billig zur Verfügung zu haben. In der kapitalistischen Gesellschaft sind somit alle ArbeiterInnen potentielle, unsichtbare Arme. Dieser sozialrassistische Angriff auf Arme richtet sich also gegen alle ArbeiterInnen. Die "soziale Apartheid", die Zeyer samt Zwangsarbeit und Lager für Flüchtlinge vorschwebt, mag heute noch nicht verwirklichte Realität darstellen. Doch solche Gesellschaftsentwürfe haben einen zutiefst reaktionären Charakter und stellen die ideologische Basis des "sozialen Krieges unter den Armen" dar. Wollen wir aus diesem Krieg rauskommen, müssen wir mit einer Klassensolidarität in allen Lebensbereichen antworten: am Arbeitsplatz, in den Schulen, auf den Strassen und in den Wohnquartieren. Nur mit einer Klassensolidarität unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht können wir Leute wie René Zeyer mundtot machen. Und es ist höchste Zeit, dass wir damit beginnen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 69. Jahrgang - 8. November 2013, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2013