Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/994: Die Revolution gegen Arbeitslosigkeit und Armut!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.5/6 vom 14. Februar 2014

Die Revolution gegen Arbeitslosigkeit und Armut!

Von Siro Torresan



Die Proteste der ArbeiterInnen im bosnischen Tuzla, die seit Monaten keinen Lohn mehr bekommen haben, lösten eine massive Protestwelle im ganzen Land aus. Gefordert wird nun unter anderem, dass die "kriminellen Privatisierungen der Staatsbetriebe" rückgängig gemacht werden. Doch in Bosnien und Herzegowina lenkt das Protektorat der sogenannten "internationalen Gemeinschaft" die Geschicke des Landes. Und dies ausschliesslich im Interesse des Kapitals.


"Diebe, Diebe", skandierte die aufgebrachte Menschenmasse in vielen Städten von Bosnien und Herzegowina und verlangten eine "politische Revolution". Die Fakten sind bekannt: Am Dienstag, 4. Februar strömten in der bosnischen Industriestadt Tuzla Tausende von ArbeiterInnen auf die Strasse. Sie verlangten eine staatliche Unterstützung, da sie seit Monaten kein Einkommen mehr haben. Die mit rund 120.000 EinwohnerInnen drittgrösste bosnische Stadt war in den vergangenen Jahren nach der Privatisierung von Unternehmen besonders stark von Fabrikschliessungen und Arbeitslosigkeit betroffen. Ein Beispiel: Die ArbeiterInnen des Chemiebetriebs "DITA" erhalten seit 14 Monaten keinen Lohn mehr. Zudem droht jetzt der Betrieb mit der Insolvenz. Bereits Ende 2012 kam es zu ersten Protesten und Streiks. Es folgten Versprechungen seitens der Regierung, der Parteien und der Gewerkschaften. Auf die schönen Worte folgten jedoch keine Taten.

Die ArbeiterInnen lösten mit ihrem berechtigten Kampf eine landesweite Protestwelle gegen die korrupte Regierung aus. Die Wut in der Bevölkerung richtet sich gegen die Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe, Arbeitslosigkeit, Armut und die mangelnden Zukunftsperspektiven im früheren Bürgerkriegsland. Offiziellen Statistiken zufolge sind in Bosnien und Herzegowina 45 Prozent ohne Job. Ein Fünftel der rund 3,7 Millionen EinwohnerInnen lebt unter der Armutsgrenze. Das Einkommen beträgt nach Berechnungen des staatlichen Statistikamtes im Schnitt umgerechnet 423 Euro. "Doppelt so viel wäre für das Existenzminimum notwendig", hält der Verband der Konsumentenschützer fest.


Die Gewalt der Politik

Selbst die bürgerlichen Medien hatten keine andere Wahl: "Proteste gegen Armut und Arbeitslosigkeit", titelte die Frankfurter Allgemeine (FAZ) ihren Bericht am 7. Februar. Als die Proteste am 4. Februar begannen, dauerte es zwei Tage, bis die Meldungen den deutschsprachigen Raum und ganz Westeuropa erreichten. Gezeigt wurden dann hauptsächlich brennende Regierungsgebäude und Steine werfende DemonstrantInnen. Suggeriert wird somit, dass die Gewalt von einem aufgebrachten Mob ausgeht. Gewalt? Bertold Brecht stellte diesbezüglich einst die Frage: "Was ist schlimmer, eine Bank zu gründen oder eine Bank auszurauben?" In Bosnien und Herzegowina lautet die Frage: Was ist schlimmer, ein brennendes, menschenleeres Parlamentsgebäude oder der Verlust von zehntausenden von Arbeitsplätzen durch die Privatisierung und die damit verbundene Arbeitslosigkeit und Armut der Menschen. Wo waren die Medien, als im Dezember 2012 die ArbeiterInnen der "Dita" bei Schnee und Kälte ein Protestcamp errichteten, um auf die ausbleibenden Lohnzahlungen und Entlassungen aufmerksam zu machen? Man muss es klar festhalten: Grund der Gewalt ist die Jahrzehnte lange neoliberale, räuberische Politik der Regierung. Sie alleine trägt die Verantwortung für die Wut der BürgerInnen. Dass sich diese nun entlädt, ist eine logische Konsequenz.


Der Zerfall im Kapitalismus

Die Regierung kommt jedoch einer Marionette gleich. Folgerichtig werden im Hintergrund die Fäden von ganz anderen Akteuren gezogen. Bosnien und Herzegowina ist kein Land im eigentlichen Sinne. Es verfügt über keine Verfassung, die vom Volk angenommen worden ist. Das Land ist ein Protektorat mit einem Kontingent von rund 900 stationierten Eufor-Soldaten. Die Grundlage des "Staates" ist der Friedensvertrag von Dayton, der zwischen den Kriegsparteien Ende 1995 abgeschlossen wurde. Welchen Einfluss dieses Protektorat hat, erkennt man an den Worten von Valentin Inzko, dem sogenannten "Hohen Repräsentanten von Bosnien und Herzegowina". In einem Interview im österreichischen Staatsfernsehen ORF antwortete er auf die Frage, wann der Moment kommen würde, um die Soldaten einzusetzen, wie folgt: "Wenn es weiter zu Ausschreitungen kommt, zu Hooliganismus, dann müsste man schauen, ob die Soldaten herbeigezogen werden müssen." Der entsprechende Beschluss "müsste von der internationalen Gemeinschaft" getroffen werden, erklärt Inzko. Konkret im Leitungsausschuss, der von Inzko persönlich präsidiert wird. Praktisch jede Entscheidung, die Bosnien und Herzegowina betrifft, muss vom "Hohen Repräsentanten" abgesegnet werden. Welche Interessen die "internationale Gemeinschaft", bestehend aus der EU, WTO, Weltbank und weiteren Organisationen des internationalen Kapitalismus, verfolgt, lässt sich bestens im "Ländergutachten" aus dem Jahr 2004 der deutschen "Bertelsmann Stiftung" lesen. Die Stiftung ist eine wirtschaftsliberale Denkfabrik. Nach ihrem Stifter Reinhard Mohn soll die Stiftung "Reformprozess" und die "Prinzipien unternehmerischen Handelns" fördern. Sie schreibt: "Trotz massiver internationaler Hilfe und Intervention sind weder Demokratie noch Marktwirtschaft konsolidiert. (...) Gleichermassen wurden weder tief greifende Wirtschaftsreformen durchgeführt, noch ist der Privatisierungsprozess abgeschlossen." Zehn Jahre später liegen die Resultate der "Wirtschaftsreformen" und "Privatisierungsprozesse" vor. So symbolisiert Tuzla den Niedergang dieser neoliberalen Politik, des Kapitalismus: Die Stadt war im sozialistischen Jugoslawien ein industrielles Zentrum mit Arbeitsplätzen vor allem im Bergbau, der Energiegewinnung und der chemischen Produktion. Heute ist die Mehrheit der Kombinate bankrott oder steht kurz davor. Viele Fabriken wurden auf Druck des Protektorats, sprich internationaler Organisationen wie der Weltbank oder der EU, privatisiert. Oft wurden sie unter Wert an ausländische Konzerne oder einheimische "Geschäftsleute" verkauft. Es entstand die "Pleitemafia", wie sie im Volksmund genannt wird. Sie nutzt die Möglichkeit, um "Schwarzgeld" zu waschen: Die Firmen werden gezielt in die Pleite geführt, die Maschinen und die Gebäude mit Gewinn verkauft und die Arbeiter auf die Strasse gesetzt!

Dieser ganze Zerfall wurde von der Sozialdemokratischen Partei SDP mitgetragen. Sie sitzt zusammen mit verschiedenen, nationalistischen Parteien an der Regierung. Die SDP ist nach dem Krieg so quasi als Nachfolgerpartei der Kommunistischen Partei Jugoslawiens aufgetreten. Ein kleines Beispiel: Das Haus in Sarajevo, in dem das Parlament tagt, gehört der SDP und sie bekommt vom Staat eine Miete bezahlt. Eine Zeitlang wurde die SDP als Alternative angesehen. Die Menschen glaubten, sie würde sich für den Erhalt der Fabriken und der Arbeitsplätze einsetzen. Nun haben alle begriffen, dass dem nicht so ist. Stellvertretend für die Politik der SDP sind die Worte ihres Anführers Zlatko Lagumdzija, mit denen er die Wut der BürgerInnen kommentiert. Er wirft ihnen in einer nationalistischen Rhetorik vor: "Nicht mal im Krieg wurde die bosnische Flagge niedergerissen und das Parlament angegriffen. Ihr habt es gemacht".


Die Forderungen

Wie weiter? Sicher ist, dass das Protektorat nicht tatenlos zuschauen wird. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird versucht werden, die liberale Partei SBB an die Macht zu bringen. Angeführt wird sie von Fahrudin Radoncic, dem auch die grösste Tageszeitung im Lande gehört. Die SBB ist praktisch der verlängerte, politische Arm des Protektorats und somit der Interessen der KapitalistInnen der "internationalen Gemeinschaft". Doch die verständliche und berechtigte Wut der BürgerInnen richtet sich gegen alle Parteien und aktuelle PolitikerInnen. Niemandem wird mehr geglaubt und vertraut. So erklärt sich auch der völlig spontane Aufstand der Bevölkerung, der von keiner Organisation, Gruppierung oder gar Partei getragen wird. Den Menschen ist schlicht der Kragen geplatzt - zulange schon werden sie von allen Seiten mit leeren Versprechungen belogen. Der Widerstand wird sich kaum mit einer Regierungsumbildung von oben zufrieden geben.

Am Samstag, 8. Februar, dem vierten Protesttag in Folge, gingen die Demonstranten in Tuzla mit einem Fünf-Punkte-Katalog an die Öffentlichkeit. Darin wird unter anderem gefordert, dass die "kriminellen Privatisierungen der Staatsbetriebe rückgängig gemacht" werden müssen und die "Wirtschaftskriminellen" vor Gericht zu stellen sind. Forderungen, die innerhalb der gesamten Linke in Europa Schule machen müssen. Weiter soll das Einkommen aller PolitikerInnen an den äusserst niedrigen Durchschnittslöhnen im Land ausgerichtet werden. Zudem verlangen die DemonstrantInnen ausdrücklich, dass PolitikerInnen in Zukunft nicht mehrfach bezahlt werden. Denn alle PolitikerInnen bessern ihr ohnehin doppelt und dreifach höheres Gehalt noch durch Posten in verschiedensten Ausschüssen und Gremien sowie in vielen Unternehmen auf, so dass ihre Bezüge oft mehrere Tausend Euro erreichen. Hinzu kommen Vergünstigungen wie freie Wohnungen und Dienstwagen. Wie der Konflikt ausgehen wird, werden die nächsten Wochen und Monaten zeigen.


Eine klare Botschaft an alle

Hoffnung macht die sozialistische Tradition in Bosnien und Herzegowina. Eine Tradition, auf die sich der Widerstand des Volks sicher aufbauen lässt. Ein Blick in die jüngste Geschichte zeigt, dass kurz vor dem Ausbruch des Krieges in Sarajewo mehr als 100.000 Menschen für den Frieden, gegen den Nationalismus und den Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens demonstrierten. Aber auch ein aktuelles Beispiel zeigt, wohinein die Revolte gegen Arbeitslosigkeit und Armut einmünden kann: Linke Medien, darunter auch die ehemalige Partisanenzeitung "Front slobode" (Front der Freiheit), riefen dazu auf, die durch die Zerstörung vorhandene Schutt- und Aschemasse von den Strassen zu räumen. Tausende, vor allem Jugendliche, folgten diesem Aufruf, der eine klare Botschaft vermittelt: Wir können zerstören, aber auch aufräumen und den Neubeginn selber in die Hand nehmen!

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6 - 70. Jahrgang - 14. Februar 2014 , S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2014