vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 5/6 vom 13. Februar 2015
Dublin III tötet
Von Salvatore Pittà
Andebrhan hat aufgegeben. Am 28. Oktober 2014 hat er sich Im Sportraum des Ausschaffungsgefängnisses Aarau aufgehängt. Er sollte nach Italien zurückgeschafft werden, wo er seine Fingerabdrücke hinterlassen hatte. Er ist an der Dublin-Konvention zerbrochen.
Kaum zu glauben, aber wahr: Ein Asylsuchender bringt sich in
einem Gefängnis um, und niemand kriegt es mit. Noch schlimmer: "Gemäss
ersten Abklärungen gab es im Vorfeld keine Hinweise auf einen
drohenden Suizid." So steht es zumindest in der Medienmitteilung des
Kantons Aargau. Dem vorwärts liegt nun ein Gesuch auf
Familienzusammenführung vom 24. September vor, das sein Bruder
eingereicht hat mit der Begründung, Andebrhan sei psychisch krank,
brauche dringend Hilfe und die Nähe seines Bruders. Das Gesuch wurde
nie beantwortet, stattdessen besuchte die Polizei am 28. Oktober gegen
Mitternacht Andebrhans Bruder. Er sei tot und eine Untersuchung
eingeleitet worden, am besten beerdige die Familie den Selbstmörder in
der Schweiz. Das tat sie nicht. So konnten Mutter und Schwester im
Heimatdorf zumindest von seinem Leichnam Abschied nehmen. Von den
Schweizer Behörden haben sie bis heute keine Antworten erhalten. Eine
Schweinerei, ja, aber nicht der eigentliche Skandal.
Wie kommt ein junger Mann nach tausenden Kilometern lebensgefährlicher Flucht durch Camps, Wüste und Meer zum Entschluss, sich selber das Leben zu nehmen? Dafür müssen wir tiefer graben. Ende 2011 musste Andebrhan wie viele andere junge Erwachsene Eritrea verlassen, um dem Kriegsdienst zu entfliehen. Er schlug sich in den Südsudan durch, gelang über Libyen nach Italien, wo er seine Fingerabdrücke abgeben musste, und schliesslich in die Schweiz, wo sein Bruder internationalen Schutz geniesst. Auf sein Asylgesuch wurde aufgrund der Dublin-III-Verordnung gar nicht erst eingetreten.
Das erste halbe Jahr durfte Andebrhan in einem italienischen Flüchtlingscamp wohnen. Das Essen war schlecht, alles dreckig und verfallen, alle immer sehr laut. Dann wurde sein Asylgesuch gutgeheissen. Er erhielt eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Und landete auf der Strasse. Eines Tages wurde er übelst zusammengeschlagen. Er hatte eine grosse Wunde am Kinn und psychische Probleme, als sein Bruder ihn zu sich nach Hause, in die Schweiz, holte. Er genas, fasste langsam wieder Mut und wähnte sich seinem Ziel so nah wie noch nie. Dann fuhr er nach Basel, stellte ein neues Asylgesuch - und landete direkt im Ausschaffungsknast. Dublin-III schlug wieder zu.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6 - 71. Jahrgang - 13. Februar 2015, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2015
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