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VORWÄRTS/1084: Gefangene gründen Gewerkschaft


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 5/6 vom 13. Februar 2015

Gefangene gründen Gewerkschaft

Von Jonas Komposch


In deutschen Knästen organisieren sich immer mehr Gefangene gegen Überausbeutung. Dabei gibt eine noch junge Gefangenengewerkschaft trotz Repressalien und Kommunikationsproblemen bereits ein Beispiel vorbildlicher Selbstorganisation.


Am 27. Mai 2014 untersuchen Beamte in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Berlin-Tegel die Zellen von Oliver Rast und Atilla-Aziz Genc. Der Fund: Unterschriftsbogen und Propagandamaterial zur Gründung einer Gefangenengewerkschaft. Flugs wird das Material beschlagnahmt. Denn die Gefangenen hielten es nicht für nötig, ihr Unterfangen bewilligen zu lassen. Für die Gefängnisoberen ist das "Aufwiegelung". Doch die Razzia entpuppt sich als Schuss in den Ofen! Im Nu verbreitet sich die Nachricht unter den Gefangenen. Das Interesse an der gewerkschaftlichen Initiative steigt, denn sie trifft einen Nerv.

Unter Zwang müssen Inhaftierte für einen Tageslohn zwischen neun und fünfzehn Euro malochen und werden dabei nicht einmal in das Rentensystem miteinbezogen. Die KnastverwalterInnen entgegneten dieser Kritik oft nur mit absurden Aussagen. So behauptete etwa Beate Peters, Leiterin der JVA Willich 1, die Gefangenen hätten ein "Rundum-sorglos-Paket", weshalb sich dies "irgendwie gegenrechnen" müsse, deshalb die tiefen Löhne. Auch sei die Arbeit "eine sinnvolle Beschäftigung", bei der man etwas lernen könne und die der Resozialisierung helfe. Tatsächlich kritisieren die Gefangenen die vorwiegend monotone und anspruchslose (Akkord-)Arbeit im gefängnisindustriellen Komplex.

Das soll sich ändern. Unermüdlich verbreiteten einige Berliner Gefangene die Idee der Gewerkschaft weiter, während auch draussen Anti-Knast-Gruppen, die Rote Hilfe und die Freie ArbeiterInnen Union Proteste veranstalteten und die Gefangenen in ihrer Beanspruchung des Rechts auf gewerkschaftliche Organisierung unterstützten. So entstand allmählich die "Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)". Heute fordert diese mit bereits über 420 Mitgliedern aus etwa vierzig Knästen den neuen deutschen Mindestlohn von 8,50 Euro sowie eine Rentenversicherung auch für inhaftierte ArbeiterInnen.


Keine Gewerkschaftsrechte

Das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung ist zwar universell, gilt bislang aber nicht im Justizvollzug. Häftlinge seien keine ArbeitnehmerInnen auf dem freien Markt, sondern unterstünden der Arbeitspflicht, meinte Berlins Justizsenator Heilmann (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Linkspartei. Deshalb müssen sich die Gefangenen als "nicht rechtsfähiger Verein" organisieren. Das gewerkschaftliche Recht Arbeitskämpfe oder Tarifverhandlungen zu führen, soll im Knast nicht gelten. "Wir berufen uns aufs Grundgesetz", sagt demgegenüber Oliver Rast, Mitbegründer und Sprecher der GG/BO zur Zeitung "Die Welt". "Es ist kurios, dass ich als notorisch Linksradikaler darauf hinweisen muss." Rast wurde in mehreren 129a-Prozessen vorgeworfen, Mitglied der militanten gruppe (mg) und bei Handlungen der Revolutionären Aktionszellen (RAZ) beteiligt gewesen zu sein. Im September 2014 ist er nach dreieinhalb Jahren Vollzug freigekommen. Nun engagiert er sich von draussen für die Sache der Gefangenen.


Selbstorganisation statt Paternalismus

In einem Interview mit der "jungle world" erklärte Rast die beschränkte Bedeutung der externen Gefangenenhilfsorganisationen: "Eine wirkliche Zugkraft für die Mehrheit der Gefangenen stellen sie nach meinen Erfahrungen nicht dar." Ein mobilisierendes Projekt scheint nur durch die Betroffenen selbst machbar zu sein. Auch historische Erfahrungen lassen das vermuten. In der Schweiz etwa versuchten 1969 bürgerlich-humanistische Persönlichkeiten, sich den Inhaftierten anzunehmen und gründeten die "Schweizerische Gefangenengewerkschaft", welche aber bereits um 1980 wieder verschwand - ohne je Rückhalt bei den Gefangenen erlangt zu haben. Die "Gewerkschaft" war ein paternalistischer Versuch von Nicht-Gefangenen, das Knastsystem von aussen her etwas zu reformieren.

Die GG/BO funktioniert anders, sie wird von den Gefangenen selbst gemacht. Bereits im August 2014 gaben sie erstmals "outbreak" heraus, das Organ der Gewerkschaft. Nach dessen Verbreitung in den Knästen stieg die Mitgliederzahl deutlich an. Doch die Kommunikation zwischen Inhaftierten verschiedener Haftanstalten ist naturgemäss schwierig. Zudem sind die Aktiven ständig mit Repressalien und Einschüchterungen konfrontiert. So teilte die GG/BO erst kürzlich mit, dass ihrem Rechtssekretär Mehmet Aykol - nach über 18 Jahren Haft - die versprochenen Lockerungen von der JVA Tegel nicht gestatten würden, falls er sich weiterhin gewerkschaftlich betätige. Die Gefangenen forderten deshalb erneut eindringlich Solidarität von ausserhalb der Knastmauern.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6 - 71. Jahrgang - 13. Februar 2015, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2015

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