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VORWÄRTS/1098: Mexiko nach Iguala - "Lasst uns nicht allein!"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 24. April 2015

Mexiko nach Iguala: "Lasst uns nicht allein!"

von Philipp Gerber


Auch über ein halbes Jahr nach der Albtraumnacht von Iguala gehen die Proteste der Familienangehörigen der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa weiter: Am 10. "Globalen Aktionstag für Ayotzinapa", am 26. März, fanden Solidaritätsdemonstrationen in 200 Städten weltweit statt.


Auch in Mexiko waren die Kundgebungen zahlreich, aber deutlich weniger gut besucht als noch Ende 2014. "Lasst uns nicht allein!", war denn auch der Appell der Familien von Ayotzinapa an die mexikanische Gesellschaft. Diese interessiert sich zwar nach wie vor für das Schicksal der Verschwundenen, aber die breite Welle der Empörung hat sich erschöpft, die Demos sind wieder familiärer. Die mexikanische Regierung ihrerseits tritt seit Beginn des Jahres mit neuer Entschlossenheit auf. Allerdings nicht gegen die Mafia, sondern gegen alle, welche die offizielle "historische Wahrheit von der Ermordung und Verbrennung der 43 durch die Mafia in Frage stellen und die Verantwortung des Staates für das gewaltsame Verschwindenlassen der Studenten durch Polizisten anklagen.


Politik der harten Hand

Begonnen hat die neue Politik der harten Hand der Regierung mit der Weigerung, den Angehörigen der Verschwundenen die Militärkasernen zu öffnen, um dort nach Hinweisen zum Verbleib der Studenten zu suchen. Das mexikanische Militär war in der Vergangenheit oft für das gewaltsame Verschwindenlassen politischer Oppositioneller verantwortlich, gerade im Bundesstaat Guerrero. Die Rolle des Militärs in der Nacht vom 26. September 2014 in Iguala ist bis heute nicht geklärt, aber es gibt zahlreiche Indizien, dass das Militär zumindest über die kriminellen Aktivitäten der Lokalpolizei informiert war. Pikantes Detail: Dass die Kasernen verschlossen bleiben, hat zuerst der mexikanische Unternehmerverband verkündet, erst tags darauf hat das dann ein Regierungssprecher bestätigt.

Dass die Elite die Reihen schliessen, haben auch zahlreiche weitere Ereignisse in den letzten Wochen gezeigt. Dem UNO-Gremium, welches die massiven Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Mexiko anklagte, entgegnete die mexikanische Regierung, diese seien im Fall von Iguala keineswegs bewiesen. Die Anklagen der Behörden an die rund 100 Verhafteten lauten denn bisher auch nur auf die Delikte Entführung und Mord, weder Folter noch gewaltsames Verschwindenlassen wird bisher untersucht. Einen diplomatischen Skandal löste die Reaktion der Behörden auf den Bericht des UNO-Sonderberichterstatters über Folter aus. Der Sonderberichterstatter Juán Méndez hatte es gewagt, im Schlussbericht zu seiner Mexiko-Reise festzustellen, dass Folter in Mexiko von den Behörden "systematisch" praktiziert werde. Aussenminister José Antonio Meade attackierte daraufhin den Sonderberichterstatter und bezeichnete seine Arbeit als "unprofessionell" und "unethisch". Juán Méndez, selber Überlebender der Folter in der argentinischen Militärdiktatur, rückte jedoch nicht von seiner Schlussfolgerung zu Mexiko ab und machte öffentlich, dass es vor der Veröffentlichung des Berichts massive Druckversuche gab, damit er die Folter im Aztekenland minimieren.


Diffamierung und Einschüchterung

Was dem UN-Mitarbeiter geschah, ist bezeichnend für das Klima im Land: Wer die Behörden kritisiert, wird diffamiert oder wenn möglich mundtot gemacht. Ein Beispiel dafür ist die Entlassung der kritischen Journalistin Carmen Aristegui. Deren Team von investigativen JournalistInnen hat zahlreiche Korruptionsskandale von MinisterInnen und der Familie des Präsidenten Enrique Peña Nieto aufgedeckt. Auch zu Iguala oder über Folter und extralegale Hinrichtungen durch das mexikanische Militär hat Aristegui immer wieder berichtet. Die gehässige Reaktion der Regierung auf den UN-Folterbericht kommentierte Aristegui mit den Worten, der Staat zeige seine "jähzornige und rücksichtslose" Seite. Wenige Tage später war ihre Stimme am Radio nicht mehr zu hören. Aristeguis vierstündige morgendliche Nachrichtensendung über das Radio MVS war für die kritische mexikanische Öffentlichkeit der politische Leitstern in einer ansonsten völlig gleichgeschalteten Medienlandschaft. Kurz vor Ostern verkündete MVS, dass Aristegui entlassen sei, da der Name der Radiostation in der neuen Whistleblower-Plattform namens "Mexikoleaks" ohne Wissen. der Direktion des Radios von Aristegui verwendet worden sei. Für Aristegui und viele Beobachter ist klar, dass das nur ein Vorwand war und ihre Entlassung von langer Hand geplant wurde.

Zurück zu Guerrero: Die Proteste der Angehörigen von Ayotzinapa gehen unvermindert weiter, aber sie drohen, sich in Protestritualen zu erschöpfen. Zudem zehrt die Ungewissheit, die Trauer und die monatelange Dauermobilisierung an der Gesundheit der Betroffenen. Die Familienangehörigen rufen auch zu einem aktiven Wahlboykott in Guerrero auf. Am 7. Juni findet ein landesweiter Urnengang statt, an dem das Bundesparlament erneuert werden soll. Angesichts der Weigerung der Behörden, das Schicksal der 43 Vermissten ernsthaft aufzuklären und aufgrund der anhaltenden bürgerkriegsähnlichen Zustände im Bundesstaat haben die Angehörigen alles moralische Recht, das "business as usual" der Politikerkaste zu kritisieren. Das Menschenrechtszentrum Tlachinollan beschreibt das düstere Szenario in Guerrero: "Die Bevölkerung, die weder Macht noch Geld hat und auch keinen politischen Posten anstrebt, ahnt am Horizont einen Sturm, sieht eine düstere Zukunft voraus, insbesondere für diejenigen, welche gegen das politische System kämpfen, das sie unterdrückt."


Bewegung der Transformation

Angesichts dieses Panoramas stellt sich dringendst die Frage einer langfristigen Strategie, welche die spontane Empörung und Solidarität in eine solide politische Organisierung giesst. In der Hochschule von Ayotzinapa fanden zwei Kongresse statt, an denen 250 soziale Organisationen aus dem ganzen Land die politischen Leitplanken einer Bewegung der sozialen Transformation diskutierten. In den nächsten Monaten soll diese Organisierung Form annehmen. Abzuwarten bleibt, ob dies gelingen wird, denn auch der Staat wird nicht untätig bleiben. Es wird befürchtet, dass die Kriminalisierung von sozialen Bewegungen nach den Wahlen verstärkt vorangehen wird und weitere Strukturreformen wie beispielsweise die Wasserprivatisierung durchgepeitscht werden. Gemäss Carmen Aristegui erlebt Mexiko einen "beschleunigten Prozess der Wiederherstellung eines autoritären Regimes. Sie betont, dass die internationale Aufmerksamkeit auf das Geschehen in Mexiko dazu führt, dass diese Restauration des Autoritarismus behindert wird. Lassen wir die Familien der Verschwundenen, die sozialen Bewegungen und die verfolgten JournalistInnen Mexikos nicht allein.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16/2015 - 71. Jahrgang - 24. April 2015, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2015

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