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VORWÄRTS/1130: Chiles Rechte begehrt auf


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 11. September 2015

Chiles Rechte begehrt auf

Von Malte Seiwerth


Angespannte Situation in Chile. Studierende und Gewerkschaften fordern mit massiven Streiks und Demonstrationen die Wahlversprechen Bachelets ein. Zugleich übt sich die um ihre Privilegien bangende Rechte in Wirtschaftsblockade. Dies erinnert auf unheimliche Weise an die Situation vor dem Militärputsch 1973.


Seit 2011 haben Chiles protestierende Studierende und SchülerInnen ein solche Kraft gewonnen, dass jede Regierung sie beachten muss. Die neue Regierung unter Bachelet ist sogar mit Parolen der Bildungsbewegung gewählt worden. Sie hat es geschafft, moderate Stimmen dieser Bewegung in die Regierung zu holen. So ist die Kommunistische Partei, die 2011 noch mit Camila Vallejo den Vorsitz der Studierendenbewegung inne hatte, nun im Regierungsbündnis vertreten. Doch nicht nur in der Bildung hat sich viel bewegt, auch die Gewerkschaften haben an Stärke gewonnen. So streikte im Dezember 2014 fast die gesamte Belegschaft des chilenischen Wal-Mart-Ablegers. Die Supermarktkette triumphierte jedoch mit der Drohung, bei einer Weiterführung des Streiks alle Filialen zu schliessen. Auch Teile der Gewerkschaftsbewegung sind in der Regierung vertreten. So ist nicht nur die grösste, aber streikärmste Gewerkschaftsvereinigung CUT in der Hand der Kommunistischen Partei, sondern auch die LehrerInnengewerkschaft.

Nachdem die Regierung der Sozialistin Bachelet noch mit grossen Versprechungen in das Jahr 2014 startete, schwächte der Reformwille spätestens gegen Weihnachten mit einer kläglichen Steuerreform ab. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, kann diese Reform unmöglich genug Geld in die Staatskassen spülen, sodass die Universitäten - wie versprochen - gratis zugänglich werden. Auch im Arbeitsrecht kündigte Bachelet grosse Reformen an, die endlich ein effektives Streikrecht einführen würden. Nach mehrmaliger Abschwächung ist nun zwar noch ein Streikrecht enthalten, allerdings auch die Verpflichtung der ArbeiterInnen, "eine Mindestproduktion aufrechtzuerhalten". Zudem soll die noch aus der Pinochet-Diktatur stammende Verfassung durch eine neue ersetzt werden.


Rechte blockiert Autobahnen

Während also die Bildungsbewegung weiter auf die Strasse gehen muss und ArbeiterInnen sich in einer erneuten Streikwelle befinden, bereitet sich ein dritter Sektor auf Mobilisierungen vor. Anfang August trat die Regierung mit wichtigen WirtschaftsvertreterInnen zusammen, welche erklärten, das Streikrecht gefährde die chilenische Wirtschaft. Zugleich blockierten am 27. August im ganzen Land LastwagenfahrerInnen die Autobahnen. Sie wollten die Regierung zwingen, dreizehn Lastwagen vor den Regierungssitz Vorfahren zu lassen, um dort motorisiert gegen Anschläge der indigenen Mapuche auf Holztransporter protestieren zu können. Die Regierung hatte zuvor angeboten, einen der dreizehn Lastwagen ins Zentrum zu lassen. Als sich aber jüngst herausstellte, dass die Urheberschaft zumindest einiger Anschläge nicht auf die Mapuche zurückgeführt werden konnte, sondern auf die LKW-EigentümerInnen, die auf die Versicherungsprämie aus waren, erschienen die Blockaden in einem ganz anderen Licht. Zumal die Gewerkschaft der FahrerInnen bekannt gab, dass ihre Mitglieder gezwungen worden seien, die Autobahnen zu blockieren und dass "die protestierenden FirmenbesitzerInnen die gleichen sind, die unsere Arbeitsrechte mit Füssen treten". Zudem kommen immer mehr Verbindungen zwischen den Blockierenden und der pinochetistischen Partei Unión Demócrata Independiente ans Licht. Sonderbar war auch das Verhalten der Regierung, die keine einzige Blockade polizeilich räumen liess, sondern nach achtzehn Stunden sogar die Vorfahrt der dreizehn Protest-Lastwagen gewährte. Die Ereignisse weckten bei vielen die Erinnerung an den von den USA bezahlten Lastwagenstreik von 1973. Dieser wurde von den UnternehmerInnen angeführt und diente der Destabilisierung der Regierung Salvador Allendes. Kurz danach schritten die reaktionären Generäle zum Putsch.


Politikvertrauen im Keller

Die derzeitige Regierung ist die erste seit Pinochet, die mit zarten Versuchen den Neoliberalismus einzuschränken versucht, anstatt ihn auszuweiten. So bricht sie mit allen Vorgängerregierungen, die sich auf eine sozialere und demokratischere Verwaltung des Erbe Pinochets beschränkten. Unter anderem hat sie kurzzeitig davon gesprochen, den Markt gänzlich aus dem Bildungswesen vertreiben zu wollen. Die zaghaften Arbeitsreformen sowie der Versuch einer Reform des extrem rigorosen Abtreibungsverbots zeigen, dass die sozialen Bewegungen kleine Erfolge verbuchen konnten und dass die ultrakonservativ-neoliberalen Kreise an Macht einbüssen. Jedoch war dieses Vorgehen innerhalb der Regierungskoalition nicht unumstritten. So wetterten jeweils konservative Kreise in der Christdemokratie und neoliberale innerhalb der Sozialistischen Partei gegen zu linke Projekte, sodass die Kommunistische Partei hin und wieder mit dem Austritt drohte, sofern die Regierung jeden Reformwillen verlieren würde. Zudem bekämpften sich der Regierungsblock und die rechte Koalition mit dem Aufdecken von Korruptionsskandalen. Dies liess die Umfragewerte aller Parteien in den Keller sinken und brachte das Vertrauen in die Politik auf einen rekordverdächtigen Tiefstand. Die Aufdeckungen beschädigten auch den Ruf der moderaten Linken, welche für ihre Wahlkampagne Geld vom Schwiegersohn Pinochets angenommen hatte. Die einzige bekannte Partei, die sich aus den Skandalen heraushalten konnte, war die Kommunistische.


Pinochets Erbe unter Beschuss

Einen heftigen Schlag konnte die Linke dem neoliberalem Flügel innerhalb des Regierungsbündnisses austeilen, als die LehrerInnen vor der Verabschiedung einer neuen "Friedman'schen" Reform der pädagogischen Ausbildung sowie der Arbeitsbedingungen im Parlament für gut zwei Monate streikten. Die Linke konnte - durch den Streik gestärkt - die Aufnahme von Gesprächen und den Einbezug ihrer Ideen in den Gesetzestext erzwingen. Zudem wurde die Rechte im letzten Jahr durch drei Prozesse enorm geschwächt. Zuerst wurde das binominale Wahlsystem aufgehoben, bei welchem nur zwei KanditaInnen pro Wahlkreis gewählt wurden und welches der Rechten viel mehr Plätze im Parlament zusicherte, als diese an effektiven Stimmen hatte. Im Juli brachen zudem erstmals SoldatInnen und PolizistInnen, die während der Diktatur in Massaker und Folter verwickelt waren, ihr Schweigen und bestätigten damit die Gräueltaten. Auch bezeugten sie, dass ihre Generäle sie zu schweigen zwangen. Anfangs August stellte sich schliesslich auch noch heraus, dass viele Generäle den Militäretat zu bestehlen pflegen. Dieser Skandal führte zu einer Debatte über die Kürzung der Armeebeiträge, um so ein weiteres Relikt aus der Pinochet-Zeit abzuschaffen: Die Kupfergewinne kommen bis heute exklusiv dem Militär zugute.

Die Rechte sieht ihre Pfründen schwinden und reagiert mit Mobilisierungen. Die Linke wiederum will endlich die Wahlversprechen umgesetzt sehen und geht zu Tausenden auf die Strasse. Zugleich gewinnen die Gewerkschaften an Kraft und drohen in allen mächtigen Sektoren, in den Häfen, Minen und im öffentlichen Transport, mit Streiks. In dieser Situation der Spannung versucht die Rechte, die Regierung als "kommunistisch" und als eine neue "Unidad Popular" zu diffamieren und erwägt ihrerseits die Gründung einer Einheitspartei, welche im Stande wäre, die bourgeoisen Besitzstände und Privilegien zu bewahren. Derweil schafft es die politische Linke in ihren internen Kämpfen nicht, eine adäquate Antwort auf das rechte Aufbäumen zu liefern.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung
Nr. 31/32 - 71. Jahrgang - 11. September 2015, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2015

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