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VORWÄRTS/1131: Libanon - Alles begann mit dem Müll


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 11. September 2015

Alles begann mit dem Müll

Von Michi Stegmaier


In Beirut fordern Zehntausende einen säkularen Staat ohne Korruption und religiöse Gräben. Was als kleine originelle Kampagne in den sozialen Medien gegen die seit Mitte Juli andauernde Müllkrise begann, hat sich in kurzer Zeit zu einer neuen Massenbewegung mit dem Slogan "Ihr stinkt" formiert.


Bei der "Ihr stinkt-Kampagne handelt es sich längst nicht mehr nur um eine Initiative gegen die ungelöste Müllfrage, sondern um eine Rebellion gegen das politische Establishment, konfessionelles Sektierertum und Familienclans. Nach der seit Jahren überfälligen Schliessung der Naameh-Abfalldeponie - beziehungsweise der Zerstörung der Müllanlage durch militante AnwohnerInnen - streiten die verschiedenen Parteien über eine Neuregelung der Abfallentsorgung im Libanon. Dabei geht es in erster Linie um lukrative Aufträge. Für viele LibanesInnen stinkt längst nicht nur der Müll, der sich in der sommerlichen Hitze in den Strassen Beiruts stapelt, zum Himmel, sondern ihr gesamtes politisches System.


Radikalsierung einer heterogenen Bewegung

Im Verlauf der bisher grössten Kundgebung versammelten sich am 29. August Zehntausende aus dem ganzen Libanon im Zentrum Beiruts. Während zu Beginn der Proteste am 8. August vor allem AktivistInnen aus der Mittel- und Oberschicht auf die Strasse gingen, schlossen sich nun auch BewohnerInnen aus den Armenvierteln sowie viele junge ArbeiterInnen der Bewegung an. Die Proteste radikalisierten sich rasch, die Parolen wurden revolutionärer und bald ertönte der seit dem Arabischen Frühling eingängige Slogan: "Das Volk will den Sturz der Regierung!" Uneins über das weitere Vorgehen zog sich der friedliche Teil der Bewegung in Absprache mit den Sicherheitsorganen auf den Märtyrerplatz zurück, während der militantere Flügel versuchte, den mit Stacheldraht abgeriegelten Regierungsbezirk zu stürmen. Es gab 300 Verletzte und die ganze Nacht über schwere Krawalle.

Die Polizei setzte Tränengas und Wassserwerfer ein, später kamen MarineinfanteristInnen zum Einsatz, die scharf schossen, wie verschiedene Augenzeugen berichteten. Während in den folgenden Tagen die Proteste flauer wurden, zogen die meist jungen OrganisatorInnen mit ihrer politischen Forderungen an. Ging es zuvor nur darum, dass das Müllproblem gelöst wird, wurde nun der Rücktritt des Umweltministers gefordert sowie dass der Innenminister für den brachialen Polizeieinsatz vom 29. August zur Verantwortung gezogen wird. Andere Teile der sehr heterogenen Bewegung forderten Neuwahlen und gar den Rücktritt der Regierung. Ungeachtet der Massenproteste schaffte es das libanesische Parlament am 2. September auch im achtundzwanzigsten Anlauf (!) nicht, einen neuen Präsidenten zu wählen, obwohl der Posten schon seit eineinhalb Jahre vakant ist.


Von Beirut nach Bagdad
Aber nicht nur im Libanon gehen die Menschen momentan auf die Strasse. Während der IS weite Teile des Iraks kontrolliert, demonstrieren in Bagdad schon seit Wochen jeden Freitag Zehntausende für einen säkularen und funktionierenden Staat und gegen Misswirtschaft und Korruption. Einen Erfolg konnten die AktivistInnen in Beirut und Bagdad schon jetzt für sich verbuchen: Sie haben den politischen Eliten einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nichts ist für die Mächtigen gefährlicher als DemonstrantInnen, die sich in erster Linie nicht als Sunniten, Schiiten, Drusen, Kurden oder Christen verstehen, die ihr Recht auf ein würdevolles Leben einfordern und dafür selbst im grössten Chaos auf die Strasse gehen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 71. Jahrgang - 11. September 2015, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2015

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