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VORWÄRTS/1242: Der Hoffnung eine Stimme geben


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 18. November 2016

Der Hoffnung eine Stimme geben

von Nikol Uçar


Kaum ein Tag vergeht ohne neue Meldungen über die Repression durch den türkischen Staat und sein immer autoritärer werdenden Präsidenten Erdogan. Dennoch sollten wir nicht nur über die Verhaftungen und Schließungen berichten, sondern auch dem Mut und der Hoffnung der kurdischen Bewegung weiterhin eine Stimme geben.


Am Freitag 11. November hat das türkische Innenministerium 370 Vereine und NGOs wegen angeblichen Verbindungen zu Terrororganisationen verboten - am Samstag folgten die Razzien und Versiegelungen ihrer Räumlichkeiten. Laut dem kurdischen Frauenbüro für Frieden Cenî in Deutschland sind 190 kurdische Vereine davon betroffen. Weitere 153 Vereine werden beschuldigt, an die religiöse Gülen-Bewegung gebunden zu sein und 19 werden Verbindungen mit der kommunistischen DHKP-C-Front vorgeworfen. Nur acht unterhalten angeblich Verbindungen zum Islamischen Staat. Die Liste der geschlossenen Vereine umfasst nebst mehreren progressiven AnwältInnenvereinigungen und verschiedenen Kulturvereinen auch das Rojava-Komitee, das die humanitäre Hilfe für Rojava und für die Tausenden Menschen, die im Zuge der Zerstörungen durch den türkischen Staat ihr zu Hause verloren haben, koordiniert. Wenig überraschend ist, dass ebenfalls einige Frauenorganisationen betroffen sind, darunter die Dachorganisation der kurdischen Frauenbewegung in Nordkurdistan und der Türkei, der Kongress der freien Frauen (KJA). Das Cenî schreibt in ihrem Pressecommuniqué vom 12. November: "Es ist davon auszugehen, dass alle fortschrittlichen Vereine, in denen sich die kurdische Zivilgesellschaft organisiert, geschlossen werden. Gleiches gilt für türkische NGOs. Ziel ist die totale Zerstörung der demokratischen politischen Gesellschaft, deren Mundtotmachung und die Verfestigung autoritärer, gar diktatorischer Strukturen für das faschistische Regime unter Führung von Erdogan."


Gegen die fortschrittlichen Kräfte

Die kurdische Bewegung warnt schon lange vor den Allmachtfantasien Erdogans und bekommt dementsprechend auch die Repression des türkischen Staates zu spüren. Laut dem HDP-Abgeordneten Ayhan Bilgen wurden seit dem Putschversuch am 15. Juli. 6000 HDP-Mitglieder in der Türkei festgenommen, von denen 2000 verhaftet wurden. Darunter sind auch die beiden Co-Vorsitzenden des links-kurdischen Bündnisses HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die zusammen mit zehn weiteren HDP-Abgeordneten in der Nacht vom 2. auf den 3. November festgenommen wurden. In einer Grussbotschaft am 9. November schrieb Demirtas, dass diese Verhaftungen nicht bloss als einen Angriff auf sie als Individuen gesehen werden sollen. Es handle sich um einen weiteren Schritt, um letztlich eine Ein-Mann-Diktatur in der Türkei zu etablieren. Und es "besteht kein Zweifel daran, dass der einzige Ausweg darin liegt, Schulter an Schulter den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus auszuweiten".

Die HDP meldete am 6. November, dass sie ihre Arbeit im Parlament vorläufig ruhen lassen würde. Die ParlamentarierInnen werden stattdessen von Haustür zu Haustür, von Stadtteil zu Stadtteil gehen und mit der Bevölkerung und den Vereinen den direkten Kontakt suchen. Es gelte jetzt, so Ayhan Bilgen, zusammen zu klären, wie man gemeinsam gegen das "Regime der Treuhänder-Vasallen" vorginge und das Bemühen um eine demokratische Republik stärke.

Mit dem "Regime der Treuhänder-Vasallen" meint Bilgen ein weiterer Trick Erdogans in seinem Kampf gegen die kurdische Bewegung: Ankara setzt einfach die gewählten BürgermeisterInnen ab und ersetzt sie durch ihm treu ergebene ZwangsverwalterInnen. Die erste Welle fand am 11. September statt und betraf 28 BürgermeisterInnen, davon 24 aus der kurdischen Bewegung. Weitere Gemeinden und Kreisstädte kamen dazu, bis schliesslich am 25. Oktober die beiden Co-BürgermeisterInnen der Provinz Amed/Diyarbakir, Gültan Kısanak und Fırat Anlı, festgenommen und verhaftet wurden. Bei den darauffolgenden Protesten wurden viele Menschen verhaftet, darunter auch Ayla Akat Ata, die Vorsitzende des KJA. Ausserdem wurde das Internet in allen kurdischen Städten ausser Betrieb gesetzt, um die Ausbreitung der Proteste zu verhindern. Ein paar Tage vor ihrer Verhaftung sprach Gültan Kısanak an einer Veranstaltung der HDP-Frauen in Istanbul über diese Zwangsverwaltungen. Sie sagte, dass die TreuhänderInnen als erstes Frauenprojekte geschlossen hätten. Die kurdische Bewegung leistet viel für die Rechte der Frauen und gegen Gewalt an Frauen. "Nun gibt es eine Angriffswelle gegen all diese Errungenschaften. Darum ist es nun Zeit, dass wir Frauen mit unseren ganzen Kräften Widerstand leisten. "

Diese Zwangsverwaltungen missachten die Wahlresultate und somit den Willen von über sechs Millionen Menschen. Gültan Kısanak zum Beispiel wurde mit über 55 Prozent der Stimmen gewählt; bei den Parlamentswahlen 2014 bekam die HDP in diesen Gemeinden oft über 80 Prozent der Stimmen. Trotzdem kann Erdogan dies tun, denn dank dem Ausnahmezustand darf er per Notstanddekret machen, was er will. Doch nicht erst seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli versucht Erdogan die HDP auszuschalten. Damit die ParlamentarierInnen verhaftet werden konnten, musste zuerst ihre Immunität aufgehoben werden. Dies geschah bereits im Mai, unter Mithilfe der KemalistInnen. Auch wenn letztere nun ab und zu monieren, dass die Gebärden Erdogans zu weit gehen, so kuschen sie im entscheidenden Moment: Sie sagten Ja zur Aufhebung der Immunität, Ja zum Ausnahmezustand und Ja zur Verlängerung des Ausnahmezustandes. Und sie werden vermutlich auch noch Ja zur Todesstrafe sagen, wenn es dann soweit ist.


Sie werden nicht schweigen

Erdogan scheut sich natürlich nicht davor, von diesen Dekreten Gebrauch zu machen. Alles Mögliche bedrohe anscheinend die nationale Sicherheit, allen voran natürlich die Medien. Am 29. Oktober wurde die Frauennachrichtenagentur Jinha geschlossen. Dies kam nicht unerwartet: Als wir anfangs Oktober die Redaktion in Amed/Diyarbakir besuchten, waren die Räume halb leer. Die Redakteurin, die uns empfing, erklärte uns, dass sie mit einer Razzia rechnen und deshalb möglichst viel schon weggeräumt hätten. Kurz zuvor wurden zwölf Fernseh- und Radiosender verboten, darunter der Kinder-Kanal Zarok TV, der Cartoons auf Kurdisch sendete - was klar eine Gefährdung der nationalen Sicherheit darstellt ... Die Reporterinnen von Jinha haben gesehen, wie die verschiedenen Sender geschlossen wurden, wie JournalistInnen verhaftet wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dran waren. Doch dies hinderte sie nicht, mit ihrer Arbeit fortzufahren. In ihrer Presseerklärung nach der Schliessung betont Jinha in Anlehnung an Virginia Woolf, dass sie schreiben, ohne zu beachten, was Männer davon halten, und dass sie nun auch weiter schreiben werden, ohne zu beachten, was Männer für Dekrete erlassen. "Wir waren vorher nicht still und wir werden auch jetzt nicht still bleiben. Wir haben nicht den Stift in die Hand genommen, um ihn nun wegzuwerfen. Deshalb rufen wir alle Frauen dazu auf, sich selber als Jinha-Reporterin zu betrachten und von dort aus zu schreiben, wo sie gerade sind."

Jinha wurde am 8. März 2012 gegründet und bezeichnet sich stolz als die einzige Frauennachrichtenagentur weltweit. Sie entstand aus dem Bedürfnis, über die Geschehnisse auf dieser Welt aus der Perspektive der Frauen zu berichten. Bei Jinha arbeiten nur Frauen, von der Reporterin über die Buchhalterin bis zur Fahrerin. Doch nicht nur das macht die Nachrichtenagentur einzigartig; sie haben auch den Anspruch, anders zu schreiben, die männerdominierte Berichterstattung und die sexistische Sprache zu hinterfragen, aus Frauen statt Objekte Subjekte zu machen und den Frauen überall auf der Welt und insbesondere in den kurdischen Gebieten eine Stimme zu geben sowie ihren Alltag und ihren Widerstand sichtbar zu machen. Sie schreiben auf Kurdisch, Türkisch, Englisch und Arabisch, und sie gehörten zu den ersten, die über die Revolution in Rojava vor Ort berichteten.


Freiheit für die politischen Gefangenen

Eine Jinha-Reporterin wurde im Dezember 2015 festgenommen, weil sie zu "aufgeregt" aussah - so der Vorwurf. Eine Frau soll nicht "aufgeregt" aussehen, schon gar nicht, wenn sie über eine Demonstration berichtet. Immer wieder werden Jinha-Journalistinnen bei ihrer Arbeit gestört und schikaniert, nicht selten werden sie für ein paar Tage festgenommen. Zehra Dogan, eine der Mitgründerin von Jinha, wurde Ende Juli in Nusaybin festgenommen und sitzt seither in Haft. Früher lebte sie in Istanbul, doch als das türkische Militär gegen die kurdische Bevölkerung in Cizre Krieg führte, ging sie hin, um darüber zu berichten. Sie trotzte den Ausgangssperren und redete mit den Menschen vor Ort. Sie dokumentierte, wie türkische Spezialeinheiten Kinder umbrachten, wie sie eine Mutter daran hinderten, ihren toten Sohn zu begraben, und wie die Menschen Widerstand geleistet haben. Was sie in ihren Artikel nicht in Worten fassen konnten, verarbeitete sie in eindrucksvolle Skizzen und Bilder. Die Jinha-Redakteurin zeigte uns Bilder, die Zehra Dogan vor ihrer Verhaftung und nun im Gefängnis gemalt hat. Durch ihre Bilder legt sie ein Zeugnis für Menschen in Cizre und anderswo ab, sie gibt ihnen eine Stimme gegen das Vergessen.

Die Räume von Jinha sind nun versiegelt, genauso wie diejenigen des KJA und von hunderten anderen Medien und Vereinen. Doch das hindert weder die KJA-Frauen daran, weiter zu kämpfen, noch die Jinha-Reporterinnen darüber zu berichten. Auch wenn die Repression den Widerstand schwer macht, wird der Plan von Erdogan nicht aufgehen. Wie Selahattin Demirtas in einer Grussbotschaft kurz nach seiner Verhaftung treffend beschrieb: "An Tagen wie diesen, an denen unser Land mehr denn je in die Dunkelheit gestossen wird, ist unsere illegitime Verhaftung lediglich Grund dafür, die herein gebrochene Dunkelheit noch ein bisschen dunkler werden zu lassen. Aber jene die glauben, dass wir vor der Dunkelheit kapitulieren werden, sollen eins nicht vergessen: Ein einziges Streichholz, eine einzige Kerze reicht, um die Dunkelheit zu erhellen."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42/2016 - 72. Jahrgang - 18. November 2015, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2016

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