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VORWÄRTS/1315: Griechische Falle


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 29/30 vom 14. Sept. 2017

Griechische Falle

von Salvatore Pittà


Mehrere EU-Länder wollen es ab September der Schweiz nachtun: Asylsuchende wieder nach Griechenland zurückschaffen. Dort kämpfen sie verzweifelt gegen die unhaltbaren Zustände, größtenteils fernab der Öffentlichkeit.


Vorausgesagt wurde es im März dieses Jahres, die Bestätigung kam vom griechischen Migrationsminister mitten in der Sommerpause: Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Holland und Norwegen haben gestützt auf das Dubliner Abkommen bereits Hunderte von Rückübernahmegesuche an Griechenland gestellt, die Rückschaffungen sollen jetzt, im September beginnen. Minister Mouzalas bemühte sich sofort darum, das Ganze herunterzuspielen: Nur sieben der knapp 400 deutschen Anfragen seien bis dann positiv beantwortet worden, und es werde ohnehin nur um ein paar Dutzend Personen gehen, die in Hausungen und Camps unterkommen und Asyl beantragen können.


Organisieren lohnt sich

Die Nachricht wurde hierzulande medial kaum zur Kenntnis genommen, da während den Sommerferien das zentrale Mittelmeer im Fokus der internationalen Migrationspolitik stand. Vielleicht auch, weil die Schweiz schon seit März 2015 wieder Dublin-Fälle nach Griechenland zurückschafft, wobei zu ihrer Ehrenrettung erwähnt werden muss, dass dies in diesem Jahr kein einziges Mal der Fall war. Beinahe erwischt hätte es allerdings zwei mittlerweile erwachsene Brüder einer syrisch-kurdischen Familie, auf deren Asylgesuch gestützt auf das Dubliner Abkommen nicht eingegangen wurde, und die daraufhin eine Wegweisungsverfügung erhalten hatte, gegen die sie rekurrierte. Im Unterschied zum Rest der Familie wurde den beiden jedoch die aufschiebende Wirkung entzogen. Ende Juni hätten sie nach Griechenland zurückfliegen, die Familie auseinandergerissen werden sollen.

Das sorgte zwar nur im Tessin für Aufregung - die Sprachbarriere in den Deutschschweizer Medien wirkte da wie eh und je -, doch als eine Schulklasse aus Lugano übers Wochenende mehr als 1500 Unterschriten für den Verbleib ihrer Mitschüler in der Schweiz sammelte, mischte sich die Kantonsregierung ein, und das Migrationsamt stoppte die Ausschaffung. Ein gutes Beispiel dafür, dass es sich lohnt, sich zu organisieren und zu wehren. Meistens suchen die Betroffenen einer Wegweisungsverfügung nach Griechenland kurz vor dem Termin mit den Behörden zur Reisevorbereitung das Weite. 32 Dublin-Griechenland-Fälle haben sich gemäss SEM 2017 erledigt, bzw. wurden abgeschrieben. Hierunter fällt auch derjenige einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kleinkindern, wie sich vorwärts vor ihrem Verschwinden vergewissern konnte.


Vernichtende Bilanz

Eigentlich weiss niemand genau, wie viel Gestrandete zur Zeit in Griechenland leben. Das Migrationsministerium spricht von 62.000 Personen, doch dies wird von den dort tätigen NGOs und selbst vom UNHCR bestritten. De facto entsprach diese Zahl ursprünglich den registrierten, zumeist in Camps lebenden Reisenden nach der Schliessung der Grenze bei Eidomeni. Dort leben jedoch inzwischen etwa ein Viertel weniger Personen, da diese angesichts der dort nach wie vor herrschenden erbärmlichen Lebensbedingungen das Camp verlassen haben. Das Ministerium hat die Zahl jedoch nicht angepasst - ein Schelm, wer daraus die Schlussfolgerung zieht, dass es so sei, weil es pro Person und Tag von der EU 6 Euro kassiert.

Fakt ist: Wer sich nicht irgendwie über die Grenzen oder in den Städten selbst organisieren konnte, darbt auf dem Festland nach wie vor in prekären Camps, die mittlerweile nicht mehr nur von Militärs, sondern auch vom Ministerium oder grösseren NGOs geführt werden, währenddessen die Menschen auf den Ägäis-Inseln nach wie vor in Hotspots zusammengepfercht gefangen gehalten werden (siehe vorwärts, 21. Oktober 2016). Begründet werden Rückführungen nach Griechenland folgerichtig auch nicht aufgrund der Situation von Asylsuchenden oder Abgewiesenen, sondern damit, dass für Flüchtlinge und InhaberInnen eines humanitären Aufenthaltsstatus dort menschenwürdige Lebensbedingungen vorherrschten. Analog dem Deal zwischen der Schweiz und Italien nach einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sollen zudem auch hier seitens Griechenland Garantien gesprochen werden. Wer eine Rückführung nach Italien miterleben "durfte", weiss, dass diese Garantien in den meisten Fällen nur auf dem Papier bestehen.

Doch selbst diese Begründung hält Nachforschungen nicht stand: In einem offenen Brief protestierte Human Rights Watch anfangs August dagegen, dass sage und schreibe 117 unbegleitete Minderjährige in einer schmutzigen Gefängniszelle auf einen freien Platz in einer ihnen angepasstere Unterkunft warten. Pro Asyl hat unlängst eine "Legal Note" zur Lage von InhaberInnen eines humanitären Status veröffentlicht, deren Fazit schlicht vernichtend ist: Keine spezifischen Massnahmen zu ihren Gunsten, fehlende Informationen zu ihren Rechten, schwierige Erreichbarkeit der nötigen Dokumenten, kein Zugang zur Unterbringung, Hürden bei der Gesundheitsversorgung, schwieriger Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sozialversicherungen und zur Bildung sowie Hürden zur Integration und zur Familienzusammenführung werden da akribisch dokumentiert. Ein Muss für alle, die sich rechtlich gegen eine Rückschaffung nach Griechenland wehren müssen, bzw. ihnen dabei behilflich sein wollen. Aber auch das ging hierzulande unter. Kaum zu glauben, wenn dabei bedacht wird, dass vor gut einem Jahr eine Myriade von Helfenden das Land bereisten, wobei nur wenige Schweizer NGOs noch vor Ort sind.


Schrei nach Freiheit

Wir erinnern uns: 2015 hatten die EU-Staaten Griechenland und Italien versprochen, 160.000 Flüchtlinge zu übernehmen. In den vergangenen zwei Jahren konnten jedoch nur deren 16.803 Griechenland und 7.873 Italien sicher und legal Richtung Schweiz und EU verlassen. 6.254 SyrerInnen wurde in Umsetzung des Türkei-Deals von letztem Jahr zudem der Eintritt gewährt, was allerdings auch bedeutet, dass ebenso viele Nicht-SyrerInnen von den Hotspots auf den griechischen Inseln in die menschenrechtlich noch um einiges zweifelhafteren Camps in der Türkei zurückverfrachtet wurden. Nachdem sich Deutschland und Griechenland darauf einigten, nur noch siebzig Personen pro Monat zu ihren Familien fliegen zu lassen, regte sich heuer in vielen Camps heftiger Protest: Nicht nur, dass es bei 4.339 betroffenen Personen nochmals mehr als fünf Jahre dauerte - mit welch verheerenden Folgen? Nein, das deutsche Gesetz bestimmt neu auch, dass sie dieses Recht verlieren, wenn sie nicht innert sechs Monaten nach dem positiven Bescheid einreisen.

Wie viele andere Proteste von Camp-InsassInnen wäre auch dieser wahrscheinlich nicht einmal in Griechenland registriert worden, wenn er nicht auch vor die deutsche Botschaft und auf den Syntagma-Platz in Athen ausgetragen worden wäre. Selbst die Käfige und hohen Mauern der Insel-Hotspots vermögen den Schreien nach Freiheit und Würde nicht standzuhalten. Seit dem Zustandekommen des EU-Türkei-Deals sind allein im Hotspot Mona auf Lesbos gemäss Médecins sans Frontières die Fälle von Selbstverstümmelungen von fünf auf 62 und die Selbstmorde von null auf zehn gestiegen. Ende Juni begannen drei afghanische Asylsuchende einen Hungerstreik, was sich bald zu einer grösseren Protestaktion entwickelte und auch nach aussen drang, da der Bruder eines der Hungerstreikenden sich ihnen zur Solidarität ausserhalb des Camps anschloss und die Öffentlichkeit informierte. Die Forderung: Diejenigen aufs Festland ziehen zu lassen, die bereits über sechs Monate im Camp darbten. Mitte Juli stürmte die griechische Polizei das Camp, verprügelte und verhaftete dabei 35 Personen. Inzwischen wurden die Hungerstreiks zwar beendet, doch der Konflikt droht wieder zu eskalieren, da Polizei und EASO ihr Versprechen nicht einhielten, ihre Forderung bis Anfang September zu prüfen, derweil sich ein Bündnis von afghanischen Flüchtlingen aus ganz Griechenland zusammengetan und ein Protestschreiben an die Europäische Union verfasst hat...

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 73. Jahrgang - 14. September 2017, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2017

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