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VORWÄRTS/1476: "Wir wollen alles" - Nachruf für Nanni Balestrini


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 31. Mai 2019

"Wir wollen alles"

von Theo Bruns und Rainer Wendling


Nanni Balestrini war als Schriftsteller wie als Mensch von einzigartiger Statur. Nie hat er einen Kompromiss gemacht, weder politisch, noch literarisch, noch stilistisch. Am 20. Mai ist Balestrini im Alter von 83 Jahren gestorben. Ein Nachruf.


1935 in Mailand geboren, veröffentlichte Balestrini bereits mit 19 Jahren sein erstes Gedicht. Seit den 1960er-Jahren war er eine der bedeutendsten Figuren der italienischen Kultur- und Literaturszene, er war Mitglied der "Gruppe 63" und zählte zusammen mit Umberto Eco, Edoardo Sanguineti u.a. zur literarischen Neo-Avantgarde Italiens. Er war aktiv gleichermaßen als undogmatischer Linker wie als moderner Lyriker, als Schriftsteller und bildender Künstler wie auch als Verlagslektor und -berater, unermüdlicher Zeitschriftengründer und Organisator von Literaturfestivals und Ausstellungen. Er experimentierte mit den avanciertesten literarischen und bildnerischen Techniken und Formen, arbeitete mit Text- und Wortcollagen.

Politisch war Balestrini in der unabhängigen Linken beheimatet. Er war mit Toni Negri Gründungsmitglied von "Potere Operaio" und später in der "Autonomia" aktiv. Der große Schlag der italienischen Polizeibehörden gegen die radikale Linke im April 1979, der die bleiernen Jahre einläutete, traf auch ihn. Aus dem unerwünschten Provokateur des Literaturbetriebs war ein gesuchter Staatsfeind geworden. Balestrini konnte gewarnt werden und floh über die Alpen nach Frankreich. Die Jahre des Exils in Paris dauerten bis 1984.


Der "Romancier des Operaismus"

Balestrinis literarisches Werk reflektiert wie kaum ein anderes die jüngere Sozialgeschichte Italiens und stellt zugleich den Versuch dar, ästhetische und politische Avantgarde miteinander zu verbinden. "Die Methoden seiner Prosa sind so experimentell wie die sozialen Massenbewegungen und die individuellen Lebenswege, von denen sie handelt", formulierte es der deutsche Schriftsteller Peter O. Chotjewitz treffend.

Im deutschen Sprachraum ist Balestrini vorwiegend durch seine belletristischen Werke bekannt geworden. Sein erster Roman "Wir wollen alles" ist eine Hommage an die Kämpfe des italienischen Massenarbeiters und wurde mitten in einem Zyklus von Arbeiterkämpfen geschrieben, in denen der FIAT-Konzern in Turin im Jahr 1969 zum Zentrum des Aufstands gegen das Fabriksystem wurde. Mit seiner Geschichte eines rebellischen Arbeiters aus dem Süden wurde Balestrini mit einem Schlag zum "Romancier des Operaismus". Der Titel des Buches wurde zur Parole einer "anderen Arbeiterbewegung" - weit über Italien hinaus.

Protagonist seines vielleicht bekanntesten Romans "Die Unsichtbaren" ist ein Basismilitanter der Generation von 1977, der "Autonomia", die das Land in ein riesiges Laboratorium neuer Lebensentwürfe verwandelte. Es war eine Zeit nicht enden wollender Massendemonstrationen, der Hausbesetzungen, linken Kulturzentren und freien Radios. Mit beispielloser Kreativität und Radikalität forderte eine Bewegung von Jugendlichen die herrschende Kultur und das Bürgertum heraus und artikulierte ihre Ablehnung in Fabriken, Schulen und Stadtvierteln lustvoll und zugleich militant.


Monumentale Chronik der radikalen italienischen Linken

Der Roman "Der Verleger" schließlich, den wir 1992 in deutscher Sprache veröffentlichten und der kürzlich kongenial von Michael Farin als Hörspiel bearbeitet wurde, beschreibt im Rückblick die Zuspitzung der Kämpfe zwischen Partisanentradition und entstehender Fabrikguerilla in einer atemberaubend verdichteten Prosa. Im März 1972 kam der legendäre Verleger Giangiacomo Feltrinelli bei einem Bombenanschlag auf einen Strommast ums Leben. Sein Tod markierte einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der italienischen Nachkriegslinken. In dem Roman setzt sich mosaikartig ein Bild zusammen, in dem die Schlüsselbedeutung dieses historischen Moments Konturen gewinnt. Alle drei Romane veröffentlichten wir 2008 in einem Band als die Trilogie Die große Revolte, die Balestrinis Hauptwerk darstellt.

In der Edition ID-Archiv erschien 1995 Balestrinis Roman "I Furiosi", der den Ultras des AC Milan ein literarisches Denkmal setzt und von diesen im Stadion mit einem gigantischen Pyrofeuerwerk gefeiert wurde. Auch dieses Werk wurde im Staatstheater Stuttgart auf die Bühne gebracht. Der Wiener Bahoe Verlag veröffentlichte das für die documenta 13 in Kassel geschriebene Buch "Carbonia. Als wir alle Kommunisten waren", das der Resistenza und den Arbeiterkämpfen auf Sardinien gewidmet ist. Zusammen mit Primo Moroni verfasste Balestrini schließlich die monumentale Chronik der radikalen italienischen Linken in den 1960er- und 1970er-Jahren "Die goldene Horde".


Das literarische Vermächtnis der Revolte

Nanni Balestrini war als Schriftsteller wie als Mensch von einzigartiger Statur. Nie hat er einen Kompromiss gemacht, weder politisch noch literarisch, noch stilistisch. Er bewegte sich mit der gleichen Grandezza in einem autonomen Centro sociale wie in einer renommierten Galerie oder auf der Biennale in Venedig. Jede Anbiederung war ihm fremd, aber er gab die von ihm porträtierten Menschen in einem so treffenden, genauen Stil kühler Leidenschaft wieder, dass diese ihn dafür geradezu liebten.

Gerne erinnern wir uns an die wenigen, aber kostbaren Begegnungen mit ihm, sei es bei einem Polenta-Essen in der Wohnung seines Übersetzers Andi Löhrer, bei einem Besuch in Rom oder zuletzt anlässlich der Ausstellung seiner Collagen im Jahr 2016 in der Berliner WeGallery. Bei diesem letzten Zusammentreffen hatten wir auch das Glück, in Anwesenheit Nannis den von Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer und Jürgen Schneider anlässlich seines 80. Geburtstags veröffentlichten Sammelband "Landschaften des Wortes" im Roten Salon der Volksbühne vorstellen zu können. Im letzten Jahr veröffentlichten wir schließlich eine Neuauflage des Romans "Sandokan", der sich mit der neapolitanischen Camorra auseinandersetzt und zu dem Roberto Saviano ein Vorwort beigesteuert hat.

Nanni Balestrinis Werk bleibt für immer das literarische Vermächtnis der Revolte in Italien. Wir vermissen seine unverwechselbare Stimme sehr, in unserem Herzen wird er stets einen Platz haben und er wird auch in Zukunft ein Echo bei all jenen finden, die die aufständische Hoffnung auf eine solidarische Welt nicht aufgegeben haben.

Die beiden Autoren sind die Verleger des Buchverlags Assoziation A mit Sitz in Berlin und Hamburg.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18 - 75. Jahrgang - 31. Mai 2019, S. 12
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2019

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