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VORWÄRTS/1505: Gemeinsam grosse Momente definieren ...


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 6. September 2019

Gemeinsam grosse Momente definieren...

von Sabine Hunziker


Nach der Sommerpause im Anschluss an den erfolgreichen Frauen*streik wurde bei einem Treffen der nationalen Koordination in Grenchen weitergeplant. Neben dem Absprechen von Terminen und dazugehörigen Aktionen standen grundsätzliche Themen der Bewegung zur Diskussion.

Wie während der letzten Sitzung im Juni abgemacht, trafen sich Vertreterinnen* vieler kantonaler und lokaler Komitees am 24. August in Grenchen im Rahmen einer Sitzung der nationalen Koordination. Auf der Traktandenliste war nicht nur ein Rückblick, sondern auch die Planung der nächsten Aktivitäten. Während der Redebeiträge der Frauen* entwickelte sich auch eine wichtige Grundsatzdiskussion. In einem grossen Saal im Parktheater in Grenchen drängten sich Frauen* um die Tische herum. Corinne Schärer, unter anderem Geschäftsleitungsmitglied der Unia Schweiz, begrüsste Vertreter*innen aus Genf, dem Jura, aus Zürich oder aus dem Wallis. Aus vielen Kantonen und Regionen reisten Frauen* an, und sie waren "voller Energie".


Kurzfristige und langfristige Ziele

Zu Beginn wurden Fotos vom gefüllten Raum geschossen, im Hintergrund hingen Soli-Transparente zu verschiedenen Frauen*bewegungen und -kämpfen. In Mexiko beispielsweise waren zwei junge Frauen von der Polizei vergewaltigt worden. Als Antwort darauf organisierte sich die Bewegung dort. Das zweite Transpi erinnerte an die Kämpfe der Kurdinnen*. Auch auf die Situation von Nekane, die selbst bei dieser Sitzung der nationalen Koordination mit dabei war, wurde aufmerksam gemacht.

Dann stand die neue feministische Agenda auf dem Programm, denn auch nach dem Frauen*streikjahr gibt es Kämpfe. Ziel war es, Schwerpunkte zu suchen und bestimmen, die dann wieder in die einzelnen Kollektive gehen, um da diskutiert zu werden. Die nationale Koordination gibt nichts vor, sondern will mit Ideen die dezentrale Bewegung überzeugen. Dabei gibt es kurzfristige und langfristige Ziele. Ein Beispiel für eine Aktion in einem kurzfristigen Zeitraum sind Kämpfe gegen die Erhöhung des AHV-Alters für Frauen* mit dem Reformpaket AHV 21. "Sie wollen uns länger arbeiten lassen, um Milliarden einzunehmen." So lautete die Meinung vieler Aktivistinnen* im Raum. Dieses Denken rund um die Reform ist scheinheilig: "Hätte es mehr Krippen für Arbeiter*innen, so könnten mehr Frauen* Lohnarbeit nachgehen und es würde auch mehr geben für die AHV. Die Erhöhung des Rentenalters ist Symbol dafür, was uns angetan wird".


Wir müssen uns zeigen ...

Die Hauptfrage, die bei der Sitzung der nationalen Koordination diskutiert wurde, war: Wie können wir Forderungen vom Frauen*streikmanifest umsetzen? Was können wir verändern und vorantreiben? Gemeinsam wurden Abmachungen getroffen und zu möglichen "Marksteinen" oder "Höhepunkten" im nationalen Komitee angeregt. Vor Ort, wie zum Beispiel in Bern, würden sich später Komitees sammeln, um hier Druck auszuüben. Es durften alle Aktivistinnen* im Raum zur Planung sprechen, der Reihe nach wurden Namen auf der Redner*innenliste notiert. Es gibt viele Gelegenheiten, um für die Forderungen im Manifest zu kämpfen. Wichtige Daten sind sicher der 8. März und der 14. Juni 2020. Beide Tage fallen auf einen Sonntag. Mit diesen "freien Tagen" könnten sich neue Möglichkeiten eröffnen. Weil an diesen Tagen mehr Frauen* "frei haben" oder sich flexibler organisieren können, rechnen die Organisierenden mit noch mehr Demoteilnehmer*innen.

Auf der Tafel mit der Jahresplanung standen aber noch mehr Ideen, um daraus Aktionen zu entwickeln. Am 28. September ist wieder eine Klimademo. In der Vergangenheit hatten sich Aktivistinnen* des Frauen*streiks mit Aktionen daran beteiligt. Auch bei den Wahlen am 20. Oktober könnte ein Zeichen gesetzt werden. Hier geht es aber nicht darum, Frauen* zu wählen, sondern Frauen*, die sich für feministische Anliegen einsetzen werden. Ab 2019 sind plötzlich alle Parteien "feministisch" geworden. Hier gilt es wachsam zu bleiben und aufzuklären. Die Bewegung muss Position beziehen, auch gegen Argumente der Rechten und Konservativen, die sich für "Frauenrechte" einsetzen wollen. Zum Thema sexuelle Gewalt bietet sich der 25. November 2020 für Information und Proteste an. Neben den bereits traditionellen Terminen fand sich zusätzlich der 21. Oktober. Ab diesem Datum arbeiten die Frauen* durchschnittlich aufgrund des Lohnunterschieds gratis bis Ende des Jahres. Im Herbst werden immer auch Lohndiskussionen geführt und über Löhne verhandelt. Auch hier muss Lohngleichheit ein Thema sein. Es wird nicht genügen, mit den Arbeitgebern am Tisch zu sitzen, sondern Aktivist*innen müssen mit gemeinsamen grösseren Aktionen kämpfen.


Breite behalten

Der 21. Oktober kann eine Möglichkeit sein, schweizweit dezentral erneut einen Weckruf auszusenden, wie dies am 14. Juni bereits der Fall war. Mitdiskutieren und Mithandeln ist jetzt wichtig. Damit sind nicht ganz alle einverstanden. Nekane Txapartegi meldete sich zu Wort und meinte, dass Kämpfe rund um Lohnarbeit sicher sehr wichtig sind, aber beim 14. Juni die unbezahlte Care-Arbeit auch im Zentrum war. Diesen roten Faden gilt es nun auch aufzunehmen. "Wir müssen überlegen, was wir brauchen", so die Aktivistin.

Wenn man das Manifest vom Frauen*streik 2019 liest, sind hier viele unterschiedliche Themen enthalten. Zur Lohngleichheit gibt es einige Forderungen. So ist es klar, am 21. Oktober als Bewegung ein Zeichen zu setzen. Aber Nekane hatte natürlich recht: Es gibt viele weitere Anliegen mit passenden Forderungen wie beispielsweise mehr feministische Frauen* und Männer* bei den Nationalratswahlen ins Parlament zu wählen oder Lohngleichheit im Herbst.

Für Migrantinnen* und prekär arbeitende Frauen* sind andere Forderungen wichtig als für Lohnarbeiter*innen. Es gilt geeignete Zeitpunkte zu finden, um diese Anliegen wortstark und laut zu fordern. Sofort meldete sich eine Frau, die den 21. Oktober mit einem Konsumstreik ergänzen möchte. Es muss sicher an diesem Tag zu einem "breiten Arbeitsbegriff" protestiert werden. So könnten auch Menschen in eine Aktion miteinbezogen werden, die keine Lohnarbeit haben. Oberbegriffe wie "antipatriarchal" und "antikapitalistisch" dürfen beim Streik nicht vergessen werden, meinte eine weitere Rednerin. "Gewerkschaftliche Themen sind wichtig, aber nicht alles". Vom Thema her in der Breite bleiben, so war ein Zwischenfazit der Zusammenkunft. Es gibt viele verschiedene Frauen*, die sich aber nicht auseinander treiben lassen und die solidarisch sind. So soll es auch weiter gehen. Es gilt, alle Zeitfenster zu nutzen und sich beispielsweise bei Lohnverhandlungen auch für bezahlte Care-Arbeit einzusetzen, um so bereit zu bleiben, sagte eine Gewerkschafterin. "Wichtig ist gemeinsam und nicht gegeneinander".


Oft fehlen strategischen Argumente

Wie vielfältig die Bewegung wirklich ist, wurde bei nächsten Wortmeldungen klar. Eine Aktivistin meldete sich zu Wort: "Es gilt nicht primär Gleichheit zu fordern im Kapitalismus, sondern ökonomische Forderungen zu stellen. Es handelt sich hier nämlich um ein ökonomisches Problem und wir brauchen eine andere Welt". Weiter meinte sie: "Wir brauchen nicht Anerkennung, sondern mehr Zeit für uns und Cash. Deshalb muss prekarisierte Arbeit und Care-Arbeit ins Zentrum gestellt werden". Die Idee, dass zum Beispiel Banken "Care-Abgaben" zahlen müssten, wäre ein Anfang, ergänzte eine Frau aus dem Publikum. Nekane konkretisierte: "Das Leben muss im Zentrum stehen". Elementare Themen zum Leben sind wichtig wie beispielsweise Kämpfe rund um Femizide in Lateinamerika. Und man muss vom binären Denken wegkommen wie Lohnarbeit und Nicht-Lohnarbeit, die intersektionale Bewegung weiterführen und politische Agenden beeinflussen, um sich nicht danach zu richten. "Wir sind das Subjekt, nicht das Parlament", so lautete ihr Fazit. "Trotzdem sind die Wahlen wichtig", entgegnete eine andere Aktivistin sofort, "es gilt den sich in aller Welt ausbreitenden Rechtspopulismus auch in der Schweiz zu stoppen".

Was bisher in der Bewegung vernachlässigt wurde, sind Diskussionen über Strategien. Wichtige Erfahrungen werden immer wieder gemacht und nicht reflektiert oder festgehalten. Beispielsweise wuchs die Mobilisierung, als Aktivist*innen andere Frauen* an ihren Wohnorten oder Arbeitsorten direkt aufgesucht und motiviert haben.


Nationale und internationale Kämpfe weiterführen

In der Schweiz gab es noch nie eine so grosse und breite feministische Bewegung. Den Aktivistinnen* ist es gelungen, den Föderalismus zu überwinden und nationale Daten zu schaffen. Das soll auf jeden Fall beibehalten werden. Alle wissen, dass hier die Zusammenarbeit von Basis und Gewerkschaften wichtig ist. Es darf aber die Wechselwirkung von bezahlter (Care-)Arbeit und unbezahlter Care-Arbeit nicht vergessen werden. Zwei grosse Daten wurden zu Diskussion gestellt: der internationale 8. März und der nationale 14. Juni 2020. Beide Daten fallen auf einem Sonntag und werden deshalb die Möglichkeit bieten, neu auch Freizeit und Erholungszeit zu thematisieren. Zusätzlich können auch mehr Menschen an den Tagen teilnehmen, so dass eine sorgfältige Planung nötig wird.

Einige Aktivist*innen plädierten im späteren Gespräch dafür, dass ein Hauptfokus auf den 8. März gelegt wird, weil er 2019 etwas in den Hintergrund geriet. Auf jeden Fall muss ein anderes Wort als Streik gesucht werden, weil sonst alle weiteren Aktionen an den Dimensionen des 14. Juni 2019 gemessen werden, so lautete eine Wortmeldung. Bald standen viele Termine auf der Tafel im Sitzungsraum in Grenchen. So werden später Aktionen zum "Coming Out Day", zum Tag gegen Homophobie oder auch zu Flucht und Migrationsthemen oder sexueller Gewalt in den Kollektiven diskutiert. Marksteine sind und bleiben der 8. März und der 14. Juni 2020. Aber alle Daten sind wichtig - es darf nicht lockergelassen werden. Schliesslich haben am 14. Juni Tausende Aktivist*innen demonstriert und es geht jetzt weiter. 19 Forderungen gilt es in den nächsten Jahren anzusprechen. Kämpfe sollen vielfältig sein, Aktivist*innen orientieren sich auch an den vorangegangenen Aktionen, um den Faden aufzunehmen und neu umzusetzen. So entsteht eine Kontinuität. Es gilt Themen so zu generieren, dass die Medien sie aufnehmen und die Politiker damit konfrontieren. Auch auf unterschiedliche Angriffe müssen schlagkräftige Antworten bereitgehalten werden. Nur so sind weitere feministische Jahre mit einer starken Bewegung garantiert und somit eine Mobilisierung rund um das Manifest.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 75. Jahrgang - 23. August 2019, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2019

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