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Z/182: Wie viel Bewegung braucht das Lied?


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 97 - März 2014

Wie viel Bewegung braucht das Lied?
Eine Positionsbestimmung des politischen Liedes in Deutschland anhand seiner Geschichte

von Kai Degenhardt



Das politische Lied ist mausetot! Jedenfalls findet es dort, wo es hierzulande heute noch zu hören ist, weitgehend unterm Radar statt. Ich meine natürlich das linke politische Lied; das auf gesellschaftlichen Fortschritt und Emanzipation gerichtete. Reaktionäres wird selbstverständlich erschütternd viel geschmettert in diesen Tagen. Dieses Genre ist alles andere als mausetot. Aber darum geht es hier nicht.

Dass ich, wenn ich diesen Befund äußere, oft Widerspruch erfahre, bin ich gewohnt, und der Dissens ist auch meist sehr grundsätzlich. Er hat nach meiner Erfahrung vor allem damit zu tun, dass unter einem linken politischen Standpunkt inzwischen vollkommen Verschiedenes, häufig sogar sich gegenseitig Ausschließendes verstanden wird. Wir meinen vermutlich meist nicht einmal dasselbe, wenn wir dabei "Wir" sagen. Aber wie konnte es dazu kommen?

Neben dem Bezugspunkt einer besseren, weil klassenlosen Gesellschaft erhalten politische Lieder ihren entsprechenden Charakter ja immer dadurch, dass sie einen Standpunkt in den jeweiligen gesellschaftlichen Kämpfen auf dem Weg dorthin beziehen; um die Organisationsform und die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts sowie die gesellschaftliche Gesamtreproduktion. Diese Kämpfe sind in Deutschland untrennbar mit der Traditionslinie einer jakobinischen Linken verwoben, womit die historische Verbindung gemeint ist, die von der Aufklärung über die Französische Revolution, die Vor- und Nachmärzzeit zur Gründung der SPD verläuft. Diese Linke also, die sich dann nach dem Ersten Weltkrieg gespalten und während des deutschen Faschismus in den KZs wieder gefunden hat. Und ihre Lieder, in der Tradition vom Pfeiferhänslein über "O König von Preußen", die "Freie Republik", Herweghs "Bet' und arbeit'" bis zur Microphone Mafia.


Das ermattete Ächzen

Im Folgenden soll nun anhand eines Überblicks über die wechselhafte Geschichte, die das politische Lied hierzulande in den letzten Jahrhunderten genommen hat, mit allen seinen reaktionären Wendungen und Windungen, der Versuch unternommen werden, anhand dieser historisch längeren Wellen ein Muster herauszuarbeiten, welches eine Positionsbestimmung für's politische Lied hier und heute ermöglicht.

Eine Rückverfolgung des politischen Liedes in bzw. auf dem Territorium des heutigen Deutschland durch die Zeiten stößt zunächst auf die Schwierigkeit seiner schriftlichen Überlieferung. Die deutschnationale Germanistik und Volksliedforschung des 19. Jahrhunderts sah in der Schaffung ihrer bürgerlichen Nationalliteratur nämlich eine primär chauvinistische Aufgabe; als ideologische Waffe gegen die "französische Fremdherrschaft", später die so genannte "Kleinstaaterei" während der feudalen Restauration ab 1815.

Der soziale Inhalt, "die Klagen, die Niemand hört, das ermattete Ächzen der Verstoßenen", worauf Herder[1] in seiner Ur-Volksliedsammlung "Stimmen der Völker in Liedern" von 1779 noch hinwies, war für den Großteil der späteren Anthologisten nebensächlich vor dem Hintergrund der nationalen Zielsetzung entsprechend der reaktionär-restaurativen, gegen die Ergebnisse der französischen Revolution gerichteten Tendenzen der deutschen Romantik.

Nach 1848, insbesondere aber mit dem Übergang zum Imperialismus in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, stellte sich die deutsche Volksliedforschung bis auf wenige Ausnahmen vollends in dessen Dienst und wirkte so mehr oder weniger systematisch an der Verschüttung und Verfälschung fortschrittlichen demokratischen Bewusstseins in der traditionellen Vokalmusik mit.

Dass trotzdem nach 1945, in den 1960ern hierzulande wieder damit begonnen werden konnte, demokratische, deutsche Traditionals zu singen - daran hatte einen herausragenden Anteil der aus der DDR stammende "Große Steinitz"[2]: die zweibändige Sammlung von Liedern, von Wolfgang Steinitz mühsam ausgegraben und zusammengetragen unter dem schönen wie treffenden Titel "Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten". Das historische Verdienst von Steinitz kann für das, was hier Gegenstand des Aufsatzes ist, das linke politische Lied, nicht hoch genug veranschlagt werden.


Willst zu meinen Liedern deine Leier drehen

Steinitz und die meisten anderen Autoren und Musiker[3], die sich der Geschichte des politischen Liedes in Deutschland widmen, beginnen damit in der Regel in der Neuzeit, also meistens beim Deutschen Bauernkrieg oder den diesem vorausgegangenen, früheren Bauernerhebungen des 15. Jahrhunderts.

Es soll hier aber auch die ältere Tradition der mittelalterlichen Ballade nicht ganz unerwähnt bleiben, mit ihren Ablegern, z.B. dem Bänkellied, die, nicht nur in formaler Hinsicht, für die Entwicklungsgeschichte auch und gerade des politischen Liedes von nicht unerheblicher Bedeutung sind. Die Ballade selbst geht zurück auf die Troubadours, die ihre Verse musikalisch unterlegten, an den Höfen des provenzalischen Adels sangen und dabei ein ausdifferenziertes Repertoire an Minnepoesie entwickelten. Sie waren Dichter, Komponisten und Vortragskünstler in einer Person, also gewissermaßen die Urahnen der Singer-Songwriter und Liedermacher unserer Tage. Diese frühen Lieder und Balladen waren allerdings sehr artifiziell und ausschließlich für ein exquisites, höfisches Publikum kreiert.[4] Dennoch war neben dem Minnesang (Liebeslyrik) auch Politik darin ein Thema. Genannt seien hier beispielhaft Walther von der Vogelweide (1170-1230) mit seinem frühen Spottlied auf den Papst oder Neidhardt von Reuental (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) mit seinem kreuzzugskritischen "Kreuzlied", das vielleicht als das früheste, bekannte Antikriegslied gelten kann.

Mit Beginn der Renaissance, als die hochkulturelle Dichtung vor allem nach Idealen in der Antike suchte, und die Kunstmusik in erster Linie der Kirche verpflichtet wurde, ging diese Balladen-Tradition gewissermaßen in den Untergrund: in die Schänken und Kaschemmen, auf die Landstraßen und Marktplätze, wo sie als Bänkelsang von Spielleuten und Vaganten vorgetragen und so zur Alltagskultur, der Volksballade wurde. Sie "überwinterte" dort während der folgenden Bauernaufstände und deren Verfolgung, der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg.


Dass wir die Pfaffen nicht zu Tod solln schlagen

Fragt man die Deutschen nach einem Lied aus dem Bauernkrieg, fällt meist der Titel "Wir sind des Geyers schwarzer Haufen". Das und viele andere sind aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden und wurden dann als Lieder der Bündischen Jugendbewegung bekannt. Hinweise auf Original-Lieder der aufständischen Bauern von 1525 und davor findet man im Grunde nur in der Literatur und in historischen Quellen, die davon berichten. So muss es auch damals ein Lied auf den "Armen Konrad" gegeben haben, und auch aus der frühen Bauernerhebung um den Viehhirten Hans Böhm aus Niklashausen, auch Pfeiferhänslein genannt, wird in den historischen Quellen von einem Lied berichtet, das die Aufständischen sangen, von dem sich nur die Strophe erhalten hat: "Wir wollens Gott vom Himmel klagen / dass wir die Pfaffen nicht zu Tod solln schlagen." Sehr viel mehr ist aus der Zeit gar nicht überliefert.

Nach der Niederlage der Bauern im Jahr 1525 wurden ihre Lieder nämlich von den Siegern mit wütendem Hass verfolgt, so dass sich nur Bruchstücke davon in historischen Gerichts- und Folterprotokollen erhalten haben. Von daher ist auch zu erklären, dass zahlreiche die Bauern schmähende Lieder der siegreichen Herren und ihrer Landsknechte überliefert wurden, aber nur ganz wenige der kämpfenden Bauern und städtischen Plebejer. Diese Lieder hatten aber ganz offenkundig eine sehr mobilisierende Rolle für die Kämpfenden gespielt, denn die Fürsten versuchten um jeden Preis die Verfasser der Lieder zu ermitteln und physisch zu vernichten.[5]

Ebenso wie die Landsknecht-Heere die Schlachten gegen die Bauern gewannen, gewannen auch ihre Lieder gegen die revolutionären Lieder, die nicht verbreitet wurden. So entwickelte sich ein Strang deutscher Vokalmusik-Tradition, aufgegriffen von den Romantikern und zur romantischen Blüte entwickelt von der deutschen Jugendbewegung. Die Liederbücher der Bündischen sind voll mit Landsknecht-Liedern. Die Sieger haben also nicht nur - wie immer - die Geschichte geschrieben, sie haben auch dem Volk ihre Musik aufgedrückt und die der Verlierer ausgerottet. Wenn man heute originale Töne aus dem Jahr 1525, insgesamt des 16. Jahrhunderts, hört, die sich irgendwo erhalten haben, so sind das die Töne der militärischen Sieger, der Landsknecht-Armeen, oder der ideologischen Sieger, der lutherischen Kirche. Diese hat von Anfang an ihre Lieder in Büchern verbreitet.[6]

Der frühe, revolutionäre "Traum von einer Sache" blieb also auf der Strecke, und es begann eine lange Durststrecke, auch für das politische Lied in Deutschland.


Es geht ein Schnitter

Erhalten und überliefert sind danach zunächst v.a. Bauernklagen, Lieder der Dorfarmut und andere im weitesten Sinne sozialkritische Lieder der städtischen Kleinbürger und Handwerksgesellen. Die machtpolitischen Kämpfe der Aristokratie um die Vormachtstellung in Europa während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) wurden auf dem Territorium des heutigen Deutschland mit besonderer Brutalität ausgetragen und natürlich immer auf dem Rücken der Bauern und der plebejischen Schichten der Städte. Lebendig blieben aus dieser Zeit einige Lieder der Soldaten gegen Söldnerdienst und Krieg wie "Es geht eine dunkle Wolke" oder "Wir haben im Felde gestanden".

Aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stammt das Stück "Ich bin ein freier Bauersknecht", in dem es gleich zu Beginn heißt: "Ich bin ein freier Bauersknecht / ob schon mein Stand ist eben schlecht / so deucht ich mich doch wohl so gut / als einer an dem Hofe tut"[7], was zu dieser Zeit bemerkenswert radikal war.

Die Fürsten der deutschen Kleinstaaten um 1700 herrschten nämlich unumschränkt und weitestgehend ohne ständische Institutionen. Gottesgnadentum des Adels und unbedingter Gehorsam der ländlichen wie städtischen Untertanen kennzeichneten diese Epoche des Absolutismus. Auch wenn frei konkurrierende Kapitalisten darin schon ein bisschen ihren Geschäften nachgehen durften, Hof und Noblesse herrschten quasi ohne Einschränkung. Hofstaat und ein eigenes Heer gehörten zur Machtentfaltung jedes Winkelfürsten, der die Gelder dafür von seinen Landeskindern abpresste und diese im Gegenzug mit Folter und Prügel in seine Privatarmee zwang. "O König von Preußen" entstand in dieser Zeit wie auch das Lied "Mit List hat man mich gefangen", das diese Zwangsrekrutierungen beschreibt und anklagt.

An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass die Volksballade in Form des Bänkelsangs durch die Jahrhunderte hindurch weiter wirkte - als eine Art frühes Nachrichtenportal gewissermaßen. Die Bänkelsänger zogen bis ins 19. Jahrhundert von Ort zu Ort, um auf Markplätzen und Jahrmärkten, in den Straßen und Schänken von historischen Ereignissen und Schauergeschichten zu berichten. Während des Vortrages stellte sich der Bänkelsänger auf eine kleine Bank, das Bänkel, und zeigte dabei mit einem langen Stab auf eine Bildtafel mit Zeichnungen, die seine gesungene Moritat (kommt von "Mordtat") illustrierten. Musikalisch begleitet wurde das Ganze mit Drehleier, Violine oder Laute, später auch mit der Drehorgel.

Sicher, eine Ballade ist nur eine Liedform, und es soll hier nicht das Genre als etwas dem politischen Lied Verschiedenes ins Spiel gebracht werden, nur: Die zu Musik erzählten oder gesungenen Geschichten, Reportagen oder Räuberpistolen können, auch ohne explizit-sozialkritischen Inhalt, oppositionellen oder agitatorischen Vortragsgestus, durchaus aufklärend, ja sogar emanzipatorisch-aufrührerisch gewirkt haben.


Ça ira

Das intellektuelle Bürgertum zur Zeit des Absolutismus entwickelte in Opposition dagegen im 17. und 18. Jahrhundert die Philosophie der Aufklärung. Im Unterschied zu Frankreich fehlte aber auf dem Territorium des heutigen Deutschland ein einheitlicher Nationalstaat, so dass die fortschrittlichen Ideen der Aufklärung sich nicht in einer einheitlichen großen Bewegung gegen den Absolutismus verbanden. Erst die Auswirkungen der Französischen Revolution (1789-95) brachten die Dinge - gewissermaßen als Heckwelle - auch im zerstückelten Deutschland in Bewegung: Es kam zu Aufständen von Handwerkern, Lohnarbeitern, Bauern und Bürgern am Ober- und Mittelrhein, in der Pfalz, in Trier, Köln und in Sachsen. In Mainz gründeten die Bürger eine freie Republik.

Diese Rebellionen wurden immer wieder niedergeschlagen, und fürchterliche Strafen wurden gegen die Aufständischen verhängt. Der Gedanke aber von einer nationalen Einigung hatte in diesen Kämpfen Kraft gewonnen. Die Version des Lieds "Die Gedanken sind frei"[8] mit der folgenden Strophe stammt aus dieser Zeit kurz vor 1800: "Ja fesselt man mich / im finsteren Kerker / so sind doch das nur / vergebliche Werke / Denn meine Gedanken / zerreißen die Schranken / und Mauern entzwei / die Gedanken sind frei."

Mit dem Sieg der antinapoleonischen Koalition und der Restauration nach dem Wiener Kongress ab 1815 nahm dann aber wieder endgültig die Konterrevolution ihren repressiven Verlauf: Das Metternichsche Unterdrückungs-System wurde installiert und 1819 die Karlsbader Beschlüsse erlassen, die das Verbot der öffentlichen schriftlichen Meinungsfreiheit dekretierten sowie die Überwachung der Universitäten, die Zensur der Presse, Entlassungen und Berufsverbote für liberal und national gesinnte Lehrer und Professoren auslösten. Sehr schlechte Zeiten also mal wieder fürs politische Lied in Deutschland.


33 Jahre

Die Julirevolution in Frankreich 1830 löste in einigen deutschen Staaten im Gegenzug, trotz der starken Unterdrückung, emanzipative, politische Wellen aus: Die demokratische Bewegung wuchs in ganz Deutschland an und fand im Mai 1832 auf dem Hambacher Fest der Republikaner ihren Höhepunkt, auf den dann wieder eine verschärfte Verfolgung durch Metternich und die verschiedenen deutschen Regierungen folgte.

"Fürsten zum Land hinaus!"[9] heißt ein überliefertes Lied aus dieser beginnenden Vormärz-Zeit kurz vor dem Hambacher Fest, in dem Strophe für Strophe die deutschen Kleinfürsten aufgezählt und bildlich verjagt wurden, bis es heißt: "Nun ist im Lande Raum: / pflanzet den Freiheitsbaum. / Hoch!"

Unter der Verfolgung Metternichs entstanden in Deutschland Geheimgesellschaften, die zum Teil ihre Kräfte wohl stark überschätzten und sich von einer putschistischen Taktik Erfolg erhofften. Ein solcher Versuch war der Sturm auf die Frankfurter Wache durch eine Studentengruppe am 3. April 1833, der - wie so oft in der Geschichte - vorher verraten und von der Reaktion niedergeschlagen wurde. Die Studenten wurden verurteilt und eingesperrt. Aus diesem Zusammenhang stammt das Lied der "Freien Republik" - "In dem Kerker saßen / zu Frankfurt an dem Main ...", das in diversen Varianten überliefert ist. Unter anderem auch in der als "Heckerlied"[10] bekannten Version von nach 1848, in der es heißt: "Ja, dreiunddreißig Jahre / währt die Knechtschaft schon / nieder mit den Hunden / von der Reaktion!" Die 33 Jahre beziehen sich dabei auf die Zeit zwischen dem Wiener Kongresses 1815 und der 1848er-Revolution.

Nur beispielhaft für die Vormärz-Lieder sei hier noch "Das Blutgericht"[11] genannt, das berühmte schlesische Weberlied, dessen wichtige Rolle bei der Auslösung des Weberaufstands in Gerhart Hauptmanns "Die Weber" (1892) herausgearbeitet wurde. Karl Marx bezeichnete das Weberlied als "kühne Parole des Kampfes, worin [...] das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit."[12] Genau wie nach dem Bauernkrieg wurde von preußischer Seite polizeilich nach dem Verfasser des "Blutgerichts" gefahndet, so dass man die Überlieferung des Texts auch hier nur aus den damaligen Polizeiakten kennt. Der Volksdichter blieb unentdeckt, aber das Lied wurde weiter gesungen.

Den Vormärz-Zyklus gewissermaßen abschließend, schrieb Ferdinand von Freiligrath im Juni 1848 sein bekanntes "Trotz alledem"[13]: "Das war 'ne heiße Märzenzeit / trotz Regen, Schnee und alledem! / Nun aber, da es Blüten schneit / Nun ist es kalt, trotz alledem!"


Bet' und arbeit'

Die Lehre aus der niedergeschlagenen Revolution von 1848 war - zumindest für die sozialistischen Kräfte, die sich nun politisch und strategisch vom Bürgertum abzuspalten begannen -, dass es sich ohne eine schlagkräftige eigene Klassen-Organisation nicht erfolgreich kämpfen lässt. Im Mai 1863 schlossen sich elf Arbeitervereine unter der Führung von Ferdinand Lassalle zum "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" zusammen, der Keimzelle der späteren SPD. Lasalle bat den Dichter und März-Revolutionär Georg Herwegh um ein "kämpferisches, zugkräftiges 'Bundeslied'", und es entstand "Bet' und arbeit'"[14], das erste Lied der politisch organisierten deutschen Arbeiterbewegung.[15]

Es fehlt hier der Raum, näher auf die Geschichte der Lieder der Arbeiterbewegung einzugehen. Hierzu bedürfte es einer eigenen Abhandlung. Nur ein besonderes Lied sei hier noch erwähnt, weil es einfach nicht fehlen darf: Eugène Poitier, der 1871 Mitglied der Pariser Commune war, die nach nur 70 Tagen blutig und brutal niedergeschlagen wurde, schrieb unmittelbar danach das Kampflied der Arbeiterklasse schlechthin: "Die Internationale". Der ursprüngliche, französische Text bezog sich auf die Internationale Arbeiterassoziation, die Erste Internationale, also den ersten länderübergreifenden Zusammenschluss von verschiedenen, politisch divergierenden, internationalen Gruppen der Arbeiterbewegung, die Streiks von London aus koordinierte und auch finanziell unterstützte. Erst etwa 30 Jahre später wurde "Die Internationale" auch außerhalb Frankreichs bekannt. Die bekannte Übersetzung bzw. Nachdichtung ihrer ersten beiden sowie der letzten Strophe ins Deutsche schrieb Emil Luckhardt.


Auf, auf zum Kampf

Nach der historisch einschneidenden Zäsur des Ersten Weltkriegs - 17 Millionen Tote, 20 Millionen Verwundete in vier Jahren Krieg -, des "Zusammenbruchs der alten Welt" und der Oktoberrevolution in Russland 1917 ergab sich für viele - nicht nur für die sozialistische Arbeiterbewegung - bald nur noch die Alternative zwischen Sozialismus oder Barbarei.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 war die Deutsche Revolution mit Hilfe der reaktionären Freikorps, aus denen später SA und SS entstehen sollten, blutig niedergeworfen worden. Die revolutionäre Periode dauerte jedoch noch bis 1923 an. Die wichtigen Brennpunkte hießen: Januarkämpfe in Berlin mit der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, Bremer und Münchner Räterepublik 1919, Kapp-Putsch, Generalstreik und Ruhraufstand 1920, Niederschlagung der Märzkämpfe in Mitteldeutschland ("Leunalied") 1921 und Hamburger Aufstand ("In Hamburg fiel der erste Schuss") 1923. Weitere wichtige Lieder aus der Zeit sind, um nur einige zu nennen: "Der Kaiser hat in' Sack gehau'n", "Das Büxensteinlied" oder "Auf, auf zum Kampf", allesamt entstanden unter dem starken Einfluss der gerade erst gegründeten KPD. Diese Lieder gingen spontan aus den Kämpfen des Proletariats hervor, entsprangen direkt aus den Bedürfnissen der politischen Aktion und wirkten bei den von den Arbeiterorganisationen geführten Kämpfen, diese unterstützend, unmittelbar zurück - Agitprop at its best.

Besondere Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung erhielten dabei die roten Spieltruppen der Arbeiterkultur-Bewegung, die rasch auf aktuelle Ereignisse reagierten und in ihren Liedtexten die Zeit sehr lebendig widerspiegelten. Brecht, Weinert, Mühsam, Tucholsky, Eisler und andere stellten sich an die Seite der Agitpropbewegung und verhalfen ihr zu einer künstlerischen und politischen Wirksamkeit. "Das Solidaritätslied" (Brecht/Eisler) oder "Das Stempellied" (David Weber/Eisler) sind Beispiele hierfür.

Nur am Rande sei angemerkt, dass es gerade in den 1920ern wieder eine enge Wechselbeziehung zwischen dem politischen Lied und dem alten Bänkelsang gab. Kabarettisten und Schriftsteller wie Klabund oder Wedekind griffen auf Stilelemente von Moritat und Bänkelsang zurück und befassten sich mit den aktuellen Kriegsgräueln sowie den sozialen Missständen der kapitalistischen Lebenswelt ihrer Zeit, so z.B. in der "Ballade des Vergessens" (Klabund) oder "Brigitte B." (Wedekind). Auf diesem Weg folgten später Brecht/Weill mit der "Dreigroschenoper". Bei der "Moritat von Mackie Messer" wurden zur Uraufführung 1928 alle Zutaten des Bänkelsangs sogar in Szene gesetzt.

Der Song "Der Rote Wedding" (1929) von Erich Weinert und Hanns Eisler steht musikalisch beispielhaft für die späte Phase der Weimarer Republik und die Auseinandersetzung der kommunistischen Arbeiter mit der faschistischen Bewegung, die in Italien schon 1922 an die Macht gekommen war. "Das Einheitsfrontlied" von Bert Brecht und Hanns Eisler markiert inhaltlich bereits den Bruch nach 1933 - den Kampf gegen den Faschismus, der nun auch in Deutschland an der Macht war.


Von "Spaniens Himmel" zu den "Moorsoldaten"

Aus der Zeit des Faschismus gibt es von linker Seite schon bald - außer den Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg - nicht mehr viel zu singen. Viele Künstler wurden in die Emigration gezwungen; Bücherverbrennungen, Verfolgung, Verhaftungen, Folter - ich spare die Einzelheiten aus. Es sind zwar einige Widerstandslieder auch aus dieser Zeit überliefert - beispielhaft natürlich das "Moorsoldatenlied" der politischen Häftlinge aus dem KZ Börgermoor - aber spätestens 1939 mit der Kapitulation von Madrid und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ist eine Niederlage der Linken - der Bürgerlichen wie der Arbeiterbewegung - von historischem Ausmaß besiegelt; mit Verbrechen und Katastrophen, die die Menschheit zuvor so noch nicht gekannt hatte. Der deutsche Faschismus stellt in den folgenden Jahren alles in den Schatten, was es je zuvor an Grausamkeit in der Geschichte gegeben hat.

Aber es ist nicht etwa so, dass während der Nazizeit nicht gesungen oder keine Musik gespielt wurde. Im Gegenteil: Von morgens bis abends - vor allem deutsche Volksmusik und gar nicht mal so viele direkt faschistische Songs. Auch Lieder der Deutschen Jugendbewegung, des Wandervogel oder auch das ein oder andere, nur leicht umgetextete Arbeiterlied. Und: Deutschland war nicht nur "der Ort, an dem es möglich gewesen war, dass es KZ-Kommandanten gab, die wunderbare Bach-Konzerte spielen konnten."[16] Es ist z.B. auch mündlich überliefert, dass Angehörige der Waffen-SS regelmäßig nach ihren Erschießungskommandos gern ein altes Volkslied gesungen haben: "Es dunkelt schon in der Heide / nach Hause lasst uns geh'n / wir haben das Korn geschnitten / mit unserem blanken Schwert." - 6 Millionen ermordete Juden, 25 Millionen Tote allein in der Sowjetunion.

Nach 1945 waren dann sämtliche deutschsprachigen Lieder, welcher Art auch immer - ob Arbeiterlied oder hergebrachtes Volkslied - zunächst nicht mehr singbar. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der "adornitischen Schweigezeit", benannt nach dem Theoretiker der Frankfurter Schule, der in den 1950ern gegen die Apologeten einer reaktionären "Jugendmusik" gesagt hat: "Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei."[17]


Das Neue politische Lied

Es wurde trotzdem - die Geschichte ging ja weiter - schon bald wieder gesungen. Im Westen Deutschlands blühte bald der Wirtschaftswunder-Nachkriegsschlager von Freddy, Peter und Conny - "Brennend heißer Wüstensand" und "Zwei kleine Italiener" -, etwas später auch geschmettert vom heute wieder so angesagten blonden Heino mit der dunklen Brille.

In der DDR war das anders. Das überlieferte politische Lied spielte dort im Alltag eine nicht unbedeutende Rolle: in der Schule, der Partei, den Jugendorganisationen, nicht zuletzt bei den öffentlichen Demonstrationen und Festveranstaltungen, die hier keinen protestierenden Charakter hatten, wurde es gesungen. Die Werke der sozialistischen und kommunistischen Emigranten wie Brecht, Becher oder Eisler waren in der DDR lebendig und wurden von offizieller Seite als kulturelles Erbe gepflegt. Das Wirken der so genannten Singebewegung, die in der DDR in den 1960ern entstand, die Biermann-Ausbürgerung und auch die später aus der Singebewegung hervorgegangen dissidenten Sänger und Sängerinnen wie z.B. Bettina Wegner oder Stephan Krawczyk, auch die DDR-Punkrockszene, verdienten sicherlich ein eigenes, umfangreiches Kapitel, das hier aber nicht geschrieben werden kann, weil erstens der Raum dazu fehlt und zweitens ich davon zu wenig Ahnung habe.[18]

Das politische Lied in den 40 Jahren des Bestehens der DDR stellt aber auch eine territorial abgegrenzte und historisch abgeschlossene Sonderperiode für das Genre dar. Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte wurde das protestierende, obrigkeitsferne und zumindest tendenziell zum Sturz des Bestehenden aufrufende politische Lied an einen Staat und seine Institutionen gekoppelt. Dies mit allen Abhängigkeiten, Instrumentalisierungen und Schikanen innerhalb der Kulturkämpfe des Kalten Krieges wie der späteren Entspannungspolitik, während sich gleichzeitig eine eigene, oppositionelle Kultur innerhalb des Staatswesens des realen Sozialismus entwickelte. Es bedürfte also wirklich einer ganz eigenständigen Abhandlung.

In der BRD entstanden ab Ende der 1950er mit den ersten Ansätzen einer außerparlamentarischen Bewegung, gegen Wiederbewaffnung, Atombombe und NATO-Beitritt auch wieder neue politische Lieder, und zwar aus dem Umfeld der damals bereits verbotenen KPD. Dieter Süverkrüp, Fasia Jansen und Gerd Semmer sind hier zu nennen und natürlich der Song "Unser Marsch ist eine gute Sache" von Hannes Stütz.

Durch den folgenden Aufschwung der Linken in der APO-Zeit wurde die adornitische Schweigeperiode endgültig beendet und es wurden neue Ansätze einer linken politischen Vokalmusik entwickelt. Einen richtigen Durchbruch fürs politische Lied in der BRD stellten dabei die ab 1964 ausgerichteten Open-Air-Festivals Chanson Folklore International auf der Burg Waldeck dar - dem Heimatplaneten der politischen Liedermacherei der BRD: Degenhardt, Moßmann, Hüsch, Süverkrüp, Wader - sie alle hatten ihre frühen Auftritte auf der Burg Waldeck.

1967 radikalisierte sich die Bewegung - auch die Lieder auf der Waldeck -, und als sich die Szene dort während des letzten Festivals 1968 überhitzte, sich spaltete und es zum Eklat kam mit dem berühmten Spruch: "Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert", explodierte der Heimatplanet. Nicht aber das politische Lied. Im Gegenteil: Es bekam in der Folgezeit sogar einen erstaunlichen Publikums-Zulauf und färbte dabei ab auf angrenzende Genres: Folk und Rockmusik mit stark politischen Texten von Floh de Cologne bis Ton Steine Scherben, die Schmetterlinge bis Lokomotive Kreuzberg. Auch die Punkbewegung von Ende der 1970er/Anfang der 1980er entwickelte eine bisweilen sehr radikale, aber eher bürgerlich-anarchistische, also klassenindifferente Sprache.

Mit dem Ende der linken Vorwärtsepoche erreichte das politische Lied Anfang der 1980er in Deutschland dann kurzzeitig sogar ein so weder vorher noch danach je dagewesenes Massenpublikum, mit entsprechender Resonanz auch in den bürgerlichen Medien. Die neoliberale Wende, die hierzulande u.a. mit dem NATO-Doppelbeschluss eingeläutet wurde, brachte ein breites, außerparlamentarisches Bündnis - von autonomen Gruppen bis zu bürgerlichen Christen - dagegen auf die Straße. Bei den großen Künstler-für-den-Frieden-Konzerten z.B. in der Dortmunder Westfalenhalle oder dem Bochumer Ruhrstadion sowie den beiden großen Demonstrationen im Bonner Hofgarten von 1981 und 1982 traten vor mehreren hunderttausend Zuschauern neben etablierten Popstars wie Udo Lindenberg oder Peter Maffay, Vertretern der bürgerlichen Hochkultur von Heinrich Böll bis Joseph Beuys und internationalen Stars wie Harry Belafonte oder Joan Baez eben auch Liedermacher mit einem dezidierten Klassenstandpunkt auf - wie Wader, Degenhardt oder Süverkrüp.

Es handelte sich dabei aber, gerade in Bezug auf die potentielle Größe des Publikums, um eine historische Ausnahmesituation für's politische Lied, welche auch vor dem Hintergrund der Existenz eines sozialistischen Machtblocks und der damit zusammenhängenden Bedeutung der Kommunistischen Partei für die damaligen Auseinandersetzungen, trotz geringer Mitgliederzahlen, zu erklären ist.[19] Der Preis, der für die vielbeschworene "Bündnisfähigkeit" in ästhetischer wie politischer Hinsicht zu zahlen war, ist ebenso bemerkenswert: Die dominierenden linksbürgerlichen Kräfte der Bewegung hielten - entgegen der historischen Erfahrung - den Imperialismus grundsätzlich für friedensfähig und die Versöhnung von Kapital und Arbeit für machbar. Dass sich das engagierte Lied also gerade zur Zeit seiner kurzzeitigen Hochkonjunktur, zu Beginn der 1980er, im Sog der Friedens- und der Neuen Sozialen Bewegungen zu entpolitisieren begann, kann nicht ganz überraschen. Im Song "Lullaby zwischen den Kriegen" von 1982 hat Franz Josef Degenhardt diese kurze Phase ironisch wie treffend verdichtet: "Die Unterschriftsliste ist sicher schon voll / dann treibt es Herr Reagan nicht mehr so toll."[20]


Nach der Niederlage

Die weltweite politische Niederlage der Linken von 1989/1991 bewirkte schließlich den Verlust dieser zeitweiligen, fast kulturell hegemonialen Stellung des linken politischen Lieds - ja, sogar beinahe das völlige Verschwinden linker Positionen in der Ästhetik überhaupt. Die soziale Frage wird in der zeitgenössischen Vokal-Musik seitdem nicht mehr klassenkämpferisch, sondern bestenfalls durch Randgruppenpolitik angegangen. Dies gilt bis heute. Trotz der im Jahr 2007 ausgebrochenen großen kapitalistischen System-Krise, die immer mehr von den sozialen Errungenschaften der "goldenen Nachkriegsjahre" auch hierzulande abräumt und die riesige Bevölkerungsteile Südeuropas längst an den Rand des sozialen Abgrunds - bisweilen weit darüber hinaus - gestoßen hat.

Linke politische Liedermacher gibt es nur noch in wenigen geschützten Reservaten. Dort haben sie zumeist wenig Öffentlichkeit - ohne jede Zensur durch Privatradio- und Fernsehen -, eben weil der notwendige Resonanzboden einer auch nur in Ansätzen vorhandenen außerparlamentarischen Bewegung fehlt. Die früher noch politische Pop- und Rockmusik behauptet heute nicht einmal mehr Dissidenz zu irgendetwas, beschränkt sich auf Tierschutz, Konsumkritik und Urheberrechts-Gegnerschaft im Internet.

Die zeitgenössische deutschsprachige Vokalmusik ist längst wieder da angekommen, wo die Burg-Waldeck-Festivals Anfang der 1960er mal - ex negativo - ihren Ausgangspunkt genommen haben: im Schlagerparadies.

Es ist, gerade im Rückspiegel von heute aus gesehen, unverkennbar, dass wir erneut in einer jener Nachmärzzeiten nach politischen Niederlagen der Linken leben - und dies nun schon seit einem Vierteljahrhundert. Dabei entsteht der Eindruck, dass viele die Niederlage noch immer nicht als eine solche begriffen haben oder - aus welchen Gründen auch immer - ihr Ausmaß jedenfalls nicht wahrhaben wollen: Das frühere "Wir" der Gemeinschaft aus bürgerlichen Kriegsgegnern und Antifaschisten, studentischer Linken und gewerkschaftlicher Arbeiterbewegung wurde Stück für Stück ersetzt durch das heute verbindliche "Wir" einer "westlichen Wertegemeinschaft", das sich auf zivilisatorische Errungenschaften wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung und parlamentarische Demokratie beruft, die barbarischen Kollateralschäden von Hiroshima über Vietnam bis Abu Ghraib aber nur zu gern verschweigt. Den Müll trennen, "die Welt zu Gast bei Freunden" einladen, gleichzeitig massenhaft Flüchtlinge ausfliegen; dabei fühlen sich viele Neu- und einige Ex-Linke sogar noch als sehr anti-Establishment, wenn sie alte Vinyl-Schallplatten hören und für einen nachhaltigen Imperialismus 'with a human touch' und ausgeglichener CO2-Bilanz eintreten.


Navigation bei Nacht und Nebel

Das ist die Lage, und man muss nicht gleich mit Georg "Nostradamus"[21] Fülberth der Produktionsweise des Imperialismus noch 500 Jahre Leben bescheinigen[22], um zu erkennen, dass sie niederschmetternd ist.

Aber die Geschichte geht auch jetzt weiter - und immer noch als eine von Klassenkämpfen. Die Kräfteverhältnisse, von denen wir dabei auszugehen haben, sind mit ungünstig noch sanft beschrieben. Das Ungleichgewicht der potentiellen Waffen scheint dabei so krass wie niemals zuvor in der Geschichte.

Den Versuch unternehmen, dies trotzdem wieder zu wenden, ist natürlich in erster Linie eine politische und keine musikalisch-ästhetische Aufgabe von Linken. Damit die Übrig geblieben sich dabei aber nicht nur die schönen alten politischen Lieder aus den längst vergangenen Tagen vorsingen, könnte man zur Abwechslung auch mal wieder über den nationalen Tellerrand schauen.

Um in den 1960ern die legendären Festivals Chanson International zu veranstalten, musste damals erst wieder eine deutsche Sprache für zeitgenössische Lieder gefunden werden. Auf der Burg Waldeck wurde Theodorakis gesungen, Phil Ochs und Odetta spielten sogar live auf der Burg. Viele deutsche Liedermacher machten Umwege über internationale Adaptionen, aus denen sie ihre jeweils eigenen Richtungen entwickelten.

Heute brennt die Welt an fast allen Ecken und Enden, nur in Deutschland ist so gut wie nichts los auf den Straßen. Es wäre spannend zu hören, was die Kolleginnen und Kollegen in der Türkei, in Portugal, in Spanien, in Brasilien so machen, wo und was sie singen in den Straßen und auf den besetzten Plätzen. Welche Art von Liedern begleiten die gegenwärtigen Kämpfe, die Streiks und Demonstrationen von Santiago de Chile bis Dublin? Ein internationaler Austausch könnte wichtige Perspektiven für uns hier aufzeigen, Solidarität herstellen und vielleicht einen Lernprozess initiieren.

Eine Schwierigkeit dabei wird sicherlich bleiben, dass das politische und auch das poetische Vokabular in linken Zusammenhängen in schwere Unordnung geraten sind. Nicht nur, dass "einen Teil unserer Wörter der Feind bis zur Unkenntlichkeit" verdreht hat[23], wie Brecht dies schon in einem seiner Svendborger Gedichte in den 1930er Jahren auf den Punkt brachte. Auch bekannte, mitunter bewährte ästhetische Mittel - Metaphern, Stilmittel, Ausdrucksformen, poetische Tricks usw. - taugen in dem Moment nicht mehr, wo die Sender-Kodierung und der Empfängerhorizont zu weit auseinandergedriftet sind. Es ist ja so, dass viele der übrig gebliebenen Linken von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und historischen Sichtweisen auf die Epoche ausgehen, die von jüngeren Generationen wie mit einer dichten, kaum durchdringbaren Nebelwand geschieden sind. Das darf man selbstverständlich nicht auf sich beruhen lassen. Es wird aber schwer werden, und es muss viel daran gearbeitet werden, diesen Nebel zu lichten.

In den Künsten, die diese Bemühungen begleiten - so auch beim politischen Lied - geht es dabei mal wieder um nicht mehr und nicht weniger als die guten, alten Schwierigkeiten mit dem Realismus; nicht als Formsache, sondern als grundsätzliche ästhetische Methode.

Daran gilt es weiter zu arbeiten. Was denn sonst?!


Kai Degenhardt
- Hamburg, Musiker


Anmerkungen:

[1] Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Erster und zweiter Theil, Leipzig 1778 und 1779, später berühmt unter dem Titel "Stimmen der Völker in Liedern".

[2] Wolfgang Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters, 2 Bde. Berlin 1955 und 1962. Die hier verarbeiteten Informationen zur Geschichte des politischen Liedes sind allergrößtenteils diesem Werk entnommen.

[3] Z.B. Schmetterlinge, Proletenpassion (1977), 2 CDs (Membran/Sony).

[4] Vgl. hierzu ausführlich: Thomas Quasthoff, Ach hört mit Furcht und Grauen, Berlin 2007, S. 28 ff.

[5] Wolfgang Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten (Gekürzte Ausgabe), West-Berlin 1978, S. 45.

[6] Walter Moßmann/Peter Schleunig, Alte und neue politische Lieder, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 121ff., 162.

[7] Z.B. auf: Zupfgeigenhansel, Volkslieder II, CD (Polk/Pool Music).

[8] Z.B. auf: Diverse, Die Gedanken Sind Frei. One Song, CD (Hörwerk/Buschfunk).

[9] Z.B. auf: Dieter Süverkrüp, 1848, Lieder der Deutschen Revolution, CD (Conträr/Indigo).

[10] Z.B. auf: ewo², Avantipopolo 2, CD (Jump Up/plattenbau).

[11] Z.B. auf: Dieter Süverkrüp, a.a.O.

[12] Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel "Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen", in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 404.

[13] Z.B. auf: Hannes Wader, Singt Arbeiterlieder, CD (Mercury/Universal)

[14] Z.B. auf: ewo², a.a.O.

[15] Karl Adamek, Lieder der Arbeiterbewegung, Frankfurt/M. 1981, S. 98

[16] Rolf Clemens Wagner, "Wir wollten den revolutionären Prozess weitertreiben" (Interview), in: junge Welt vom 18.10.2007, S. 8.

[17] Theodor W. Adorno, Kritik des Musikanten, in: Ders., Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, S. 75.

[18] Ausführlicher dazu z.B.: Holger Böning, Der Traum von einer Sache, Bremen 2004, S. 185 ff.

[19] David Salomon, Repolitisierung der Kunst? In: Z96 (Dezember 2013). S. 75.

[20] Franz Josef Degenhardt, Lullaby zwischen den Kriegen, CD (Polydor/Universal)

[21] So Peter Hacks scherzhaft in seiner Replik: Georg Nostradamus oder Professor Fülberths Vorhersage, in: Ders.: Am Ende verstehen sie es, Berlin 2005, S. 53 ff.

[22] Georg Fülberth, Kurze Sprünge, in: konkret (4/2000)

[23] Bertolt Brecht, An den Schwankenden, in: Die Gedichte, Frankfurt/M. 1981, S. 678.

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 97, März 2014, Seite 66 - 78
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2014