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REZENSION/023: "Which Way Home" - Minderjährige Migranten auf dem Weg in die USA (SB)


Phoenix zeigt Oscar-nominierten Dokumentarfilm in Erstausstrahlung


In seinem Oster-Sonderprogramm bietet Phoenix mit herausragenden Erstausstrahlungen und Thementagen eine attraktive Alternative für Zuschauer an, die am Fernsehen nicht nur dessen Unterhaltungswert, sondern darüber hinaus auch Wissenswertes und Anregendes schätzen. Der Ereignis- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF zeigt in diesem Rahmen in deutscher Erstausstrahlung den 2010 mit einem Emmy Award ausgezeichneten und im selben Jahr für den Oscar nominierten Dokumentarfilm "Which Way Home" von Rebecca Cammisa. Er erzählt aus der Sicht Minderjähriger von den Strapazen der gefahrvollen Reise aus Ländern Mittelamerikas über Tausende Kilometer nach Norden, wo sie das gelobte Land USA zu erreichen hoffen.

Welcher Weg sie nach Hause führt, wissen sie nicht. Manche befinden sich auf der Suche nach ihren Eltern, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben, weil sich diese lange vor ihnen in die Vereinigten Staaten durchgeschlagen haben. Andere lassen ihre Heimat zurück, wenn sie losgeschickt werden oder ausreißen, um im Norden ein besseres Leben zu führen und ihre Familie zu unterstützen. Wieder andere kennen ihre Eltern nicht und haben auf der Straße gelebt, bis sie den Entschluß faßten, sich dem großen Zug nach Norden anzuschließen. Zu Hause ist für sie ein Ort, dessen sie sich nicht gewiß sind, weil er im Zuge der Migration einen höchst zwiespältigen Charakter angenommen hat.

Einige bekommen Heimweh und sind geradezu erleichtert, wenn sie von den Behörden gefaßt und zurückgeschickt werden. Viele sind verzweifelt, wenn sie nach Wochen oder Monaten täglichen Überlebenskampfs mehr oder minder kurz vor dem Ziel aufgegriffen, in Sammellager eingesperrt und schließlich deportiert werden. Manche schaffen es in die USA und kommen bei Angehörigen unter. Nicht wenige sterben in der Wüste und kehren in Särgen zurück, sofern man ihre Leichen findet und identifiziert.

Mit spärlichster Ausrüstung, mittellos und allenfalls einem vagen Plan treten sie eine Reise an, die gefährlich zu nennen noch untertrieben ist. Olga und Freddy, beide neun Jahr alt, die auf dem Weg zu ihrer Mutter nach Minnesota sind, die sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen haben, wirken so klein und zerbrechlich, daß ihr Überleben wie ein Wunder anmutet. Wohl finden sich auf diesen Routen Menschen, die den Flüchtlingen Essen, Trinken und eine provisorische Unterkunft anbieten oder sie beraten, soweit das unter diesen Umständen möglich ist. Weit größer ist jedoch die Zahl der Feinde und Risiken, die hinter jeder Wegbiegung lauern.

Der 14jährige Kenny, von seiner Mutter in Honduras weggeschickt, um in New York sein Glück zu machen und der Familie Geld zum Überleben zu schicken, erzählt, warum sie den Güterzug, auf dessen Dach sie reisen, "die Bestie" nennen: Wer einschläft, droht herunterzufallen und von den Rädern zermalmt zu werden. Das einzige Transportmittel, mit dem sie die gewaltige Strecke bewältigen können, ist zugleich ein tödlicher Feind. Gleiches gilt im Grunde für jeden Fremden, der ihnen seine Hilfe in Aussicht stellt. Mitunter sind Schlepper die einzige Option, doch jeder warnt, daß man ihnen nicht trauen kann.

Vielleicht wurden Eloy und Rosario, die in der Wüste starben, von einem dieser "Kojoten" im Stich gelassen. Einige Kinder berichten, wie sie unterwegs um ein Haar zu Tode gekommen wären, andere deuten die Untaten an, die sie mit ansehen mußten. Vielerorts haben sich Überfälle auf Migranten zu einem einträglichen Erwerbszweig entwickelt, Banden machen mit ihrem erpresserischen Geschäft ähnliche Umsätze wie mit Drogen. Kinder werden nicht selten versklavt oder umgebracht, wenn ihre Angehörigen kein Geld überweisen können, viele verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

Wenn demgegenüber Grenzpolizisten, Konsulatsbedienstete oder Lagerverwalter beinahe wie Retter auftreten, in deren Händen die Kinder endlich sicher sind, so ist dieser Eindruck nicht zuletzt dem betont freundlichen und verständnisvollen Ton vor laufender Kamera geschuldet. Was sich dahinter verbirgt, wird durchaus angedeutet, wenn Kenny berichtet, daß er bis zu seiner Rückführung eingesperrt sei.

Unter den Millionen Flüchtlingen, die aus Guatemala, Honduras oder El Salvador kommend Mexiko durchqueren, wo der unablässige Strom der Migration weiter anschwillt, versuchen jedes Jahr rund hunderttausend Kinder die USA zu erreichen. Wie der Dokumentarfilm eindrücklich nahebringt, mischen sich kindliche Hoffnungen und Ängste mit der Notwendigkeit, weit über das erreichte Lebensalter hinaus Mut und Stärke zu entwickeln oder wenigstens vorzutäuschen, um zu überleben.

Der Film folgt einigen dieser Kinder auf Etappen ihrer Fahrt nach Norden und kehrt mit ihnen an ihren Herkunftsort zurück. Er gibt ihnen soweit ein Gesicht, das es dem Zuschauer möglich sein sollte, der Gleichgültigkeit gegenüber dem von bloßen Zahlen und trockenen Fakten nicht zu erfassenden Schicksal von Millionen Migranten Anteilnahme und erwachendes Interesse entgegenzusetzen. Die Dokumentation richtet sich an ein Publikum, das sich bislang wenig oder gar nicht mit dem Flüchtlingsstrom in Richtung USA befaßt hat. Vor allem beschreibend und eher andeutend als konfrontierend läßt sie dem Betrachter Raum, sich eingehender mit der Thematik zu befassen und sich von dem Gesehenen nicht nur berühren zu lassen, sondern Stellung zu beziehen.

Dies mag dazu führen, sich mit den im Film ausgesparten politischen Hintergründen, der administrativen Verfügung und dem größeren Zusammenhang weltweiter Armutsmigration zu befassen. Dabei stößt man auf ein Abschottungs- und Abschreckungsregime der USA, die ihre Südgrenze verriegeln, eingewanderte "Illegale" verfolgen und aufgegriffene Flüchtlinge einsperren, kriminalisieren und deportieren. Die aktive Migrationsabwehr wird in zunehmendem Maße nach Mexiko vorverlagert, wo sich die anbrandende Not aufstaut und entufernde soziale Verwerfungen hervorruft. Staatliche Sicherheitskräfte, die Flüchtlinge ausrauben, inhaftieren und abschieben auf der einen und Verbrecherbanden oder lokale Profiteure auf der anderen Seite wirken wie zwei Mühlsteine zusammen, zwischen denen die Migranten zerquetscht werden. Um die Hungerrevolte von den eigenen Fleischtöpfen fernzuhalten, ist jede Grausamkeit recht, die Flüchtlinge auf legale oder illegale Weise drangsaliert und dezimiert - was sich natürlich auch auf europäische Verhältnisse übertragen läßt.


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"Which Way Home"
Ein Film von Rebecca Cammisa
Deutsche Erstausstrahlung
Dienstag, 19. April, 22.15 Uhr

5. April 2011