Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → REPORT


INTERVIEW/010: Europas Auge - Qualität für jedermann ...    Bernd Mütter im Gespräch (SB)


arte zwischen Marktorientierung und Kulturauftrag

Interview am 5. Februar 2016 in Hamburg


Bernd Mütter ist als Stellvertretender Programmdirektor des französisch-deutschen Kulturkanals arte maßgeblich an der Gestaltung und Strukturierung dessen Angebotes beteiligt. Darüber hinaus ist er als Hauptabteilungsleiter Programmplanung TV/Web mit der Digitalstrategie des Senders befaßt. Vor seiner Laufbahn bei arte war der Historiker als Autor in der Redaktion Zeitgeschichte des ZDF und Chef vom Dienst des Geschichtsmagazins "ZDF-History" tätig. Auf der arte-Jahrespressekonferenz in Hamburg beantwortete Bernd Mütter dem Schattenblick einige Fragen zu den Angeboten des Senders.


Vor arte-Logo - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bernd Mütter
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Herr Mütter, inhaltliche Entscheidungen sind nicht zuletzt aufgrund ihrer Auswirkung auf gesellschaftliche Debatten von zentraler Bedeutung für einen Sender. Wer entscheidet bei arte letztinstanzlich über die redaktionelle Linie und Programmgestaltung?

Bernd Mütter (BM): Wir haben bei arte ein System der Programmkonferenz, das in seiner Art einzigartig ist. Dort sitzen jeweils zwei Vertreter von ARTE Deutschland und ARTE France sowie vier Vertreter von der Zentrale in Straßburg. Unter letzteren sind zwei Deutsche und zwei Franzosen, so daß die ganze Konferenz am Ende aus acht stimmberechtigten Mitgliedern gebildet wird. Darüber hinaus haben wir assoziierte Mitglieder, die auch an den Programmkonferenzen teilnehmen und mitdiskutieren, aber kein Stimmrecht haben. Diese europäischen Partner sind ORF, das tschechische, belgische, schweizerische und finnische Fernsehen sowie das polnische Fernsehen TVP, mit dem die Zusammenarbeit im Moment allerdings eingefroren ist. Die europäischen Partner, ARTE France, ARTE Deutschland und wir von der Zentrale müssen für jedes Programm, das wir einbringen wollen, einen Vorschlag vorlegen, der dann in der Programmkonferenz besprochen und diskutiert wird.

Im Regelfall führt dieser Diskussionsprozeß dazu, daß sich ein Konsens herausbildet. Eine theoretische Option wäre noch, daß darüber abgestimmt werden muß, was jedoch selten vorkommt. In dem Fall entscheidet dann die Stimmenmehrheit, wobei für eine Programmentscheidung eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist. So gesehen sind wir wahrscheinlich der einzige Fernsehkanal, der in dieser Frage vollkommen auf Schwarmintelligenz setzt.

SB: Gibt es Vorschläge oder Ideen, über die deutsch-französische Zusammenarbeit hinaus noch weitere Kooperationspartner aus anderen Staaten Europas mit in die Programmkonferenz aufzunehmen?

BM: Nicht im Sinne einer Vollmitgliedschaft, denn das deutsch-französische System funktioniert als tragendes Element sehr gut, auch deshalb, weil beide Fernsehmärkte sich mehr oder weniger auf Augenhöhe treffen. Man darf dabei auch nicht vergessen, daß jede Seite stets die umfänglichen Rechte für beide Länder einbringen muß. Mit kleinen Fernsehmärkten wie denen Tschechiens oder auch Österreichs würde das sicherlich sehr kompliziert werden. Ungeachtet dessen sind wir bei konkreten Programmenprojekten hinsichtlich der Zusammenarbeit schon ziemlich erfolgreich und auf diesem Level gegenwärtig in Europa gut unterwegs. Hinzu kommen Sprachprojekte, die wir zusammen mit der Europäischen Kommission machen, für bestimmte Programme mit englischer und spanischer Untertitelung, wobei Nachrichten rund um den Papst zudem polnisch untertitelt werden.

SB: Wie wird bei arte, der ja von vornherein ein mehrsprachiger Sender ist, mit der Frage umgegangen, ob der Filmton unverändert bleibt und lediglich mit anderssprachigen Untertiteln versehen wird, oder ob die Stimmen synchronisiert werden?

BM: Wenn wir die Originalfassung eines Films haben, wird diese auch nach Deutschland ausgestrahlt. Das heißt, auf Tonkanal eins hat man immer deutsch, auf zwei immer französisch und auf drei die Originalfassung. In Frankreich strahlen wir die Originalfassung jedoch auf Tonkanal eins und die französische Synchronisation auf Kanal drei aus. Dieses Privileg ist ein bißchen den Marktgewohnheiten geschuldet. Zwar gibt es auch in Deutschland die schöne Tradition, daß das Original mit deutschen Untertiteln im Kino gezeigt wird, aber rein quantitativ läßt sich das mit Frankreich nicht vergleichen, weil die Filmtraditionen dann doch sehr unterschiedlich sind. Wir bieten die Originalfassung auf allen Verbreitungswegen an, auf denen wir drei oder vier Tonspuren verwalten können. Allerdings sehen wir für den deutschen Markt nicht die Notwendigkeit, mit der Originalfassung auf die erste Tonspur zu gehen. Bei der heute üblichen Ausstrahlung DVB-T haben wir jedoch nur zwei Tonspuren und somit keinen Platz für die Originalfassungen.

SB: Einen Teil der bei arte ausgestrahlten Filme kann man in der Mediathek noch sieben Tage lang anschauen. Vieles taucht in der Mediathek jedoch gar nicht erst auf. Ist es zu teuer, die Filmrechte für die digitale Verbreitung zu kaufen, oder wird das an anderer Stelle verweigert?

BM: Nein. Der größte Block an Einzelproblemen ist ohnehin um die Filme aus dem Vertrieb amerikanischer Majors herumgestrickt. Das Problem haben also auch alle anderen Sender. Offenbar gibt es Verträge der Majors mit anderen Marktteilnehmern, die eben nicht erlauben, daß wir es machen. Wir bemühen uns um jedes Online-Recht und erzielten in diesem Sinne in den letzten Jahren auch große Erfolge. Mittlerweile gibt es außerhalb des Bereichs Kinofilm kaum noch Sendungen, die wir nicht wenigstens sieben Tage online stellen. Musikproduktionen, überhaupt alles, was auf arte Concert zu sehen ist, wie auch historische Dokumentationen, die noch vor fünf Jahren wegen der Archivrechte problematisch waren, stellen heute kein nennenswertes Problem mehr dar. Inzwischen haben wir fast alle historischen Dokumentationen in der Mediathek.

SB: Beim Einkauf von Filmen geht es immer auch um Budgetfragen, wenngleich arte nicht das Problem hat, große Sportereignisse senden zu müssen, die sehr viel Geld verschlingen. Wie wird gewichtet, ob man teure Filme einkauft oder für das Geld lieber mehrere Dokumentationen sendet?

BM: Arte funktioniert in gewisser Weise als Zulieferungsgemeinschaft. Entsprechend der Aufteilung unseres Programmschemas kommen 40 Prozent der Programme von ARTE France, 40 Prozent von ARTE Deutschland und 20 Prozent aus Straßburg. Auch wenn alle aktuellen Sendungen wie das ARTE Journal oder die Gespräche an den Themenabenden zu 100 Prozent nur aus Straßburg kommen können, sind wir dort nicht unbedingt immer die idealen Produzenten von Stock-Programmen oder Dokumentationen. Fernsehfilme können wir in Straßburg außerhalb der internationalen Koproduktionen gar nicht produzieren, weil wir dafür einfach nicht die Möglichkeiten haben.

Das heißt im Prinzip, daß die Entscheidung der Gruppe für ein Programmschema und darüber, wie die Programmplätze gefüllt werden, auch beinhaltet, daß alle Partner ihrer Verpflichtung gerecht werden müssen. Wir glauben, daß wir unserem Auftrag entsprechend ein sehr ausgewogenes Programmschema haben. 50 Prozent entfallen auf gesellschaftliche, kulturelle sowie historische Dokumentationen und Reportagen. Musik, Theater und andere Kulturveranstaltungen werden ebenso angeboten wie Fernsehfilme, die oft in Koproduktion mit anderen Partnern - auf deutscher Seite ARD und ZDF, in Frankreich gibt es verschiedene Partner - entstehen. Und dann haben wir noch Spielfilme und Serien. Daß der Spielfilm jetzt immer das teuerste sei, wäre zu pauschalisiert. Wir machen auch herausragende Musikevents, die vom Preis her keineswegs billig sind, aber genau in unseren Auftrag fallen. Als Zulieferungsgemeinschaft haben wir ein Stück weit auch die Freiheit, in der Programmkonferenz Inhalte, losgelöst vom ökonomischen Faktor, besprechen zu können.

SB: Vor einiger Zeit haben privatwirtschaftliche Anbieter im Printbereich Kritik an den öffentlich-rechtlichen Angeboten im Internet geübt, weil dies aufgrund der Rundfunkgebühren eine Wettbewerbsverzerrung darstelle. Wird dieser Konflikt aktuell noch ausgetragen?

BM: Im Rahmen unseres Auftrags decken wir eine große Bandbreite an Themen zu Kultur, Gesellschaft und Musik ab, aber der Auftrag selbst ist spitz formuliert. In Frankreich ist die Betrachtung dieser Frage komplett anders als in Deutschland. Dort erwartet die Öffentlichkeit von den öffentlichen Anstalten geradezu, daß sie auf dem Digitalmarkt stark aufspielen und verhindern, daß die digitale Kultur zu einer rein amerikanischen Mainstreamware wird. Als deutsch-französisches Unternehmen kann arte auf diesem Feld natürlich breiter operieren. Meiner Ansicht nach sind die öffentlich-rechtlichen Anstalten in der Nutzung des Digitalmarkts nie die Konkurrenten der Printangebote gewesen, sondern vielmehr die Digitalangebote selbst. Dabei will ich gar nicht ausschließen, daß die französische Sicht auf die digitale Kultur möglicherweise die zukunftsträchtigere ist. Man muß erst einmal die Kultur im Digitalen stark machen, und wenn die Anbieter dies erreicht haben, wächst auch der Markt insgesamt, bevor amerikanische Global Player wie Google und Apple anfangen, die europäischen Kulturmärkte zu dominieren.

SB: Sie erwähnten bei der Präsentation, daß man arte nicht den Vorwurf machen könne, ein Eliten-Programm zu sein, schon deswegen, weil es auch populäre Anteile habe, was sich in den Nutzerzahlen niederschlage. Häufig wird die Frage aufgeworfen, warum die Öffentlich-Rechtlichen überhaupt auf Quoten schauen, wenn sie ohnehin einen gesetzlichen Aufklärungs-, Kultur- und Bildungsauftrag haben. Anders gefragt: Wäre es denn verwerflich, wenn arte ein Elitenprogramm wäre?

BM: Darauf zwei klare Antworten: Ja, es wäre verwerflich, wenn arte ein reines Eliten-Programm wäre, denn es bringt nichts, Kultur und entsprechende Angebote unter eine Art Artenschutz zu stellen. Vielmehr müssen wir als Mittler die Menschen für Kultur begeistern. Wenn wir niemanden mehr erreichen, haben wir vielleicht Inhalte in die Welt hinausposaunt, die aber keiner gehört hat. An dieser Stelle hätten wir unsere Funktion verfehlt.

Für mich als jemanden, der bei arte arbeitet, ist die Reichweite und weniger der Marktanteil der wesentlich relevantere Indikator. Wenn es uns gelingt, daß jede Woche neun Millionen Deutsche für mindestens fünfzehn Minuten arte schauen, heißt das, daß sie nicht nur reinzappen, sondern sich für unser Programm interessieren. Dann erreichen wir die Menschen mit unseren Inhalten. Das ist mir persönlich viel wichtiger als der Marktanteil, der nach gesehenen Minuten gemessen wird. Natürlich freue ich mich, wenn unsere Zuschauer vier Stunden am Abend durchgehend unser Programm verfolgen. Gleichzeitig wissen wir, daß Leute, die kulturell orientiert sind, auch gerne Literatur lesen, ins Kino oder Theater gehen, überhaupt vielfältige Interessen haben. Daß diese Menschen demzufolge einen durchschnittlich geringeren Fernsehkonsum am Tag in Minuten haben als andere Gruppen der Gesellschaft, deckt sich auch mit unseren Marktuntersuchungen.

Deshalb ist die Reichweite in unseren internen Diskussionen auch viel wichtiger als der Marktanteil, der, so ehrlich muß man sein, nach außen die Währung ist, die jeder versteht. Aus diesem Grund kommunizieren wir auch unsere Marktanteile, zumal sich darüber in gewisser Weise auch Korrelationen ergeben. 2015 ist unser Marktanteil stabil geblieben, aber unsere Reichweite gewachsen. Das heißt, wir haben mehr Leute erreicht, auch wenn darunter einige waren, die uns etwas kürzer gesehen haben. Nichtsdestotrotz geht es uns vor allem darum, daß Leute sich für arte und die kulturellen Inhalte begeistern. In unserem Artesianisch sagen wir gerne: Je begeisterter sie sind, desto fidelisierter sind sie. Denn die Frage ist doch: Wie mache ich aus gelegentlichen Zuschauern treue Nutzer? Daher ist der primäre Indikator die Reichweite, und deshalb gibt es nach unserem Verständnis des Marktes auch nicht die Gefahr, daß wir aus Quoten-Gründen das Programm verflachen könnten. Denn das würde nicht funkionieren, allenfalls die treuen arte-Zuschauer etwas verschrecken.

Damit kann man kurzfristig Marktanteile nach oben pushen, aber nicht Reichweiten. Wir wollen aber viele Leute erreichen - denn das ist unser Job -, sind aber nicht zwingend und sklavisch an die gesehenen Fernsehminuten gebunden. Wenn wir andersherum irgendwann 20 Millionen Zuschauer haben, die nur eine Minute am Tag bei uns reinschalten, haben wir auch etwas falsch gemacht. Wie in allen statistischen Betrachtungen liegt die Wahrheit oft in der Mitte. Von der Grundphilosophie her ist es aber auch nicht so, daß wir ein großes Interesse daran hätten, daß die Leute den ganzen Tag nichts anderes mehr machen, als arte zu gucken.

SB: Herr Mütter, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zur arte-Jahrespressekonferenz

BERICHT/007: Europas Auge - arte im Wandel ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mreb0007.html

INTERVIEW/008: Europas Auge - Konsens, Plural und Programme ...    Anne Durupty im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mrei0008.html

INTERVIEW/009: Europas Auge - Ein kultureller Seiltanz ...    Peter Boudgoust im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mrei0009.html

18. Februar 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang