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HNO/232: Seltenes Chondrosarkom - Komplizierte Operation rettet Vierjährigem Augenlicht und Leben (idw)


Universitätsklinikum Tübingen - 17.10.2012

Seltenes Chondrosarkom - Komplizierte Operation rettet Vierjährigem Augenlicht und Leben



Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert, Ärztlicher Direktor der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Tübingen hat mit seinem Team erstmals ein hochdifferenziertes Chondrosarkom, d.h. einen außerordentlich seltenen, bösartigen Knorpelgewebstumor mitten im Gesicht eines Kindes operiert. Der Junge ist ein Jahr nach dem Eingriff tumorfrei bei äußerlich kaum erkennbaren Operationsfolgen. Prof. Reinert: "Nach unserem Kenntnisstand handelt es sich bei dem Fall um eine Rarität und den ersten chirurgischen Eingriff in dieser Ausdehnung bei einem Kleinkind. Zwei Augenhöhlenwände wurden von uns mit einem individuell angepassten Titangitter rekonstruiert."

Der vierjährige Leo kam vor einem Jahr in die Augenklinik des Tübinger Uniklinikums. Seiner Mutter war aufgefallen, dass seit etwa einer Woche der linke Augapfel hervortrat. Nach dem ersten Befund wurde das Kind in die Ambulanz der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie überwiesen. Radiologisch zeigte sich auf den Bildern einer Kernspin- und Computertomografie deutlich ein großer Tumor, der bereits die gesamte linke Nasenhaupthöhle bis zur Schädelbasis und die anliegenden Augenhöhlenwände zerstört hatte und unbehandelt zum Tode geführt hätte.

Eine Gewebeprobe durch die Nase untermauerte den Verdacht auf einen bösartigen, knorpeligen Bindegewebstumor. Eindeutig konnte die Diagnose aber erst nach der Begutachtung durch Referenzpathologen in Kiel und Basel gestellt werden, die die schwierige mikroskopische Abgrenzung der Präparate von einem zunächst ebenfalls denkbaren, jedoch gutartigen Chondrom unterstützten.

Chondrosarkome sind, wie alle primären Knochenkrebse, eine Seltenheit unter den bösartigen Neubildungen des Gesichtsbereichs. Am häufigsten treten Neuerkrankungen im Alter von über 60 Jahren auf. Bei Kindern kommen hochdifferenzierte Chondrosarkome so gut wie nie vor. Sie stellen eine pathologisch differentialdiagnostische Herausforderung dar, d.h. sie sind außerordentlich schwer zu diagnostizieren.

Da der Tumor drohte, den Sehnerv zu zerstören und rasch wuchs, wurde Leo nach einer Gesamtschau der klinischen, histopathologischen und radiologischen Befunde wenige Tage später operiert. Die über vierstündige Operation erfolgte über ein so genanntes Midfacial degloving. Dabei wird mit einem verdeckten Schnitt vom Mund aus durch die Nasenhaupthöhle der Nasenschlauch geöffnet und ein Knochenstück im Bereich der Kieferhöhlenvorderwand ausgesägt. Ohne äußerlich sichtbare Narben zu hinterlassen, konnte der etwa 5 cm große Tumor durch diese Öffnung in Stücken entfernt, die frei liegende Hirnhaut mit einem Muskelpatch abgedeckt und die Augenhöhlenwände - die großflächig aufgelöst waren - mit einem semiindividualisierten Titangitter rekonstruiert werden. Das Titangitter musste exakt angepasst werden, um das Volumen der Augenhöhle korrekt zu rekonstruieren, damit das Auge nicht nach hinten absinkt, der Augapfel darüber hinaus jedoch frei beweglich bleibt.

Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung und fehlender

Behandlungsrichtlinien erforderte die Planung und Durchführung der Therapie eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit wie sie nur an einem großen Universitätsklinikum mit allen Experten möglich ist. Knapp ein Jahr nach der Operation kann das Ergebnis als ästhetisch und funktionell sehr gut bezeichnet werden. Der kleine Junge ist tumorfrei, bedarf aber weiterhin engmaschiger und langfristiger Nachsorge.

In der Literatur finden sich 5-Jahres-Überlebensraten zwischen 71 und 93 % für klassische, hochdifferenzierte Chondrosarkome. Aufgrund der Tumorgröße und -lokalisation sowie des jungen Alters des Patienten, lässt dies jedoch nur begrenzte Rückschlüsse auf den zu erwartenden Krankheitsverlauf zu. Da teils von sehr spät auftretenden Rezidiven (Rückfällen) berichtet wird, ist eine langfristige Nachsorge besonders wichtig. Auch der Einfluss der ausgedehnten Resektion auf das Gesichtsschädelwachstum eines Kindes lässt sich bisher nicht absehen und bedarf einer regelmäßigen Überprüfung.

Dr. Jens Peters, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Tübingen, wurde für den Fallbericht und die Literaturübersicht auf der 62. Jahrestagung der Arbeitgemeinschaft für Kieferchirurgie mit einem Tagungspreis ausgezeichnet.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution82

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universitätsklinikum Tübingen, Dr. Ellen Katz, 17.10.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2012