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ONKOLOGIE/1119: Die Entdeckung des 'Todesrezeptors' auf Krebszellen - 25 Jahre Umwege (einblick - DKFZ)


"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Ausgabe 2/2010

25 Jahre Umwege

Von Peter Krammer & Mario Fix


1987 entdeckte Professor Peter Krammer am Deutschen Krebsforschungszentrum den so genannten Todesrezeptor auf der Oberhe von Krebszellen. Jetzt, fast 25 Jahre nach dieser Entdeckung, steht ein Wirkstoff zur Verfügung, mit dem Krebspatienten behandelt werden können - allerdings anders, als bei der Entdeckung des Todesrezeptors ursprünglich gedacht. Peter Krammer wagt im "einblick" einen Blick zurück auf ein Vierteljahrhundert und auf die vielen Schritte, die er auf dem Weg vom Labor in die Klinik gegangen ist.


Anfang der 1980er Jahre hatten wir eine Idee, wie man das Wachstum von Tumorzellen bremsen könnte. Es gab damals Hinweise darauf, dass sich Tumorzellen mit bestimmten Signalstoffen selbst zum Wachsen anregen. Diese Selbststimulation wollten wir unterbrechen: mit Antikörpern, also Lenkwaffen des Immunsystems, die gezielt diese Signalstoffe abfangen. Den passenden Antikörper allerdings zu finden, war wie die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Wir experimentierten viele Jahre lang; in immer neuen Versuchen stellten wir über 25.000 verschiedene Antikörper her, in der Hoffnung, eine dieser Lenkwaffen würde das Wachstum der Tumorzellen bremsen. Ohne Erfolg. Als sich langsam ein Gefühl von Verzweiflung breitmachte, fasste ich einen schweren Entschluss. Wir würden an dieser Stelle noch ein letztes Experiment machen; wenn dabei wieder nichts herauskäme, würden wir das Projekt aufgeben müssen. Noch einmal starteten wir einen Versuch: 20 Zellkultur-Platten mit jeweils 96 Tumorproben, jede mit einem anderen Antikörper behandelt. Und endlich: In einem einzigen der fast 2000 winzigen Löcher in unseren Zellkultur-Platten hatte sich etwas getan. Etwas, das die nächsten 25 Jahre unserer Arbeit bestimmen sollte. Denn wir haben bei diesem Experiment mehr entdeckt als eine Wachstumsbremse für Krebszellen. Dieses letzte verzweifelte Experiment war die Geburtsstunde des so genannten Todesrezeptors.


"Papa, der Tumor ist weg!"

Die Krebszellen in dieser einen Probe hatten nämlich nicht nur das Wachstum eingestellt - sie waren abgestorben. Offensichtlich hatten wir mit unseren Lenkwaffen einen Schalter auf den Tumorzellen erreicht, über den man die Zellen in den Untergang treiben kann. Dieser Schalter - ein Protein auf der Zelloberhe - wurde kurz darauf als der "Todesrezeptor" berühmt. Er kann einen Prozess auslösen, den man Apoptose nennt: die programmierte Selbstzerstörung der Zelle. Wir konnten also über einen molekularen Schalter Krebszellen abtöten. Natürlich war der Gedanke naheliegend, mit unseren Lenkwaffen Tumoren zu behandeln. Dass das prinzipiell möglich ist, konnten wir auch bald zeigen. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Ich hatte an einem Karfreitag krebskranke Mäuse mit dem Antikörper behandelt. Die Mäuse hatten zu diesem Zeitpunkt sehr große Tumoren entwickelt. Am Ostermontag darauf ging ich ins Labor, um einen Blick auf die Tiere zu werfen. Ich hatte meinen damals neun Jahre alten Sohn mit dabei, der mir neugierig bei der Arbeit über die Schulter blickte. Als er sah, wie ich die Mäuse aus dem Käfig nahm, sagte er sofort zu mir: "Papa, der Tumor ist weg!" Ein Heureka-Erlebnis. Dieses Experiment hat uns zum ersten Mal gezeigt, dass man Krebs tatsächlich heilen kann, wenn man gezielt das natürliche Selbstmord-Programm der Tumorzellen anschaltet.

Nachdem wir diese Ergebnisse veröffentlicht hatten, erreichten uns viele Briefe von Krebspatienten oder deren Angehörigen, die den Antikörper direkt zur Krebsbehandlung einsetzen wollten. Auch wir waren voller Hoffnung, dass wir eines Tages aus dieser Entdeckung ein Krebsmedikament würden entwickeln können. Aber wir waren vorsichtig genug, zu sagen, dass wir dieses System erst besser verstehen müssen. Das bestätigte sich sehr bald und unsere erste Euphorie wurde schnell gebremst, als in weiteren Experimenten klar wurde: Der Antikörper ist ab einer bestimmten Dosis giftig. Er treibt nicht nur Krebszellen in den Tod, sondern auch gesunde. Wir wussten zwar, dass der Todesrezeptor auch auf gesunden Zellen zu finden ist; dennoch hatten wir gehofft, mit unseren Lenkwaffen vor allem die Krebszellen zu erreichen. Wir hatten einen Affen mit dem Antikörper behandelt und das Tier hatte die Behandlung zunächst gut vertragen. Das ließ uns hoffen, dass nur Tumoren auf den Antikörper reagieren. Doch als wir die Dosis steigerten, starb das Tier. Das war ein tragischer Moment. Unsere ursprüngliche Hoffnung war damit erst einmal zerstört.


Wissenschaft braucht Visionen

Ich habe immer daran geglaubt, dass unsere Entdeckung es eines Tages ermöglichen würde, kranken Menschen zu helfen. Zum Glück war ich auch immer stur genug, an dieser Vision festzuhalten. Wir mussten nur einige Umwege gehen, um ans Ziel zu gelangen. Diese Umwege haben fast 20 Jahre gedauert. Aber Umwege erhöhen bekanntlich die Ortskenntnis - das ist in der Wissenschaft nicht anders.

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass wir Krebs nicht einfach behandeln können, indem wir den Todesrezeptor auf den Tumorzellen aktivieren, hatten wir die Idee, den Spieß umzudrehen - also den programmierten Zelltod zu verhindern, dort wo er schädlich ist, zum Beispiel, wenn der Körper transplantierte Organe abstößt. Statt den Todesrezeptor zu aktivieren, galt es jetzt, seine Aktivierung zu verhindern. Die Idee war folgende: Die Signalstoffe, die an den Todesrezeptor binden und so das Selbstmordprogramm der Zelle anwerfen, dürften ihr Ziel nicht erreichen. Man müsste sie abfangen, noch bevor sie an den Rezeptor andocken. Der "Abfangjäger", den wir uns dafür zusammenbastelten, war eine frei umherschwimmende Variante des Todesrezeptors, die ihrem großen Bruder auf der Zelloberfläche quasi die Signalstoffe vor der Nase wegschnappt. Die Überraschung: Dieser Abfangjäger ist heute - entgegen der ursprünglichen Idee - auf dem besten Weg, auch als Krebsmedikament zum Einsatz zu kommen. Wie kam es dazu? Ende der 1990er Jahre beschlossen mein Kollege Henning Walczak und ich, gemeinsam mit dem DKFZ eine Biotech-Firma zu gründen: "Apogenix" sollte unsere Abfangjäger zur Marktreife bringen, um zum Beispiel Patienten nach Organtransplantationen behandeln zu können. Parallel dazu erforschten wir weiter den Todesrezeptor - und verstanden ihn immer besser. Eine Erkenntnis war für die weitere Entwicklung besonders bedeutend. Wir hatten in den Jahren zuvor schon immer wieder beobachtet, dass das Anschalten des Todesrezeptors nicht zwingend zum Tod der Zelle führte. Es schien Zellen zu geben - unter anderem bestimmte Krebszellen - die gegen das Todessignal resistent waren. Mehr noch: Oft bewirkte die Aktivierung des Todesrezeptors bei diesen Zellen genau das Gegenteil von Tod, nämlich Wachstum und Zellteilung. Wir erkannten, dass es Zellen gibt, in denen der Todessignalweg blockiert ist, und dass sich die Wirkung in diesem Fall umkehrt: Das Todessignal wird für bestimmte Tumorzellen zum Wachstumssignal. Es zu unterbrechen bedeutet in diesem Fall nicht, Zelltod zu verhindern, sondern Tumorwachstum zu bremsen. Damit war unser Abfangjäger auf einmal zum potentiellen Krebsmedikament geworden.


Wissenschaft braucht Unterstützung

Wenn sich eine Idee im Labor als wirksam erwiesen hat, ist es noch ein langer Weg bis zum therapeutischen Einsatz. Das künftige Produkt muss in großen Mengen produzierbar sein, von allen Nebenprodukten der Herstellung bereinigt und in eine Form gebracht werden, in der man es dem Patienten verabreichen kann. Das kostet neben viel Zeit auch jede Menge Geld: Bis ein neues Medikament vollständig entwickelt ist, werden viele Millionen Euro investiert. Um die Jahrtausendwende ging es der Biotech-Industrie weltweit sehr schlecht. Das bekamen auch wir zu spüren. Das Geld wurde knapper und irgendwann konnten wir nicht weiter entwickeln. Die Versuche, neue Investoren zu finden, scheiterten. Kaum jemand glaubte an unsere Vision. Nicht selten bekam ich zu hören: "Verhinderung von Apoptose? Das kommt doch niemals in die Klinik!" 2005 ging "Apogenix" in die Insolvenz. Ich war von unserem Ansatz nach wie vor überzeugt. Dennoch standen wir in diesem Moment kurz vor dem Aus. Ohne einen neuen Investor, das wussten wir, würde unsere Idee nie den Weg zum Patienten finden. Wir hatten an diesem Punkt großes Glück, nur wenige Wochen nach der Insolvenz in Dietmar Hopp, dem Mitbegründer von SAP, einen neuen Investor zu finden. Dadurch konnten wir "Apogenix" neu gründen und die bis dato vielversprechende Entwicklung fortführen. 2009 haben wir die Phase 1 der klinischen Studie erfolgreich abgeschlossen. Das bedeutet, dass der von uns entwickelte Wirkstoff sehr gut verträglich ist. Jetzt heißt es, zu prüfen, ob er auch bei Krebspatienten die erhoffte Wirkung zeigt. 2011 erwarten wir die ersten Ergebnisse. Ich bin sehr optimistisch, dass sich der lange Weg bis hierhin gelohnt hat. Es war sicher nicht der einfachste und geradlinigste Weg. Aber zu sehen, dass die Idee aus dem Labor nun endlich in der Klinik angekommen ist, erfüllt mich mit Zufriedenheit. Gleichzeitig stachelt es aber auch meinen Ehrgeiz an und ich sage mir: Das mache ich jetzt noch mal. Nur diesmal müssen wir schneller sein. Ich bin jetzt 64 - noch einmal 25 Jahre kann ich mir nicht mehr leisten.


Zeitleiste

1987 - Entdeckung des Todesrezeptors
1989 - Aktivierung des Todesrezeptors heilt krebskranke Mäuse 1991 - Der Rückschlag: Die Aktivierung des Todesrezeptors wirkt toxisch
1995 - Der Todesrezeptor kann auch anders: Manche Krebszellen werden über den Todesrezeptor nicht getötet, sondern aktiviert.
           Das bringt die Forscher auf einen neuen Ansatz
2005 - Die neu gegründete Firma Apogenix beginnt einen Wirkstoff zu entwickeln, der die Aktivierung des Todesrezeptors verhindert
2009 - Phase-1-Studie erfolgreich abgeschlossen: Der entwickelte Wirkstoff ist sehr gut verträglich. Beginn der Phase-2-Studie


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Quelle:
"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums
(DKFZ)
Ausgabe 2/2010, Seite 17-19
Herausgeber: Deutsches Krebsforschungszentrum in der
Helmholtz-Gemeinschaft
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2010