Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

ETHIK/935: Migration und Gesundheit (5) Frauengesundheit und Migration (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung

Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven

Von Theda Borde


Spätestens seit der "Migrationshintergrund" 2005 im Mikrozensus definiert wurde und nach den neuesten Zählungen feststeht, dass inzwischen 16 Millionen Menschen gezählt werden, die selbst seit 1950 aus dem Ausland zugewandert oder deren Nachkommen sind,[1] wird der Thematik der Migration und der Diversität der Bevölkerung in Deutschland in Medien, Politik und Wissenschaft deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass die soziale, ethnische und kulturelle Vielfalt in allen europäischen Ländern zunimmt und dass Europa aus demografischen und ökonomischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen ist. Integrationsdiskurse konzentrieren sich aber meist noch auf die einseitige Integrationsleistung der Zugewanderten, während die Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft für die gesellschaftlichen Institutionen eher weniger thematisiert werden. Diskussionen und Konzepte konzentrieren sich dabei meist auf die kulturelle Differenz, soziale und strukturelle Faktoren bleiben hingegen ausgeblendet.

Während migrations- bzw. differenzsensible Konzepte in den klassischen Einwanderländern auch im Gesundheitsbereich inzwischen zum Standard guter Praxis gehören, lassen sich in der Gesundheitsforschung und - versorgung in Deutschland nun auch verstärkte Bemühungen zur Verbesserung der Gesundheitschancen von Migrantinnen und Migranten beobachten. Dass sich der Deutsche Ethikrat mit dieser Veranstaltung zu Migration und Gesundheit den Herausforderungen der gesellschaftlichen Vielfalt für die medizinische Versorgung widmet, ist sehr zu begrüßen, denn bisher wurden ethische Fragen in diesem Kontext kaum beleuchtet.


Migrationsgeschehen und Heterogenität der Migrantinnen in
Deutschland

Während die in den 1950er Jahren einsetzende Anwerbung von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern aus dem Ausland und die damit verknüpfte Familienzusammenführung und Niederlassung der Immigrantenfamilien aus den ehemaligen Anwerbeländern das Migrationsgeschehen nach Deutschland in den ersten Jahrzehnten prägte, zeichnen sich jetzt neue Migrationstrends ab. Migration ist ein globales Phänomen und auch die Migration von Menschen nach Deutschland ist gekennzeichnet durch

kurz- und langfristige Zuwanderung von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften,
Flucht- und Armutsmigration aufgrund von Krieg, Vertreibung und Verfolgung oder Armut,
Pendelmigration vor allem von Rentnerinnen und Rentnern, die sowohl im Herkunftsland als auch im Aufnahmeland leben,
Ost-West-Migration innerhalb der 25 EU-Staaten,
irreguläre Migration,
Transmigration von Menschen, die auf dem Weg in das eigentliche Zielland kurz- oder längerfristig im Transit in verschiedenen Ländern leben, sowie weiterhin
Familienzusammenführung (Nachzug von Familienangehörigen sowie Eheschließungen mit Partnerinnen bzw. Partnern aus dem Ausland).

Insgesamt ist weltweit eine Feminisierung der Migration zu beobachten, wobei der Anteil der "cosmobilen" Frauen[2] aus verschiedenen Herkunftsländern steigt. Je nach Herkunftsregion und soziokulturellem Kontext lassen sich auch in Deutschland Geschlechtsspezifika beobachten, die sich in einem überproportionalen Frauenanteil bei Neuzuwanderungen aus Thailand, Kenia, Peru, Estland, der Ukraine, den Philippinen und der Russischen Föderation und einem überproportionalen Männeranteil bei Neuzuwanderungen aus Algerien, Ungarn, Irak, Kroatien, Libanon, Bosnien-Herzegowina, Tunesien abzeichnen. Bei den Zuzügen nach Deutschland schwankt der Anteil der Frauen jedoch seit 1994 zwischen 40 und 43 Prozent.[3] Das Gesundheitswesen in Deutschland ist angesichts der demografischen Entwicklung selbst auf die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland angewiesen und darüber hinaus gefordert, die Potenziale der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund auch als Fachkräfte für den Gesundheitsbereich zu nutzen.

Mit einem Anteil von 49,3 Prozent ist heute fast die Hälfte der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland weiblich. Eingeschlossen sind hier die inzwischen meist über 50-jährigen "Gastarbeiterinnen" der ersten Anwerbungsphase, die älteren und jüngeren nachgezogenen Ehefrauen sowie die meist in Deutschland geborenen oder als Kinder zugezogenen Töchter aus Migrantenfamilien und weitere im Zuge der oben genannten Migrationsbewegungen zugewanderten Frauen. Allein die unterschiedlichen Migrationsmotive und -erfahrungen, Altersgruppen, Aufenthaltsdauer, Staatsangehörigkeiten, Herkunftsländer und ethnischen Gruppen weisen auf die außerordentliche Heterogenität der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland hin. Weitere Faktoren, die diese Heterogenität kennzeichnen, sind Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnis, Bildungsgrad, soziale Lage und Erwerbssituation, Religion und jeweiliger Lebensstil.


Migration und Gesundheit - ethische Problemstellungen?

Verschiedene Studien zeigen bei Menschen mit Migrationshintergrund sowie Angehörigen ethnischer Minderheiten im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung höhere Gesundheitsrisiken und weisen auf einen insgesamt schlechteren objektiven und subjektiven Gesundheitsstatus im gesamten Lebenszyklus hin.[4] Internationale Studien belegen den Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Benachteiligung und identifizieren neben sozioökonomischen Faktoren Migrationsfaktoren, kulturelle Faktoren, Rassismus und die selektive Wirkung der Gesundheitsversorgung als Wirkfaktoren für die "ethnische Verteilung" von Gesundheit und Krankheit.[5] Sie weisen auf konkreten Handlungsbedarf in der Gesundheitsversorgung hin, um Versorgungskonzepte zu entwickeln, die den Differenzen innerhalb der Bevölkerung und den spezifischen Bedürfnissen besser gerecht werden und nicht im Gegenteil den Gesundheitsstatus und die Gesundheitschancen weiter negativ beeinflussen.

Vor dem Hintergrund der existierenden Regelungen, Gesetze und Konventionen wie

Artikel 11 der Europäischen Sozialcharta von 1961 zum Recht auf Gesundheitsschutz,
Artikel 3 des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin von 1996 zum gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung,
Artikel 21 zur Anti-Diskriminierung und Artikel 22 zur kulturellen, religiösen und sprachlichen Vielfalt der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 sowie
die Patientenrechte in Deutschland

geben Anlass, die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund sowie Angehörigen ethnischer Minderheiten vor dem Hintergrund der Versorgungsgerechtigkeit und aus ethischer Perspektive zu betrachten. Zentrale Spannungsfelder, die im Folgenden weiter ausgeführt werden, sind hier die Erreichbarkeit von Migrantinnen in Versorgungsforschung und -praxis, die Arzt-Patienten-Interaktion, die Patientenzufriedenheit, die Patienteninformation und -aufklärung, die Patientenautonomie sowie damit verbundene Fragen von Eigenverantwortung und Solidarität im Kontext von Gesundheit und Gesundheitsversorgung.


Erreichbarkeit in der Versorgungsforschung und -praxis

Migrantinnen und Migranten sowie Angehörige ethnischer Minderheiten gelten in der Gesundheitsforschung, bei Präventionsprogrammen und in der Gesundheitsförderung als "schwer erreichbare" Zielgruppen und werden in der Gesundheitsversorgung oft als "schwierige Patienten" wahrgenommen. In Patientenbefragungen der Versorgungsforschung und der Qualitätssicherung werden sie selten angemessen berücksichtigt und repräsentiert. So führen zum Beispiel vorab definierte Einschlusskriterien, wie gute Deutschkenntnisse, gute Lese- und Schreibfähigkeit und damit verbunden rein schriftliche Befragungen in deutscher Sprache dazu, dass ein Teil der Migranten und insbesondere Migrantinnen systematisch ausgeschlossen werden. Verzerrungseffekte und Wissenslücken, die durch die mangelhafte Repräsentation von Migrantinnen und Migranten in Befragungen und unangemessene Definitionen und Zuordnungen entstehen, haben häufig grobe Verallgemeinerungen, Mutmaßungen und Stereotypisierungen zur Folge und tragen wenig dazu bei, die Versorgungssituation der "schwer Erreichbaren" nachhaltig zu verbessern.[6] Vor allem in der englischsprachigen gesundheits- und sozialwissenschaftlichen Literatur werden Fragen der Erreichbarkeit in Forschung und Praxis ausführlich diskutiert. Als Faktoren für den Ausschluss beziehungsweise als Barrieren für die Teilhabe werden nie driger sozioökonomischer Status, geringe Bildung, Migration, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und andere Faktoren einer von der Mehrheit differierenden Lebensweise zusammengefasst. So wird für die Forschung die Problematik "versteckter Bevölkerungsgruppen" und die daraus resultierende "soziale Unsichtbarkeit" dieser Gruppen aufgezeigt.[7] Die mangelnde Repräsentation in den Stichproben von Studien führt konsequenterweise zu "unterversorgten Gruppen", bei denen allgemeine Versorgungsleistungen nicht oder nur unvollständig ankommen.[8]


Einblicke in die Versorgungsrealität

Am Beispiel einiger Ergebnisse unserer Studien zur Versorgungsforschung, in der Migrantinnen und einheimische deutsche Frauen befragt wurden, möchte ich einen Einblick in die Versorgungsrealität geben, spezifische Bedürfnisse von Migrantinnen sowie ethische Fragestellungen und Perspektiven aufzeigen. Die Beispiele konzentrieren sich auf die zentralen Spannungsfelder und basieren zum einen auf einer etwas älteren Analyse der Versorgungssituation gynäkologisch erkrankter Frauen im Krankenhaus, in der 268 Migrantinnen türkischer Herkunft und 320 einheimische deutsche Frauen in einer Berliner Frauenklinik befragt und zusätzlich Krankenakten der Patientinnen analysiert wurden.[9] Zum anderen werden Ergebnisse unserer transkulturellen Studie zur Menopause vorgestellt, in der insgesamt 942 Berliner Frauen im Alter von 45 bis 60 Jahren befragt wurden, von denen 260 aus Korea, Japan und China und 264 aus der Türkei und 418 aus Deutschland stammten.[10] Beide Studien zeigten, dass Migrantinnen auch auf dem Wege schriftlicher Befragungen erreichbar und gesprächsbereit sind, wenn innovative Zugangswege erschlossen, Befragungsinstrumente und -methodik den Voraussetzungen der Zielgruppen angepasst und mögliche Zugangsbarrieren seitens der Forschung reflektiert und überwunden werden. So setzten wir zum Beispiel bilinguale Fragebögen ein, ermöglichten bei Bedarf eine mündliche Befragung anhand von standardisierten Interviews durch sprachkundige Interviewerinnen und erreichten die Zielgruppen der Studie zur Menopause - die nicht stationär im Krankenhaus untergebracht waren - im "Schneeballsystem" unter anderem über Migrantinneneinrichtungen, Sport- und Freizeitstätten oder Arbeitsplätze.[11]


Gleich hohe Erwartungen - geringere Versorgungszufriedenheit

Die Berliner Frauenklinikstudie und die Wechseljahresstudie zeigten bei den befragten Migrantinnen und deutschen Frauen vergleichbare Erwartungen an die Behandlung und Beratung durch Ärztinnen und Ärzte sowie an eine gute Aufklärung und eine selbstbestimmte Behandlungsentscheidung. Dennoch zeigte sich bei den Migrantinnen eine deutlich geringere Beratungs- und Behandlungszufriedenheit, wobei sich Kommunikation, Information und Aufklärung sowie die psychosoziale Betreuung als Problemschwerpunkte herauskristallisierten und sich hier deutliche Mängel in der Versorgungsqualität abzeichneten.[12]

In den Patientenrechten in Deutschland wird konstatiert, dass eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verständigung eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg einer Behandlung ist, um das gemeinsame Ziel zu erreichen, einerseits Krankheiten vorzubeugen und andererseits Krankheiten zu erkennen, zu heilen oder zu lindern. Die Arzt-Patienten-Beziehung wird als Behandlungs- und Entscheidungspartnerschaft verstanden, wobei im persönlichen Gespräch ein größtmögliches Maß an Respekt, Vertrauen und Kooperation im Behandlungsverhältnis geschaffen werden soll.[13] Unsere Studienergebnisse offenbarten jedoch, dass die Standards einer guten Kommunikation und Interaktion zwischen der Ärztin oder dem Arzt und der Patientin für den größten Teil der Migrantinnen nicht annähernd erreicht werden.

Auf der Grundlage vertiefender Interviews mit Studienteilnehmerinnen konnten typische Aussagen von Patientinnen türkischer Herkunft (Abb. 1) und - vorwiegend deutschen - Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften (Abb. 2) zur Problematik der Kommunikationssituation gefunden werden.

Insgesamt war festzustellen, dass die befragten Ärztinnen und Ärzte trotz hoher Ansprüche an die Kommunikation, Patienteninformation und - aufklärung mit ihrer eigenen Versorgungsleistung bei Patientinnen mit Migrationshintergrund unzufrieden waren. Eine Befragung von behandelnden Ärzten in drei Berliner Notfallambulanzen (Auswertung von Kurzfragebögen zu 2.429 Behandlungen) zeigte ebenfalls, dass die Mediziner mit der Arzt-Patienten-Beziehung bei Migrantinnen und Migranten deutlich unzufriedener waren als bei deutschen Patientinnen und Patienten. Als Gründe gaben sie vor allem sprachliche Kommunikationsprobleme sowie Divergenzen in der Einschätzung der Dringlichkeit der Behandlung an.[14]


Nach Patientenaufklärung weniger korrekte Angaben zu Diagnose und Therapie

Die aufgezeigten Kommunikationsprobleme schränkten die gewünschte und erforderliche Mitwirkung der Patientinnen bei der Behandlung beziehungsweise im Gesundungsprozess deutlich ein. Sprachliche und soziokulturelle Missverständnisse bei der Anamnese können zu einer falschen Diagnose führen, Misstrauen auslösen, die Therapietreue beeinträchtigen und schließlich Fehl-, Unter- und Überversorgungen einleiten. Da sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch die Patientinnen selbst sich meist auf die Übersetzungsfähigkeit von Familienangehörigen oder anderen Begleitpersonen oder zumindest für den medizinischen Kontext eingeschränkte Sprachkompetenzen der Patientin verlassen, erfolgt der Einsatz qualifizierter Dolmetscher im Versorgungsalltag eher selten.

Wie sehr diese Art der Patientenaufklärung im stationären Kontext Informationen verzerren und ins Gegenteil verkehren kann, zeigte eine Analyse des Patientinnenwissens im Vergleich zu den in der Patientenakte dokumentierten Fakten, die im Rahmen der Frauenklinikstudie durchgeführt wurde. Die deutschen und türkischen Patientinnen wurden sowohl vor als auch nach der Patientenaufklärung im Krankenhaus zu ihrer Diagnose und die geplante/durchgeführte Kliniktherapie befragt. Der Vergleich dieser Angaben mit den entsprechenden Daten aus der jeweiligen Patientinnenakte zeigte bei türkischen Migrantinnen deutlich weniger korrekte Angaben. Je geringer die deutschen Sprachkenntnisse und das gesundheitsrelevante Basiswissen der Patientinnen waren, desto geringer war der Anteil der Übereinstimmungen zwischen dem Wissen der Patientin und den in der Patientenakte dokumentierten Fakten zur Erkrankung und Behandlung. Während sich bei den deutschen Frauen zwischen den Befragungszeitpunkten am Aufnahmetag und am Tag vor der Klinikentlassung insgesamt ein leichter Wissenszuwachs erkennen ließ, nahm der Anteil der korrekten Angaben in diesem Zeitraum bei den Migrantinnen ab (Abb. 3).[15] Dieser auch bei Migrantinnen mit guten Deutschkenntnissen zu beobachtende Informationsverlust im stationären Behandlungsprozess belegt deutliche Unterschiede in der Ergebnisqualität der Patientenaufklärung und zeigt, dass diese weder den Aufklärungsbedürfnissen von Migrantinnen noch der ärztlichen Aufklärungspflicht gerecht wird.


Abb. 3: Informationsverlagerung vor und nach der Patientenaufklärung nach Ethnizität (Prozentualer Anteil der Patientinnen mit korrekten Kenntnissen)

Übereinstimmung von
• Kenntnis der Patientin über die geplante und durchgeführte
Therapie in der Frauenklinik
• und ärztlicher Dokumentation in der Krankenakte

Therapie
vor Aufklärung
nach Aufklärung
auf deutsch
auf türkisch
81 %
71 %
83 %
66 %

Auf Defizite bei der Information und Patientenaufklärung in der ambulanten medizinischen Versorgung weisen Ergebnisse unserer Befragung der 45- bis 60-jährigen Frauen in der Wechseljahresstudie hin. Die befragten deutschen, asiatischen und türkischen Frauen fühlten sich über Nutzen und Risiken einer Hormontherapie insgesamt schlecht informiert, wobei die Informiertheit mit zunehmendem Bildungsgrad anstieg. Nur 15 Prozent der befragten Migrantinnen aus der Türkei gegenüber 40 Prozent der Migrantinnen aus Asien und 47 Prozent der deutschen Frauen kannten die Risiken der menopausalen Hormontherapie, die erstmals 2002 durch eine Studie der Women's Health Initiative[16] bekannt wurden. Ebenso war festzustellen, dass von den Frauen in der postmenopausalen Phase etwa die Hälfte der Frauen türkischer und deutscher Herkunft gegenüber 35 Prozent der asiatischen Migrantinnen bereits Erfahrungen mit der Anwendung der Hormontherapie hatten. Die frühere oder aktuelle Anwendungsrate der menopausalen Hormontherapie stand in engem Zusammenhang mit dem Grad der Beschwerden und dem Aufsuchen von Ärztinnen und Ärzten aufgrund dieser Symptome. Da die türkeistämmigen Migrantinnen einerseits eine deutlich stärkere Symptombelastung aufwiesen, andererseits Ärztinnen und Ärzte als die wichtigsten Ansprechpartner angaben und am wenigsten informiert waren, ist anzunehmen, dass die allgemeine Tendenz des Rückgangs der Medikalisierung der Wechseljahre durch die Hormontherapie seit 2002 und die informierte Entscheidung im Umgang mit Wechseljahressymptomen für sie ebenso wenig zutrifft wie für die unterste soziale Schicht der einheimischen deutschen Frauen.[17] Zwar bieten unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und Deutschkenntnisse der beiden Migrantinnenkollektive eine Erklärung, aber keine Rechtfertigung für den unterschiedlichen Informations- und Aufklärungsgrad.


Schlussfolgerungen

Rechtliche, ökonomische und ethische Aspekte wirken im Kontext der medizinischen Versorgung von Migrantinnen zusammen. Patientenrechte, haftungsrechtliche Fragen und Gleichstellungsgebote beziehungsweise Anti-Diskriminierungsstrategien sind von ökonomischen Faktoren, die sich aus der Bedarfsgerechtigkeit der Angebote, Fragen der Fehl-, Über-, Unterversorgung und/oder -inanspruchnahme und der eingeschränkten Partizipation am Gesundungsprozess ergeben, kaum zu trennen. Da Studien in der medizinischen Versorgung in der Regel von einer Ethikkommission genehmigt werden müssen, könnten ethische Fragestellungen und Perspektiven zum Beispiel mit Blick auf Versorgungsgerechtigkeit, Patientenrechte und Gleichbehandlung aller Menschen in der medizinischen Versorgung neue Perspektiven für die Sicherung der Qualität von Studien der Versorgungsforschung und für die Versorgungspraxis eröffnen.

Die im Deutschen Ärzteblatt unter dem Titel "Auch eine Bringschuld des Versorgungssystems" diskutierten internationalen Studien,[18] die Armut, hohes Alter und geringe Bildung als Hauptursachen für Non-Compliance identifizieren und fatale Folgen für das Individuum und die Gesellschaft aufzeigen, sollten im Kontext der Diskussion ethischer, rechtlicher, ökonomischer und qualitätsbezogener Fragen in der Gesundheitsversorgung zur Kenntnis genommen und in Bezug auf die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland weitergeführt werden. Zum Wohl von Individuen und Gesellschaft sollten vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, die von Migration und Alterung gekennzeichnet ist, Diskussionen im Spannungsfeld von Solidarität und Eigenverantwortung die Frage einschließen, wie die Gesundheitsversorgung soziokulturellen Differenzen besser gerecht werden und unterschiedliche Voraussetzungen besser ausgleichen kann. In einem solidarisch organisierten Gesundheitssystem sollte es vor allem um Teilhabe, Inklusion und Versorgungsgerechtigkeit gehen. Voraussetzung dafür ist die Schaffung von Strukturen, die ermöglichen beziehungsweise sicherstellen, dass die Angebote für alle zugänglich und annehmbar sind, das Gesundheitspersonal für unterschiedliche Bedürfnisse einer diversen Bevölkerung qualifiziert und weitergebildet wird und die Patientinnen und Patienten (z.B. durch verständliche Information und Aufklärung, die Stärkung von Gesundheitskompetenzen und Empowerment) Eigenverantwortung übernehmen. Diese Fragen sind nicht nur aus menschenrechtlicher und ethischer Perspektive bedeutsam. Auch ökonomisch gesehen sind Politik, Gesundheitsinstitutionen und Hochschulen gefordert, die Zugänglichkeit, Erreichbarkeit, Verständlichkeit und Annehmbarkeit der Angebote so zu verbessern, dass eine Versorgung, Information und Aufklärung von gleich guter Qualität für alle in der Einwanderungsgesellschaft lebenden Menschen gleichermaßen ermöglicht wird.


Theda Borde, geb. 1957, Prof. Dr. Dipl.-Pol. MPH, seit 2004 Professorin für medizinische/medizinsoziologische Grundlagen der sozialen Arbeit und Klinische Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, seit 2007 Mitglied und stellvertretende Vorsitzende im Verwaltungsausschuss der European Cooperation in Science and Technology (COST), seit 2010 Rektorin der Alice Salomon Hochschule Berlin.


Anmerkungen

[1] Statistisches Bundesamt 2010.
[2] Rerrich 2006.
[3] Nach Angaben des Migrationsberichts 2008 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesministerium des Inneren 2010).
[4] Razum et al. 2008.
[5] Andrews/Jewson 1993.
[6] Brackertz 2007; Borde 2009.
[7] Atkinson/Flint 2001.
[8] Doherty/Stott/Kinder 2004.
[9] Borde/David/Kentenich 2002.
[10] Borde/Schalinski/David 2007.
[11] Vgl. Borde 2009.
[12] David/Borde 2001; Gebhardt 2008; Borde et al. 2008.
[13] Bundesministerium für Gesundheit/Bundesministerium der Justiz 2007.
[14] Babitsch et al. 2008.
[15] Pette/Borde/David 2004.
[16] Die Women's Health Initiative wurde 1991 von den US-amerikanischen National Institutes of Health initiiert. Ziel war es, Forschung zu den bedeutenden Gesundheitsproblemen von Frauen, beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, durchzuführen.
[17] Vgl. Du et al. 2007.
[18] Holst 2007.


Literatur

Andrews, Ahmed; Jewson, Nick (1993): Ethnicity and infant deaths: The implications of recent statistical evidence for materialist explanations. Sociology of Health and Illness, 15 (2), 137-156.

Atkinson, Rowland; Flint, John (2001): Accessing hidden and hard-to-reach populations: snowball research strategies. Social Research Update, 33. Online im Internet: http://sru.soc.surrey.ac.uk/SRU33.pdf [16.9.2010].

Babitsch, Birgit et al. (2008): Doctor's perception of doctor-patient relationships in emergency departments: what roles do gender and ethnicity play? BMC Health Services Research, 8:82. Online im Internet:
http://www.biomedcentral.com/content/pdf/1472-6963-8-82.pdf [16.9.2010].

Borde, Theda (2009): Migration und Gesundheitsförderung - Hard to reach? Neue Zugangswege für "schwer erreichbare" Gruppen erschließen. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Migration und Gesundheitsförderung. Ergebnisse einer Tagung mit Expertinnen und Experten. Köln, 18-31.

Borde, Theda; David, Matthias; Kentenich, Heribert (2002): Erwartungen und Zufriedenheit deutscher und türkischsprachiger Patientinnen im Krankenhaus - eine vergleichende Befragung in einer Berliner Frauenklinik. Das Gesundheitswesen, 64 (8/9), 476-485.

Borde, Theda; Schalinski, Adelheid; David, Matthias (2007): Vor und nach der Major-Deklaration 2003 - Anwendungsverhalten, Informiertheit und psychosoziale Daten zu Hormonersatztherapie und Wechseljahren bei chinesischen, japanischen, koreanischen und türkeistämmigen Migrantinnen im Vergleich zu deutschen Frauen in Berlin. Schlussbericht zum Forschungsprojekt. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Förderkennzeichen: 01 KH 04 03, Berlin.

Borde, Theda et al. (2008): Haben Kultur und Migration einen Einfluss auf den Umgang mit den Wechseljahren? In: David, Matthias; Borde, Theda (Hrsg.): Frauengesundheit, Migration und Kultur in einer globalisierten Welt. Frankfurt am Main, 43-71.

Brackertz, Nicola (2007): Who is hard to reach and why? ISR Working Paper. Online im Internet:
http://www.sisr.net/publications/0701brackertz.pdf [16.9.2010].

Bundesministerium des Inneren (Hrsg.) (2010): Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung. Migrationsbericht 2008. Berlin.

Bundesministerium für Gesundheit; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (2007): Patientenrechte in Deutschland. Leitfaden für Patientinnen/Patienten und Ärztinnen/Ärzte. Berlin.

David, Matthias; Borde, Theda (2001): Krank sein in der Fremde? Türkische Migrantinnen im Krankenhaus. Frankfurt am Main.

David, Matthias; Schalinski, Adelheid; Borde, Theda (2008): Sozio-kulturelle Aspekte der Menopause und der menopausalen Hormontherapie. In: Robert-Koch-Institut (Hrsg.): Hormontherapie bei (post-)menopausalen Frauen in Deutschland 2007. Studienergebnisse zu Nutzen, Risiken und Versorgungsrealität. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin, 57-63.

Doherty, Paul; Stott, Alison; Kinder, Kay (2004): Delivering services to hard to reach families in On Track areas: definition, consultation and needs assessment. Development and Practice Report, 15. Online im Internet:
http://www.homeoffice.gov.uk/rds/pdfs2/dpr15.pdf [16.9.2010].

Du, Yong et al. (2007): Differences in menopausal hormone therapy use among women in Germany between 1998 and 2003. BMC Women's Health, 7:19. Online im Internet: http://www.biomedcentral.com/content/pdf/1472-6874-7-19.pdf [16.9.2010].

Gebhardt, Janine (2008): Anspruch und Wirklichkeit - Information, Beratung und Begleitung von Frauen in den Wechseljahren im interkulturellen Kontext. Bachelorarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Holst, Jens (2007): "Auch eine Bringschuld des Versorgungssystems". Deutsches Ärzteblatt, 104 (15), A996-A998.

Pette, Matthias; Borde, Theda; David, Matthias (2004): Kenntnis über die Diagnose und Therapie ihrer Erkrankung bei deutschen und türkischstämmigen Patientinnen vor und nach einem Krankenhausaufenthalt. Journal of the Turkish-German Gynecological Association, 5 (4), 330-337. Auch online im Internet: http://www.artemisonline.net/published/volume5/issue4/ErratumMPette5(4).pdf [16.9.2010].

Razum, Oliver et al. (2008): Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin.

Rerrich, Maria S. (2006): Die ganze Welt zu Hause. Cosmobile Putzfrauen in privaten Haushalten. Hamburg.

Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2010): Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2009. Wiesbaden.


*


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Kommunikationsprobleme aus der Perspektive nicht deutschsprachiger Patientinnen im Krankenhaus (Patientinneninterviews Frauenklinik)

- "Wenn du kein Deutsch kannst, nehmen sie dich gar nicht wahr."
- "Ich konnte nicht alle Fragen stellen, die ich hatte."
- "Die Ärzte uns vor, dass wir kein Deutsch können, deshalb sagen wir lieber nichts und bleiben sprachlos."
- "Sie hat gut erklärt, aber ich habe nichts verstanden."
- "Mein Mann hat mir alles erklärt, aber ich bezweifle, dass er alles versteht, was der Arzt gesagt hat."

Abb. 2: Kommunikationsprobleme aus der Perspektive des Arzt- und Pflegepersonals bei der Versorgung nicht deutschsprachiger Patientinnen im Krankenhaus (Mitarbeiterinterviews)

- "Wir müssen uns im Alltag mit unbefriedigenden Arrangements abfinden."
- "Zeitmangel zwingt uns dazu, unbefriedigende Lösungen zu akzeptieren."
- "Gute Informationsvermittlung oder Patientenaufklärung ist reine Privatsache, die keinen - außer den Patienten - interessiert."
- "Für Patientenorientierung gibt es keine wirkliche Anerkennung."
- "Die strukturellen Bedingungen und organisatorische Probleme sind für eine gute Arzt-Patienten-Beziehung kontraproduktiv."
- "Der Einsatz professioneller Dolmetscher nimmt zu viel Zeit in Anspruch.
- "Wo kein Widerstand ist, wird weniger gemacht. Und Ausländerinnen sind meistens weniger kritisch."


*


INHALT

Axel W. Bauer - Vorwort
Maria Böhmer - Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik
Oliver Razum - Gesundheit von Migranten: Hintergründe
Ilhan Ilkilic - Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnisses
Theda Borde - Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven
Alain Di Gallo - Risiken und Chancen der Migration aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Andreas Spickhoff - Spezielle Patientenrechte für Migranten? Juristische und rechtsethische Überlegungen
Bettina Schlemmer - "Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen
Ulrike Kostka - Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung


*


Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung
für die medizinische Versorgung
© 2010 - Seite 41 - 52
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2011