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ETHIK/961: Buch - "Der Hirntod. Ein medizinethisches Problem" von Ralf Stoecker (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 97 - 1. Quartal 2011
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Bücherforum
"Der Hirntod - Ein medizinethisches Problem" von Ralf Stoecker

Besprochen von Dr. Maria Overdick-Gulden


Viel Denkarbeit steckt in dem neu aufgelegten Band des Philosophen Ralf Stoecker, der das Thema Hirntod ins Zentrum vielfältiger Perspektiven stellt. Im Gegensatz zur deutschen Gesetzeslage und Praxis hat sich in den USA 2008 eine Neubewertung vollzogen; die Stellungnahme »Controversies in the Determination of Death« des President Council on Bioethics erklärte das Hirntodkonzept für untauglich. Die Konsequenz: eine medizinische und juristische Neubewertung ist auch hierzulande unumgänglich, sie dürfe keine vagen Hilfskonstruktionen oder Notlösungen akzeptieren, sondern habe eine verantwortbare Ethik auf philosophischer Basis zu erarbeiten. Denn sicher ist: auch ohne funktionsfähiges Gehirn kann der Mensch aufgrund gut koordinierter Subsysteme als beseelter Leib weiterleben. Der Hirntote liegt im Sterben und ist kein Toter.

Nach gründlicher Erwägung der Begriffe Leben, Tod und Sterben zieht Stoecker Bilanz: keines der von ihm vorgestellten philosophischen Modelle liefert zureichende Gründe für die Beibehaltung des Hirntodkonzepts. Die Basis der bisherigen Hirntoddebatte erweist sich als brüchig. Wie ist es dazu gekommen?

Die Intensivmedizin hat die einzelnen Verlust-Phasen während des Sterbevorgangs zeitlich gedehnt, so dass die deskriptiven (biologischen, personalen, phänomenalen) Charakteristika des Lebens beim Sterbenden quasi im Zeitlupentempo ablaufen. Hirn- und Organfunktionen versterben nicht als Ganzes punktuell, sondern schrittweise. Im klinischen Erscheinungsbild spiegelt sich dies wider: 'phänomenal' ist der Hirntote kaum vom Intensivpatienten als solchem zu unterscheiden. Auch fällt das 'Personale' am Menschen weder mit der Psyche noch mit Bewusstsein oder Interessensbekundungen zusammen; andernfalls könnten geistig Schwerstbehinderte und Demente im Endstadium als 'hirntote Ganztote' gelten. Dagegen schützt die im Grundgesetz verankerte Unantastbarkeit der Menschenwürde unmissverständlich.

Dem (noch) lebenden Menschen ist ein besonderer moralischer Status eigen. Wie weit reicht dieser Achtung gebietende Bereich beim Hirntoten? Was bleibt verboten, wenn der Versterbende am point of no return angekommen, aber noch nicht tot ist? Einige Bioethiker in Deutschland versuchen pragmatisch vorzugehen, indem sie den Hirntod als Lebensgrenze buchstäblich festlegen. Mancherorts handelt man so bereits am (vermeintlich) »Herztoten«. Dürfen wir uns als Mit-Menschen aber einen solchen Weg ethisch erlauben - und wäre er »gut«? Die Verantwortlichen sind herausgefordert, mittels der Vernunft neu zu entscheiden und nicht weiter auf philosophisch-ethisch brüchigem Grund zu operieren. Die vertretbar gute Lösung steht noch aus. Der Theologe Jürgen in der Schmitten und andere Autoren sehen eine ethische Berechtigung zur Organentnahme in dem Argument, der Betroffene habe einer »Verlängerung des eigenen Sterbens« ja selbst zugestimmt. Reicht das für die Vertretbarkeit unseres Handelns? Bisher verlängern wir das Sterben, brechen es durch oder nach Organentnahme ab, und jetzt erst ist der »Spender« tot!

Stoeckers Resümee: »Das Problem ist also nicht, ob hirntote Menschen tot sind, sondern wie man sie behandeln darf, obwohl sie noch nicht tot sind.« Damit sollte die Debatte in Politik, Medizin, Justiz und in der philosophischen und theologischen Ethik wieder eröffnet sein. Mit »Richtlinien« ist dieser Pflicht nicht genügt. Das legt die Lektüre offen.


Ralf Stoecker: Der Hirntod: Ein medizinethisches Problem
und seine moralphilosophische Transformation.

Studienausgabe. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2010.
367 Seiten. 36,00 EUR.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 97, 1. Quartal 2011, S. 30
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2011