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ETHIK/1180: Zur Regelung der Suizidbeihilfe - Suizidprävention gesetzlich stärken (Deutscher Ethikrat)


Ad-hoc Empfehlung des Deutschen Ethikrates - 18. Dezember 2014

Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft:
Deutscher Ethikrat empfiehlt gesetzliche Stärkung der Suizidprävention

Berlin, 18. Dezember 2014


Der Deutsche Ethikrat hat sich am 27. November 2014 in öffentlicher Sitzung mit dem Thema "Beihilfe zur Selbsttötung" auseinandergesetzt.[1] Nach einführenden Vorträgen von Mitgliedern des Ethikrates über begriffliche Grundlagen, über ethische und verfassungsrechtliche Aspekte von Würde, Autonomie und Selbstbestimmung, über Versorgungsstrukturen und Suizidprävention, über Selbst- und Fremdverständnis der ärztlichen Profession, über Sterbehilfeorganisationen sowie über mögliche Regelungsmodelle und ihre Implikationen berieten die Mitglieder in öffentlicher und nicht öffentlicher Diskussion. Der Ethikrat knüpft mit seiner hier vorgelegten Empfehlung an seine 2012 geäußerte Einschätzung an, dass ein gesetzliches Verbot ausschließlich der gewerbsmäßig organisierten, also der kommerziell betriebenen Suizidbeihilfe mehr Probleme schafft als löst. Er bekräftigt im Übrigen, dass die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) unverändert erhalten bleiben muss.

Der Deutsche Ethikrat begrüßt, dass das Bundesministerium für Gesundheit die Hospiz- und Palliativversorgung im ambulanten und stationären Bereich des Gesundheitssystems und der Pflege mit einer weiteren Gesetzgebungsinitiative nachdrücklich stärken sowie flächendeckend etablieren will. Eine gute palliative Versorgung, die für alle Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung erreichbar ist, lindert Not, kann Angst und Verzweiflung überwinden helfen und damit auf Fragen nach einer möglichen Unterstützung bei einer Selbsttötung lebensorientierte Antworten geben.

Diese Angebote betreffen allerdings nur einen kleinen Teil der pro Jahr in Deutschland etwa 100.000 Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, da Suizidversuche zumeist nicht von Menschen unternommen werden, die bei absehbar knapp begrenzter Lebenserwartung an einer fortschreitenden Erkrankung leiden. Für vereinsamte und psychisch kranke Menschen beispielsweise bedarf es anderer suizidpräventiver Maßnahmen und Strukturen. Dazu gehören etwa eine gute psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung, der Ausbau niedrigschwelliger Beratungs- und Begleitangebote in Lebenskrisen und die gezielte Weiterbildung der in der Pflege sowie in verschiedenen medizinischen Versorgungsbereichen tätigen Mitarbeitenden im Hinblick auf die Früherkennung von - und die angemessene Intervention bei - Krisen mit suizidaler Gefährdung. Ebenso sollte darin die interdisziplinäre Forschung zur Suizidprävention und zur Behandlung von Suizidgefährdeten gestärkt werden.

Situationen, in denen jemand einen Suizid plant und eine andere Person bittet, ihn dabei zu unterstützen, sind vielgestaltig und von zahlreichen sehr unterschiedlichen Aspekten geprägt, die unter anderem in der Beziehung der Personen zueinander, in deren Biografien, in der Krankheitsgeschichte und in den Versorgungsbedingungen liegen.

Die geltende Gesetzeslage, wonach weder ein Suizid noch eine Beihilfe zu einem im rechtlichen Sinne frei verantwortlichen Suizid strafbar ist, steht im Einklang mit den Prinzipien eines freiheitlichen Verfassungsstaates. Diese schließen es aus, den Suizid abstrakt-generell als Unrecht zu bestimmen. Denn dabei würde eine allgemeine, erzwingbare Rechtspflicht zum Leben vorausgesetzt, die grundlegenden Rechtsprinzipien widerspräche. Deshalb kann auch die Hilfe zu einem frei verantwortlichen Suizid ihrerseits nicht generell als Unrecht im Rechtssinne definiert werden, so umstritten die Freiverantwortlichkeit eines Suizids allgemein und ihre Erkennbarkeit im konkreten Einzelfall auch sein mögen. Bei einem solchen Suizid kann auch die Garantenpflicht oder die allgemeine Hilfeleistungspflicht keine Strafbarkeit des Gehilfen begründen. Die Möglichkeit divergierender moralischer Auffassungen zur Beurteilung von Selbsttötungen und der Beihilfe zu Selbsttötungen bleibt hiervon unberührt. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Deutsche Ethikrat, das derzeit geltende Strafrecht nicht grundsätzlich zu ändern. Eine eigene gesetzliche Regulierung etwa der ärztlichen Suizidbeihilfe lehnt die Mehrheit des Ethikrates ebenso ab wie jede Regulierung der Suizidbeihilfe für eine andere Berufsgruppe, auch weil auf diese Weise gleichsam "erlaubte Normalfälle" einer Suizidbeihilfe definiert würden.

Allerdings sollten nach Auffassung der Mehrheit des Ethikrates Suizidbeihilfe sowie ausdrückliche Angebote dafür untersagt werden, wenn sie auf Wiederholung angelegt sind, öffentlich erfolgen und damit den Anschein einer sozialen Normalität ihrer Praxis hervorrufen könnten. Dies dient dem Schutz sozialer Normen und Überzeugungen, in denen sich der gebotene besondere Respekt vor dem menschlichen Leben widerspiegelt. Eine Suizidbeihilfe, die keine individuelle Hilfe in tragischen Ausnahmesituationen, sondern eine Art Normalfall wäre, etwa im Sinne eines wählbaren Regelangebots von Ärzten oder im Sinne der Dienstleistung eines Vereins, wäre geeignet, den gesellschaftlichen Respekt vor dem Leben zu schwächen. Des Weiteren und vor allem ist der Gefahr fremdbestimmender Einflussnahme in Situationen prekärer Selbstbestimmung vorzubeugen. Schließlich könnte es die Anstrengungen der Suizidprävention unterlaufen, wenn eine Beihilfe den Charakter einer gesellschaftlich akzeptierten Üblichkeit erhielte. Dabei ist es unerheblich, ob die Beihilfe durch eine Organisation oder eine Einzelperson erfolgt.

Der Deutsche Ethikrat unterstützt das in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung formulierte Verständnis des ärztlichen Berufs, wonach die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist, das heißt keine aus der beruflichen Verantwortung erwachsende ärztliche Tätigkeit. Nicht zuletzt im Sinne der Suizidprävention ist es gleichwohl für schwer kranke Patienten wichtig, in ihrem Arzt auch dann einen vertrauensvollen Ansprechpartner zu sehen, wenn sie mit dem Wunsch nach einem vorzeitigen Tod ringen. Jeder Patient sollte sich darauf verlassen können, dass im geschützten Raum des Arzt-Patient-Verhältnisses ein offenes Gespräch zwischen Arzt und Patient über suizidale Gedanken bzw. Absichten geführt werden kann und er eine lebensorientierte Beratung und Begleitung durch den Arzt erhält. Die Mehrheit des Deutschen Ethikrates empfiehlt, dass die Ärztekammern einheitlich zum Ausdruck bringen sollten, dass ungeachtet des Grundsatzes, dass Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe ist, im Widerspruch dazu stehende Gewissensentscheidungen in einem vertrauensvollen Arzt-Patient-Verhältnis bei Ausnahmesituationen respektiert werden.

Zusätzlich zum angekündigten Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung empfiehlt der Deutsche Ethikrat vor diesem Hintergrund die gesetzliche Stärkung suizidpräventiver Maßnahmen und Strukturen und eine Mehrheit des Ethikrates ein Verbot der Suizidbeihilfe sowie ausdrücklicher Angebote dafür, wenn sie auf Wiederholung angelegt sind und öffentlich erfolgen. Zudem ist eine Mehrheit des Ethikrates der Auffassung, dass der Gesetzgeber im Betäubungsmittelrecht klarstellen sollte, dass eine im Ausnahmefall erfolgende Verschreibung von Betäubungsmitteln auch im Rahmen einer Beihilfe zu einem frei verantwortlichen Suizid nicht strafbar ist.

Der hier vorgeschlagene Lösungsweg unterstreicht die Notwendigkeit, Suizidprävention im Sinne des Nationalen Suizidpräventionsprogramms zu stärken, und er trägt sowohl der Vielfalt der individuellen Situationen am Lebensende als auch der Vielfalt moralischer Überzeugungen in der Bevölkerung Rechnung. Er anerkennt die Intimität existenzieller Entscheidungen und Erfahrungen und bekräftigt gleichzeitig die Wertschätzung jedes Menschen, unabhängig davon, wie leistungsfähig oder hilfsbedürftig er ist.

Diejenigen Mitglieder, die aus prinzipiellen Erwägungen einzelnen Empfehlungen nicht zustimmen, tragen gleichwohl die Ad-hoc-Empfehlung und insbesondere ihre Ausrichtung auf die gesetzliche Stärkung der Suizidprävention mit.


Anmerkung

[1] Die einzelnen Vorträge und die Diskussion können unter
http://www.ethikrat.org/sitzungen/2014/beihilfe-zur-selbsttoetung [18.12.2014] angehört werden. Der Audiomitschnitt sowie die Präsentationen sind dort abrufbar.

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Quelle:
Ad-hoc Empfehlung, 18. Dezember 2014
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2015

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