Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → FAKTEN


ETHIK/1211: Ein Protein, sie alle zu knechten (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 117 - 1. Quartal 2016
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Ein Protein, sie alle zu knechten

Von Stefan Rehder


Das sogenannte »Genome Editing« sorgt zumindest in Deutschland für einen neuen »Sound« in der wissenschaftlichen Politikberatung und frischen Wind in der ethischen Selbstreflexion der Wissenschaftler. In anderen Teilen der Welt ist man davon offenbar noch weiter entfernt. Das ist dramatisch, denn ernster als jetzt war die Lage vielleicht noch nie.


Die Welt ist im Wandel. Ich spüre es im Wasser, ich spüre es in der Erde, ich rieche es in der Luft«, lässt John Ronald Reuel Tolkien im »Der Herr der Ringe« die Elbenfürstin Galadriel sagen. Es ist nicht frei von Ironie, dass einem ausgerechnet die an Mythen reiche Fantasy-Literatur durch den Kopf schießt, als die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Christiane Woopen, und der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Jörg Hacker, Anfang Dezember die mit »Globale Wissenschaft - globale Ethik?« überschriebene gemeinsame Tagung in Berlin eröffneten. Doch wer hätte auch erwarten können, dass Forscher, die in den bioethischen Diskursen der letzten zwei Jahrzehnte mehrheitlich stets den Eindruck erweckten, als sei die Freiheit der Forschung das einzige Grundrecht, dem bei einer Kollision mit anderen nichts und niemand Schranken auferlegen dürfe, nun nach gerade ebensolchen Ausschau zu halten?

Zu laut hallen noch die »Argumente« nach, mit denen Forscher, Politiker und Ethikräte in der Debatte um die embryonale Stammzellforschung geradezu verbissen dafür kämpften, dass deutsche Forscher mit aus dem Ausland importierten, embryonalen Stammzellen vermeintlich überzähliger Embryonen arbeiten dürfen. Zellen, die es nach den freilich »nur« lokal gültigen Regeln des damaligen deutschen Embryonenschutzgesetzes nicht einmal hätte geben dürfen. Deutschland sei keine Insel und Forschungskooperationen längst international. Ein Land könne nicht einerseits von den Ergebnissen der nationalen wie internationalen Spitzenforschung profitieren wollen und seinen Akteuren andererseits mit Handschellen drohen, hieß es. Und weil Wissenschaftsfunktionäre und Forscher damals unbedingt an die munter sprudelnden Gelder des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms heranwollten, aber nicht darum herumkamen, dass für die embryonalen Stammzellen - mit denen Wissenschaftler damals vollmundig die Heilung degenerativer Krankheiten wie Parkinson, Multipler Sklerose und sogar Alzheimer versprachen - menschliche Embryonen vernichtet werden mussten, ersannen einige sogar noch eine »Ethik des Heilens«.

»'Was gemacht werden kann, wird eh gemacht', heißt es oft.«

Inzwischen klingt das doch erstaunlich anders: »Wissenschaft und Forschung finden zunehmend unter den Bedingungen internationaler Kooperationen statt. Da liegt der Ruf nach einheitlichen Standards nahe«, befand Woopen. Dabei schien sich die Vorsitzende des Gremiums, das Bundesregierung und Bundestag in bioethischen Fragen beraten soll, weder über das Gewicht der Fragen, die es in diesem Fall zu beantworten, noch über die Widerstände, die es zu überwinden gilt, Illusionen zu machen. »Wie kommen wir zu gemeinsamen ethischen Standards? Und wenn wir sie hätten, wer würde sie durchsetzen? In welchem Umfang sind sie erforderlich oder überhaupt erstrebenswert? Und welche Rolle spielen die Menschenrechte in diesem Zusammenhang?«, fragte Woopen und führte aus: »'Was gemacht werden kann, wird eh gemacht', heißt es oft. Die Skrupellosigkeit reputationssüchtiger, größenwahnsinniger, gewinn- oder machtgetriebener Akteure wird - zusammengenommen mit der Vielfalt ethischer Überzeugungen und der Machtlosigkeit völkerrechtlicher Instrumente - zuweilen als Legitimation für die Prognose einer Zukunft betrachtet, die gar nicht nach ethischen Maßstäben gestaltbar sei. Sollen wir also resignieren? Das kommt meiner Überzeugung nach nicht in Betracht.« »Das intensive Bemühen um gemeinsame ethische Standards unter Berücksichtigung kultureller Vielfalt« lohne sich, »auch wenn es ein langer Weg« sei, es vermutlich auch »Rückschläge« geben werde und »die Möglichkeiten der Durchsetzung noch zu schwach« seien, so Woopen.

Wie die Vorsitzende des Ethikrats nutzte auch der Präsident der Leopoldina seine Begrüßungsansprache dazu, sich auch inhaltlich zu positionieren. Zwar sei die »Freiheit der Forschung« nach wie vor »eine der wesentlichen Grundlagen für Fortschritt und Wohlstand einer Gesellschaft«. Jedoch bestehe »in nahezu allen Wissenschaftsgebieten die Gefahr, dass wichtige und nützliche Forschungsergebnisse zu schädlichen Zwecken missbraucht werden können«. Dies sei »sozusagen intrinsisch in der Wissenschaft angelegt«. Worte, die man - zumindest öffentlich - so wohl auch noch nicht von einem Wissenschaftsfunktionär zu hören bekam.

»Missbrauch ist in der Wissenschaft sozusagen intrinsisch angelegt.«

Dann kam der Biologe und frühere Präsident des Robert-Koch-Instituts, welches in Deutschland unter anderem das Stammzellgesetz exekutiert, auf das zu sprechen, was zumindest die in den Lebenswissenschaften tätigen Wissenschaftler derzeit besonders beschäftigt. »Wir haben im Moment mit einer intensiven Diskussion um die 'Genom Editierung' zu tun.« Das sogenannte »Genome Editing« stelle »eine besonders einfache und zeitsparende Form der gezielten Veränderung von Erbmaterial dar. Die Verfahren finden weltweit Anwendung in der molekulargenetischen Forschung, aber auch zunehmend in der Biotechnologie und in der Biomedizin.« Derzeit werde »national wie international der Einsatz des 'Genome Editing' in der Medizin diskutiert«, so Hacker.

Am selben Tag, an dem die gemeinsame Tagung des Ethikrats und der Leopoldina in Berlin stattfand, war in Washington eine dreitägige Konferenz zu Ende gegangen, die sich ebenfalls mit dem »Genome Editing« beschäftigte. Am Ende ging der sogenannte »International Summit on Human Gene Editing«, der von den nationalen Wissenschaftsakademien der USA, Großbritannien und China gemeinsam ausgerichtet worden war - auch das ein Novum -, jedoch wie das Hornberger Schießen aus. Statt das von vielen erhoffte Moratorium zu verabschieden oder wenigstens in Aussicht zu stellen, einigten sich die Wissenschaftler am Ende lediglich auf eine Erklärung (Auszug: siehe Kasten). Gleich im ersten Punkt halten die Unterzeichner darin fest, dass eine intensive Grundlagen- und vorklinische Forschung notwendig sei und vorangetrieben werden solle und dazu auch Experimente mit frühen menschlichen Embryonen sowie Ei- und Samenzellen des Menschen möglich sein müssten. Allerdings »sollten« die mit dem »Genome Editing« »modifizierten Zellen« nicht genutzt werden, um eine »Schwangerschaft zu etablieren«.

»Weit von einer globalen Selbstbindung entfernt.«

Hacker, der dies in Berlin noch nicht wissen konnte, verwies darauf, dass die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die deutsche Akademie der Technikwissenschaften Acatech und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft sich zu der Frage der Chancen und Grenzen des »Genome Editing« bereits in einer gemeinsamen Stellungnahme geäußert hätten: »Und wir appellieren daran, für sämtliche Formen der künstlichen Keimbahnintervention beim Menschen gerade im Hinblick auf das Genom der Nachkommen ein internationales Moratorium auszusprechen.« »Ich glaube, es ist wichtig, dass wir hier entsprechende Standards entwickeln.« Letztlich bedürfe es eben doch »globaler ethischer Prinzipien«, so Hacker.

Im Juni dieses Jahres will sich die Jahrestagung des Deutschen Ethikrats ausschließlich mit dem »Genome Editing« befassen. Und obwohl sich auf der gemeinsam mit der Leopoldina veranstalteten Tagung nur zwei der zehn Vorträge im engeren Sinne mit ihm befassten, war das »Genome Editing« schon diesmal die ganze Zeit über präsent. Kaum ein Wissenschaftler, der nicht auf es zu sprechen kam.

Das galt auch für den Wissenschaftshistoriker und emeritierten Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Hans-Jörg Rheinberger. Unter der Überschrift »Wissenschaft ohne Grenzen - Herausforderungen einer globalisierten Forschung« legte er einen mitreißenden Parforceritt durch die bisherige globale Geschichte der Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts hin und entschlüsselte so ein ebenso facettenreiches wie bedeutsames Stück Zeitgeschichte. Die weitreichenden Anwendungen gentechnischer Technologien in der Reproduktionsmedizin, zu denen Rheinberger offenbar auch die neue noch junge CRISPR-Cas9-Technologie zählte, jedenfalls sofern, als mit ihr auf Eingriffe in die menschliche Keimbahn gezielt wird, könnten »letztlich nur auf internationaler Ebene verbindlich reguliert werden«.

»Ein liberaler Staat schützt die Freiheit aller.«

Was nach dem Scheitern des Moratoriums in Washington nun allerdings noch schwerer werden dürfte, als es ohnehin wäre. Denn aus der Sicht Rheinbergers ist die Forschung »bisher weit von einer globalen Selbstbindung von Wissenschaftlern oder von verbindlichen überstaatlichen Regelungen entfernt«. »Verschiedene Länder« hätten »bisher auf die Herausforderungen von Gentechnik und Stammzellmanipulation einschließlich der Klonierung humaner Stammzellen mit ganz unterschiedlichen oder gar keinen Festlegungen reagiert. Konkret birgt das die Gefahr eines neuen Nationalismus, der mit einer Art 'Internationalismus' ganz besonderer Couleur einhergehen könnte: ein Wissenschaftstourismus, der ambitionierte Wissenschaftler, die sich durch ihre nationalen Regulierungen behindert fühlen, zur Abwanderung in Länder veranlassen könnte, in denen diese Regulierungen nicht greifen oder nicht beachtet werden.«

Der protestantische Theologe Wolfgang Huber zeigte sich überzeugt, dass eine Verständigung über die Anforderungen, die die Ethik an eine verantwortliche Wissenschaft stelle und die dann auch rechtlich kodifiziert werden könnten, auf völkerrechtlicher Ebene auch trotz eines »weltweiten Wettbewerbs auf dem Feld wissenschaftlicher Innovationen« und der »Pluralität ethischer Kulturen« prinzipiell möglich sei. Als Beispiel nannte er die Bioethik-Konvention der UNESCO von 2005. Auch die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« von 1948 könne als »Beitrag zu einer globalen Ethik« betrachtet werden, da diese ein die rechtlichen Regelungen »überschießendes ethisches Element« besäße. Von den ethischen Regeln, die den Bereich der Rechte beträfen und für deren Universalisierbarkeit gute Gründe sprächen, müssten jedoch die »ethischen Modelle des guten Lebens« unterschieden werden, die auf »persönlichen Lebensformen, kulturellen Übereinkünften oder religiösen Überzeugungen« beruhten. Nur wenn zwischen diesen Feldern unterschieden werde, sei es möglich, universale Übereinkünfte zu erzielen.

Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland redete damit allerdings keiner Privatisierung der Moral das Wort. Im Gegenteil: Das Interesse des Einzelnen am Guten als solchem, für das sich die Ethik als Wissenschaft zu wenig interessiere, sei eine starke Antriebskraft und ermögliche den Widerstand gegen ethische Kapitulationen nach dem Motto: »Wenn ich es nicht mache, machen es die anderen«. Keinen Zweifel ließ Huber daran, woran sich die Wissenschaft als Ganze wie auch der einzelne Forscher messen lassen müsse. So zählten etwa Wissen als Gemeinbesitz, Wissenschaftsfreiheit, Transparenz und Öffentlichkeit, Begründungspflicht und Revisionsbereitschaft sowie eine integre wissenschaftliche Praxis zu den moralischen Maßstäben, die der »Wissenschaft als Beruf« immanent seien. Die Verantwortung des Forschers bezögen sich nicht nur auf die voraussehbaren Folgen wissenschaftlicher Innovationen, sondern schlössen neben dem Gebot der Nachhaltigkeit auch die Verpflichtung ein, die Autonomie anderer zu respektieren und ihnen nicht zu schaden. Diese Verantwortlichkeiten müssten alle Ebenen wissenschaftlichen Arbeitens durchziehen; die »Mikroebene« des Einzelnen, die »Mesoebene« wissenschaftlicher Institutionen als auch die »Makroebene« politischer Institutionen. Heftig kritisierte Huber, dass Länder, die auf Regulierung ethisch umstrittener Technologie verzichteten, stets »liberal« genannt würden. »Liberal« sei ein Staat aber nur, wenn er die »Freiheit aller« schütze und nicht bloß die »einiger weniger«.

»Liberal ist ein Staat nur, wenn er die Rechte aller schützt.«

Der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit, Heiner Bielefeldt, und der Soziologe Hans Joas gingen der Frage nach, wie universalisierbar die Menschenrechte angesichts völlig unterschiedlicher Kulturen und Religionen seien. Von Menschenrechten gesprochen werden könne nur, wenn sie »dem Menschen als Menschen« zukämen und »für alle Menschen gelten«, sagte Bielefeldt. Der Theologe, Philosoph und Historiker machte deutlich, dass der Konsens, der hinsichtlich der Menschenrechte gerne behauptet werde, »oft nur ein rhetorischer« sei. Wichtig sei es daher, »nicht nur an der Implementierung«, sondern auch »an der Klärung« der Menschenrechte zu arbeiten. Unter den Bedingungen eines irreversiblen Pluralismus sei eine Öffnung nach außen in Richtung einer Verständigung über Traditionsgrenzen hinweg, aber auch nach innen, für neue Interpretationen, neue kritische Aneignungen und Wiederentdeckungen unverzichtbar. »Menschenrechte sind nicht die Einheitsideologie, sondern Voraussetzung dafür, dass Menschen im irreversiblen Pluralismus zusammenleben können, und Menschenrechte sind der Versuch, elementare Bedingungen der Möglichkeiten des sinnvollen Miteinander-Redens zu institutionalisieren.«

»Menschenrechte sind keine Einheitsideologie«

Joas widersprach der These, dass die Menschenrechte »westlich« seien, und zeigte, dass es auch in nicht-westlichen Gesellschaften ein Ethos gebe, das an die Menschenrechte anknüpfe. Der Soziologe warnte aber auch vor einem kulturellen Triumphalismus, der sich auf die im »Westen« erreichten Fortschritte berufe. Joas veranschaulichte dies anhand der Geschichte der Abschaffung der Folter: »Wenn wir denken, dass die Abschaffung der Folter als legitimer Bestandteil des Strafrechtssystems Europas im 18. Jahrhundert ein direkter Ausfluss wertmäßiger Überzeugungen war, dann stoßen wir auf den Stolperstein, dass die Europäer in ihren Kolonien die Folter nicht abgeschafft haben.« Im Hinblick auf eine globale Ethik plädierte Joas für einen Dialog, »in dem es anderen kulturellen und religiösen Traditionen ermöglicht wird, auf die Anknüpfungspunkte in sich selbst zurückzugreifen, um den moralischen Universalismus zu formulieren«. Die Selbstwahrnehmung der Vertreter westlicher Werte müsse durch eine Reflexion auf die Außenwahrnehmung des faktischen Handelns von Europäern oder Amerikanern in der Welt gebrochen werden.

Der Unternehmer Johann Peter Ruppersberg forderte eine strenge Kontrolle der industriellen Forschung und Produktentwicklung durch staatliche Autoritäten. Politiker sollten sich auf die Schaffung optimaler Rahmenbedingungen und gezielte Förderung von »ethisch guten« Unternehmen konzentrieren. Dies sei, so Ruppersberg weiter, durchaus auch im Interesse der Unternehmen. Laut Ruppersberg ist es nämlich ein Irrtum, zu meinen, Manager, die ethisch motiviert handelten, seien die schlechteren Ökonomen.

»Unternehmen benötigen ethisch motiviertes Leitbild«

»Ein wichtiges Ergebnis neuerer wissenschaftlicher Forschung ist, dass langfristig erfolgreiche und besonders profitable Unternehmen nicht die Gewinnmaximierung als Leitziel haben, sondern dass sie ein ethisch motiviertes Leitziel brauchen, das dazu führt, dass ein Unternehmen langfristig erfolgreich ist.«

Enttäuschend fiel der Vortrag von Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) aus. Selbst die Pressemitteilung des Ethikrats fand offenbar nur einen einzigen Satz mitteilenswert: »Forschung bedeutet, dass man moralische Verantwortung trägt und die richtigen Fragen stellt.«

Auch Forscher tragen moralische Verantwortung

Die Technikphilosophin Nicole Karafyllis von der Technischen Universität Braunschweig betonte in ihrem Beitrag, Biopolitik sei immer auch Sprachpolitik. In ihrem Vortrag, der die philosophischen Aspekte des »Genome Editings« beleuchte, hinterfragte sie die »Begriffspolitik«, die hinter der Verwendung von »Genome Editing«, Gen-Chirurgie oder Gentherapie stehe, und verwies darauf, dass damit normative Aussagen zur Art der Forschung und ihrer Anwendung bereits avisiert seien. Während das »Genome Editing« mit der Grundlagenforschung assoziiert werden könne, zielten Gen-Chirurgie und Gentherapie bereits auf die Anwendung. »Machbarkeit« sei kein »ethisches Kriterium«, erinnerte die Philosophin und fragte, ob man noch von Grundlagenforschung sprechen könne, wenn man bereits die Anwendung vor Augen habe.

»Machbarkeit ist kein ethisches Kriterium«

Als Boris Fehse, Leiter der Forschungsabteilung für Zell- und Gentherapie am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, den Zuhörern den naturwissenschaftlichen Sachstand der CRISPR/Cas9-Technologie näherbrachte, war der Saal wieder voll da. Fehse hob hervor, wie effizient und einfach zu handhaben die neuen Genscheren seien, aber auch, welche Möglichkeiten und Risiken für den Bereich der somatischen Gentherapie wie auch für Eingriffe in die Keimbahn beim Menschen damit verbunden sind. Dabei konnte er auch zeigen, dass für die praktische Anwendung ähnliche Begrenzungen bestünden wie für bisher benutzte Gentherapietechniken. Am einfachsten seien Ex-vivo-Anwendungen an einzelnen Zellen. Und als Fehse am Ende seines Vortrags Bilder von Beagles zeigte, deren Muskelmasse chinesische Forscher mittels CRISPR/Cas9 verändert hatten, meldete sich auch Tolkien wieder: »Ein Protein, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.«


IM PORTRAIT

Stefan Rehder, M.A.
Der Autor, geboren 1967, ist »Chef vom Dienst« der überregionalen, katholischen Tageszeitung »Die Tagespost«, Redaktionsleiter von »LebensForum« und Leiter der Rehder Medienagentur. Er studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Köln und München und hat mehrere bioethische Bücher verfasst, darunter »Grauzone Hirntod. Organspende verantworten« und »Die Todesengel. Euthanasie auf dem Vormarsch.« Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2010 bzw. 2009. Stefan Rehder ist verheiratet und Vater von drei Kindern.


INFO
Sicherheitsfragen noch nicht angemessen geklärt

Auszug aus der Erklärung des »International Summit on Human Gene Editing«:

»(...) 3. Klinische Anwendung: Keimbahn. Das Prinzip des Genom-Editings kann auch verwendet werden, um in Keimzellen oder Embryonen gentechnische Veränderungen vorzunehmen, die in sämtlichen Zellen des entstehenden Kindes vorhanden sein werden und an nachfolgende Generationen als Teil des menschlichen Gen-Pools weitergegeben werden. Beispiele reichen von der Vermeidung schwerer Erbkrankheiten bis zur Steigerung (»Enhancement«) menschlicher Fähigkeiten. Zu solchen Änderungen an menschlichen Genomen könnten die Einführung natürlich vorkommender Varianten oder völlig neuartige gentechnische Veränderungen gehören, die man als vorteilhaft erachtet.

Keimbahn-Editing birgt eine Reihe ernst zu nehmender Gefahren, darunter: (i) das Risiko ungenauen Editings (wie etwa ungewünschte Mutationen) sowie das Risiko eines unvollständigen Editings der Zellen von Embryonen im frühen Stadium (Mosaizismus); (ii) die Schwierigkeit, schädliche Auswirkungen vorherzusagen, die gentechnische Veränderungen unter den vielen Umständen, die die menschliche Bevölkerung erlebt, nach sich ziehen können, darunter Interaktionen mit anderen gentechnischen Varianten und mit der Umwelt; (iii) die Pflicht, die Auswirkungen sowohl auf das Individuum als auch auf künftige Generationen, die die gentechnischen Veränderungen in sich tragen, zu beachten; (iv) die Tatsache, dass gentechnische Veränderungen nur schwer rückgängig gemacht werden könnten und nicht innerhalb einer Gemeinschaft oder eines Landes blieben, sobald sie an einem Menschen vorgenommen wurden; (v) die Möglichkeit, dass dauerhafte gentechnische »Enhancements« in Teilgruppen der Bevölkerung soziale Ungleichheiten verschärfen oder zur Unterdrückung genutzt werden könnten; und (vi) die moralische und ethische Fragwürdigkeit eines gezielten Eingriffs in die menschliche Evolution mithilfe dieser Technologie. Es wäre unverantwortlich, mit jeglicher Form der klinischen Anwendung von Keimbahn-Editing fortzufahren, wenn nicht (i) die relevanten Fragen der Sicherheit und Wirksamkeit geklärt wurden, basierend auf dem gründlichen Verständnis und Abwägen von Risiken, potenzieller Vorteile und Alternativen, und (ii) innerhalb der Gesellschaft ein breiter Konsens bezüglich der Angemessenheit des diskutierten Verfahrens herrscht.

Zudem sollte jegliche Form der klinischen Anwendung nur unter angemessener regulatorischer Aufsicht erfolgen. Zur Stunde wird man diesen Kriterien noch nicht gerecht: Sicherheitsfragen wurden noch nicht in angemessener Weise geklärt; die Fälle, in denen sich das Verfahren als zweifellos vorteilhaft erwies, sind begrenzt; und in vielen Ländern existiert ein gesetzliches oder regulatorisches Verbot von Keimbahn-Modifikation. Da jedoch der wissenschaftliche Kenntnisstand wächst und sich gesellschaftliche Ansichten verändern, sollte regelmäßig über die klinische Anwendung des Keimbahn-Editings diskutiert werden. (...)«

*

Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 117, 1. Quartal 2016, S. 8 - 12
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel: 0821/51 20 31, Fax: 0821/15 64 07
E-Mail: info@alfa-ev.de
Internet: www.alfa-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang