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ETHIK/1268: Interview - Tod des Gehirns nicht mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 126 - 2. Quartal 2018
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

»Alternative Wahrheit«

Stefan Rehder sprach mit Axel W. Bauer


Der Tod des Organs Gehirn kann nicht mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden, meint der Mannheimer Arzt und Medizinethiker Professor Dr. med. Axel W. Bauer und fordert im Interview mit »LebensForum« eine umfassende Aufklärung potenzieller Organspender.


LebensForum: Herr Professor Dr. Bauer, der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, hat im Vorfeld des diesjährigen Ärztetages in Erfurt eine offene Debatte über die Organspende gefordert. Als Medizinhistoriker, der Sie ja auch sind, müsste Sie das freuen. Denn eine offene Debatte über Entnahme- und Vergabekriterien von Organen gab es in Deutschland noch nie. Oder täuscht dieser Eindruck?

Professor Dr. med. Axel W. Bauer: Zunächst einmal ist wirklich zu hoffen, aber nach meiner Einschätzung leider keineswegs sicher, dass Herr Kollege Montgomery tatsächlich eine in jeder Hinsicht offene, also kontrovers geführte Debatte mit unterschiedlichen Argumentationslinien im Sinn hat. Da er selbst sich bereits für eine Widerspruchslösung bei der Organentnahme ausgesprochen hat, ist mit der eingeforderten »Offenheit« vermutlich aber nur der unverhüllte Generalangriff auf die im deutschen Transplantationsgesetz (TPG) seit 1997 festgeschriebene erweiterte Zustimmungslösung gemeint, die auf die aktive Zustimmung der Bürger zur Organentnahme im Fall ihres sogenannten »Hirntodes« setzt. Künftig soll man, um eine Organentnahme verhindern zu können, zuvor Widerspruch eingelegt haben müssen. Damit würde die Organentnahme nach einer »Hirntodfeststellung« dann zum Regelfall, weil der Staat und in diesem Fall leider auch die organisierte Ärzteschaft auf das Desinteresse und die Passivität der meisten Bürgerinnen und Bürger setzen.

Die Landesärztekammer Hamburg hat eine Resolution verabschiedet, mit welcher der Deutsche Bundestag aufgefordert wird, die Einführung der sogenannten Widerspruchsregelung in Deutschland zu prüfen. Was hält der Medizinethiker Axel W. Bauer davon?

Die Transplantationsmedizin benötigt zur Organspende Lebende, die zugleich tot sein sollen. Das ist schon ein ziemlicher intellektueller Spagat, ein seriös nicht auflösbarer Widerspruch. Im Jahre 1968 wurde deshalb an der Universität Harvard die sogenannte »Hirntoddefinition« entwickelt. Sie besagt, dass wegen einer als irreversibel angesehenen Schädigung des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms und wegen des damit verbundenen Ausfalls der integrativen Funktionen des Gehirns der Eintritt des Todes unumkehrbar sei. Dabei handelt es sich aber um keine gewöhnliche medizinische Diagnose, sondern um eine auf die Zukunft bezogene Prognose, die nur deshalb nicht falsifizierbar ist, weil der für »hirntot« erklärte Patient in der unmittelbaren Folge entweder durch die Organentnahme stirbt oder weil andernfalls die lebenserhaltende Intensivtherapie beendet wird. Danach ist der »Hirntote« in beiden Fällen unzweifelhaft tot. Es liegt also eine self-fulfilling prophecy vor, eine selbsterfüllende Prophezeiung, die dadurch wahr wird, dass man sie ausspricht und die entsprechenden Konsequenzen zieht.

Seit einer Änderung von § 2 Absatz 1a des Transplantationsgesetzes im Jahre 2012 schreiben die Krankenkassen in Deutschland alle Versicherten ab 16 Jahren - darunter Jugendliche, Schwerkranke, Suizidgefährdete oder Behinderte - regelmäßig an und erfragen ihre Bereitschaft zur Organspende. Der Staat übt dadurch bereits jetzt massiven moralischen Druck auf seine Bürgerinnen und Bürger aus: Wer nicht bereit ist, sich nach dem »Hirntod« Organe entnehmen zu lassen, soll sich schuldig fühlen, wenn anderen Menschen, deren Organe durch eine schwere Krankheit irreparabel zerstört sind, nicht geholfen werden kann.

Sie lehnen eine Widerspruchsregelung also ab?

Ja, ohne Einschränkung. Die Entscheidung über eine derart persönliche Frage sollte den Bürgern nicht dadurch aufgedrängt werden, dass sie einer Organentnahme ausdrücklich widersprechen müssen. Eine Widerspruchslösung käme einer sozialen und moralischen Pflicht zur Organspende gleich. Menschliche Organe sind aber keine Produkte, die bestellt und ausgeliefert werden können. Mit Blick auf die Würde des Menschen, die auch dem »Hirntoten« zukommt, macht das deutsche Transplantationsgesetz bisher die Organentnahme von einer Einwilligung des Betreffenden, seiner engsten Angehörigen oder einer anderen Person abhängig, die der potenzielle Organspender benannt hat. Im Fall einer Widerspruchslösung gälte der Umkehrschluss: »Im Zweifel gehören deine Organe uns.« Ethische Debatten werden bei uns jetzt fast nur noch unter dem Aspekt des Organmangels geführt. Das ist jedoch keine hinreichende Rechtfertigung dafür, angeblich Toten Organe zu entnehmen, weil zuvor kein Widerspruch eingelegt wurde. Im Übrigen ist ja bereits der Begriff der »Spende« im Zusammenhang mit dem »Hirntod« ein zwar schon seit 50 Jahren selbstverständliches, aber dennoch im Grunde genommen unglaubliches sprachliches Monstrum: Ich wüsste nämlich ansonsten keinen Lebenssachverhalt zu benennen, bei dem ein Spender seine Spende grundsätzlich nicht überleben kann.

Sie sprechen von »angeblich Toten«. Ist der Hirntod also nicht der Tod des Menschen?

In der Fachwelt gibt es inzwischen massive Zweifel sowohl an der eindeutigen Diagnostizierbarkeit des »Hirntodes« wie auch an der Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen. Dass diese Definition eine Wunschvorstellung, nicht aber eine biologische Realität ist, wird mittlerweile selbst von Wissenschaftlern zugegeben, die sie seinerzeit mit aufgestellt haben. Das erklärte uns zum Beispiel am 21. März 2012 der Pädiatrische Neurologe und langjährige Verteidiger der Hirntoddefinition Professor Alan Shewmon aus Los Angeles bei einer Anhörung des Deutschen Ethikrates in Berlin. Herr Shewmon stellte fest, dass sogenannte Hirntote noch längere Zeit biologisch leben können. So haben Frauen noch mehrere Monate nach dem Eintritt der mit »Hirntod« bezeichneten Situation Kinder geboren, Männer sind noch zeugungsfähig. Schon 2008 konzedierte der amerikanische Anästhesiologe, Kinderarzt und Medizinethiker Robert D. Truog von der Harvard-Universität gemeinsam mit seinem Kollegen Franklin Miller von den National Institutes of Health, die Praxis des Hirntod-Kriteriums habe tatsächlich die Tötung des Spenders zur Folge. Truog und Miller forderten aber gerade nicht als Konsequenz daraus, die derzeitige Praxis der Organentnahme zu beenden, sondern sie kamen zu dem wohl kaum widerspruchslos hinnehmbaren Schluss, dass die Regel, wonach der Spender tot zu sein habe, aufgegeben werden müsse: Die Tötung des Patienten durch Organentnahme solle künftig einfach durch den guten Zweck der Organspende als »gerechtfertigt« angesehen werden!

Institutionen wie die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) oder die Gesetzlichen Krankenkassen sprechen in ihren Informationsbroschüren und -schreiben meist von der »postmortalen Organspende«. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wären das dann jedoch »Fake News«, oder?

Genau so ist es, es geht um eine »alternative Wahrheit«, die aber inzwischen den Status eines Dogmas erreicht hat. Die begründeten Zweifel daran, dass der »Hirntod« gerade nicht der Tod des ganzen Menschen ist, machen eigentlich eine umfassende, nicht interessengeleitete Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger notwendig. Diese müssten darüber informiert werden, dass die Organe eines »Hirntoten« in Wahrheit die vitalen Organe eines Sterbenden sind, die durch eine den Spender zum Tode führende Operation entnommen werden. Es wäre aber auch geboten, darüber aufzuklären, dass ein Sterbender, dem Organe entnommen werden sollen, aufgrund des Interesses an diesen seinen Organen in der Regel durch die dann ausschließlich nur noch fremdnützig handelnde Intensivmedizin länger am Leben erhalten wird, als dies sonst der Fall wäre. Das Ziel, möglichst »frische« Organe transplantieren zu können, führt zu einer Konzentration der medizinischen Bemühungen auf die Vitalerhaltung dieser Organe. Die in der Regel auf die Beendigung von Therapiemaßnahmen zielende Patientenverfügung einerseits und die Erklärung einer Organspendebereitschaft andererseits geraten somit gegebenenfalls in Widerspruch zueinander.

Befürworter der Widerspruchslösung argumentieren, viele Patienten, die auf der sogenannten Warteliste stehen, stürben, weil es einen Mangel an Organen gäbe. Sie sind ja auch Arzt. Lässt Sie das eigentlich kalt?

Auch hier wird ja nicht ehrlich argumentiert. Wenn jemand sehr, sehr krank ist, sodass eines seiner lebenswichtigen Organe endgültig den Dienst versagt, dann kann man doch nicht einfach einen anderen Menschen, der seinerseits gerade infolge einer schweren Schädigung seines Gehirns im Sterben liegt, dafür verantwortlich machen! Das ist doch eine zynische Argumentation mit dem einzigen Ziel einer ethisch nicht gerechtfertigten moralischen Erpressung der Bürgerinnen und Bürger. Die technischen Erfolge der Transplantationsmedizin haben leider dazu geführt, dass die ethischen Debatten in diesem Themenfeld inzwischen nahezu exklusiv unter dem Aspekt des Organmangels geführt werden. Dieser relative Organmangel ist indessen keine Naturkonstante, sondern seinerseits eine Folge der steigenden Zahl von Organtransplantationen durch wissenschafts- und technikbedingte Ausweitung der medizinischen Indikation zur Operation. Man kann daher die Prognose wagen: Je erfolgreicher die Transplantationsmedizin in qualitativer und quantitativer Hinsicht künftig sein wird, desto unstillbarer wird ihr Bedarf an Organen und damit der relative Organmangel werden. So verständlich und notwendig die empfängerzentrierte Sichtweise auf das Thema Organtransplantation auch sein mag, so deutlich muss aus ethischer Perspektive vor einer Blickverengung gewarnt werden, bei der die Besonderheit dieses Behandlungsverfahrens nicht mehr beachtet würde: Einen rechtlichen oder auch nur einen moralischen Anspruch auf die Überlassung fremder Organe, die konstitutiver Teil einer anderen Person waren oder sind, kann es um der Würde des Menschen willen, die auch die Würde des Organspenders und unser aller Würde mit umfasst, nicht geben. Insofern müssen sich Medizin und Gesellschaft bei allem Fortschrittsoptimismus auf diesem Feld auch künftig in eine gewisse Selbstbegrenzung ihrer Wünsche fügen.

Haben Sie selbst einen Organspendeausweis?

Ich habe schon seit 1996 einen Organspendeausweis. Damals bin ich, das muss ich zugeben, noch ziemlich unreflektiert und naiv an das Thema herangegangen. In den letzten zehn Jahren habe ich meine Einstellung allerdings geändert, und ich habe daher Ende 2012 einen neuen Organspendeausweis ausgefüllt, den ich immer bei mir trage. Der Organspendeausweis lässt ja fünf Alternativen zu, die man ankreuzen kann: 1. Ja, ich gestatte, dass nach der ärztlichen Feststellung meines Todes meinem Körper Organe und Gewebe zur Transplantation entnommen werden. 2. Ja, ich gestatte dies, mit Ausnahme folgender Organe und Gewebe: [...] 3. Ja, ich gestatte dies, jedoch nur für folgende Organe/Gewebe: [...] 4. Nein, ich widerspreche einer Entnahme von Organen oder Geweben zur Transplantation. 5. Ich habe die Entscheidung übertragen auf [...].

Natürlich sollte man sich - dieses Mal wirklich nur aus moralischen und nicht aus juristischen Gründen - darüber im Klaren sein, dass ein Ankreuzen der vierten Alternative den Unterzeichner im Grunde genommen dazu verpflichtet, sich seinerseits im Fall einer schweren Erkrankung ebenfalls kein Organ eines fremden »Hirntoten« transplantieren zu lassen. Wie auch immer man sich aber entscheidet, ich finde schon, dass man sich höchstpersönlich entscheiden soll, damit nicht eines Tages andere diese schwere Entscheidung treffen müssen. Niemand muss übrigens befürchten, schon sehr bald zu sterben, nur weil er heute einen Organspendeausweis ausfüllt. Ich lebe zum Beispiel schon 22 Jahre problemlos mit einem solchen Ausweis.

Vielen Dank für das Gespräch!


IM PORTRAIT

Professor Dr. med. Axel W. Bauer, geboren 1955 in Karlsruhe, ist Leiter des Fachgebiets Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Von 2008 bis 2012 war er Mitglied des Deutschen Ethikrats, der Bundesregierung und Parlament in bioethischen Fragen berät.


BUCHTIPP

Axel W. Bauer: Normative Entgrenzung. Themen und Dilemmata der Medizin- und Bioethik in Deutschland.
Springer VS Verlag, Wiesbaden 2017. 300 Seiten. 39,90 EUR.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Werden häufig gleichgesetzt: der Tod des Organs Gehirn und der Tod des Menschen
- Die Widerspruchslösung wirft die Frage auf: Wem gehören die Organe eines Menschen?

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 126, 2. Quartal 2018, S. 7 - 9
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Alexandra Maria Linder M.A. (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2018

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