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ETHIK/1281: Jahrestagung - Menschenwürde im Angesicht neuer Technologien (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 23 - Juli 2018 - 02/18

Jahrestagung
Menschenwürde im Angesicht neuer Technologien


Weit über 600 Teilnehmer fanden sich zur Jahrestagung des Deutschen Ethikrates im Ellington Hotel in Berlin ein, mit der der Rat am 27. und 28. Juni sein zehnjähriges Bestehen feierte.

"Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"

An dieser von Friedrich Schiller formulierten Mahnung wollte der Deutsche Ethikrat die Herausforderungen messen, die neueste technologische Entwicklungen für die Menschenwürde bedeuten oder bedeuten könnten. Im Fokus der Tagung standen sowohl eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Menschenwürde und seinem Stellenwert in den aktuellen bioethischen und verfassungsrechtlichen Debatten als auch drei Technologiebereiche, die das menschliche Selbstverständnis aktuell in besonderer Weise herausfordern: Eingriffe in das Gehirn, Eingriffe in das Genom und Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz.

Entwicklungen in diesen drei Bereichen scheinen auf jeweils unterschiedliche Weise die Menschenwürde gefährden oder die Tragfähigkeit des Konzepts infrage stellen zu können. Umso wichtiger sei es, Mittel und Wege zu sondieren, den Prozess der technologischen Entwicklung nicht nur effektiv und effizient, sondern auch in einem freiheitsund gesellschaftsförderlichen Sinne verantwortlich zu gestalten, hob der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Peter Dabrock in seiner Begrüßung hervor.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble betonte in seinem Grußwort, dass es nicht um das "Ob", sondern um das "Wie" neuer Entwicklungen gehen müsse. Hierfür seien vor allem Regeln nötig, die einer Gesellschaft, die sich der Digitalisierung weitgehend ausgeliefert sieht, Halt und Orientierung bieten. Solche Regeln dürften sich jedoch weder den vielfältigen Chancen, die solche Technologien bieten, verschließen, noch losgelöst von ethischen Grundprinzipien sein. Der Ethikrat mit seiner breit gefächerten Fachkompetenz sei hier ein wichtiges Scharnier zwischen der Fachwelt und der Politik, die auf der Grundlage dringend benötigter ethischer Maßstäbe aktiv werden sollte. Mit Blick auf Eingriffe in das Gehirn, in das Genom und Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz gelte es, jenen Merkmalen und Fähigkeiten, die den Menschen ausmachten - "Wahrnehmen, Lernen, Entscheiden, Hoffen und Empfinden" - zu angemessener Geltung zu verhelfen.

Die im Grußwort anklingende humanistische Idee, der zufolge Gefühle ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen sind, stellte allerdings der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Eröffnungsvortrag infrage. Die teils bereits vollzogene, teils noch bevorstehende Fusion von Informations- und Biotechnologie werde es ermöglichen, Gefühle und fühlende Organismen in Algorithmen zu übersetzen und damit auch zu "hacken". Für den Menschen berge dies die Gefahr, durch Algorithmen ersetzt und ökonomisch nutzlos zu werden. Außerdem könnten die Geräte, die wir verwenden, uns bald besser kennen, als wir es selbst tun. Die radikal verbesserten Möglichkeiten der Verhaltensanalyse und -manipulation würden in Kombination eventuell dazu führen, dass Demokratien von digitalen Diktaturen abgelöst werden. Noch einschneidender wären die Folgen des Verschmelzens von Bio- und Informationstechnologien, wenn sich Organismen ebenso wie die Maschinen, mit denen sie sich immer mehr verbinden, gezielt entwerfen ließen. So sei es denkbar, dass die Gesetze der natürlichen Selektion, denen das Leben seit seinem Anbeginn unterworfen ist und in denen bekanntlich der Zufall eine entscheidende Rolle spielt, ersetzt werden durch die Logik einer zweckorientierten Ingenieursperspektive. Harari ist allerdings nicht der Ansicht, dass wir gegenüber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kapitulieren müssen. Die schwierigste Herausforderung unserer Zeit bestehe jedoch darin, über den Umgang mit Algorithmen zu entscheiden, während all unsere Entscheidungen gleichzeitig der Manipulation von Algorithmen ausgesetzt seien.

Menschen "hacken" und Mensch und Maschine voneinander abgrenzen zu können, setzt jedoch ein Wissen sowohl darüber voraus, was der Mensch ist, als auch darüber, wo Leben beginnt und endet, wandte die Technikwissenschaftlerin Sheila Jasanoff in ihrem anschließenden Vortrag ein. Die konvergierenden Technologien des 21. Jahrhunderts stellten insbesondere deshalb eine neue Herausforderung dar, weil sie die Definition von Leben und vom Menschen sowie unsere Ideen von Subjektivität und dem Selbst infrage stellten. Man müsse daher fragen, was es für den Begriff der Menschenwürde, der fest mit den Konzeptionen von Selbst und Person-Sein verbunden scheint, bedeutet, wenn gerade diese Konzeptionen durch die technologische Entwicklung fragwürdig werden. Wie lässt sich die Menschenwürde, die uns wiederum als Grundlage des Schutzes anderer Werte dient, gegen solche theoretisch-konzeptionellen Herausforderungen verteidigen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, bedürfe es erheblicher institutioneller Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene. Zusammen mit einem interdisziplinären Expertenteam hat Sheila Jasanoff deshalb einen Vorschlag für ein globales Observatorium zum Umgang mit GenomeEditing erarbeitet, der sich auch auf andere Technologien ausweiten ließe. Wesentlich sei es, die Debatte offen und in einer Weise inklusiv zu gestalten, die auch radikale Meinungen aus verschiedensten Kulturen gelten lasse.

Hieran knüpfte der Bioethiker Henk ten Have mit seiner Beobachtung an, dass Menschenwürde nicht ohne Menschenrechte gedacht werden könne, da sich der Praxiswert der Menschenwürde nur in diesen ausdrücke. Es stünde im Einklang mit der fortschreitenden Globalisierung, die sich auch in einem kosmopolitischen Selbstverständnis niederschlage, dass der entsprechende bioethische Diskurs auf globaler Ebene geführt werden müsse. Menschenwürde und Menschenrechte fungierten hier als Ausgangspunkt, Grundprinzip und Beschränkung zugleich. Rahmenwerk für den Diskurs sei zum einen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 und zum anderen die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte der UNESCO von 2005.

Trotz dieser gemeinsamen internationalen Grundlage, so wurde in der anschließenden Diskussion mit den Mitgliedern des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx und Sigrid Graumann, herausgestellt, gebe es keinen globalen Konsens darüber, worin Menschenwürde konkret besteht und wie sie zu schützen ist. Dennoch müsse die internationale Debatte vorangetrieben werden, auch um Menschen in weniger menschenrechts-freundlichen Ländern zur Wahrnehmung ihrer Rechte zu befähigen.

Menschenwürde aus philosophischer und rechtlicher Sicht

Aus philosophischer Perspektive schlug Hille Haker am Nachmittag vor, die Menschenwürde als verletzliche Freiheit zu verstehen. Es reiche nicht aus, die Würde des Menschen in der Tradition Kants über dessen Vernunftbegabung und die aus dieser resultierende Freiheit zu bestimmen. Vielmehr verdiene auch das Element der Verletzlichkeit Berücksichtigung. Würde sei einerseits etwas zu Achtendes und andererseits immer auch eine Haltung, die sich im verantwortlichen Umgang mit anderen verletzlichen Menschen und deren Umwelt ausdrücke. "Die Verletzlichkeit bestimmt die Freiheit im moralischen Sinn, wie umgekehrt die Freiheit der Fluchtpunkt der Verletzlichkeit ist", bringt Haker ihre These auf den Punkt. Deshalb entwürdige eine moralische Verletzung den Entwürdigenden ebenso wie den Entwürdigten. Die primäre bioethische Frage laute, in welcher Weise die neuen technologischen Entwicklungen die menschliche Fähigkeit beeinflussen, in wechselseitigem Respekt vor des anderen verletzlicher Freiheit miteinander zu leben.

Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes - "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" - kenne die von Haker aufgezeigte positive Pflichtendimension der Menschenwürde allerdings nicht, wie Staatsrechtler und Ethikratsmitglied Wolfram Höfling in der späteren Diskussion klarstellte. Auch die negative Schutzfunktion von Art. 1 Abs. 1 GG sei, wie der Verfassungsrechtler Martin Nettesheim in seinem Vortrag zur juristischen Perspektive aufzeigte, klärungsbedürftig, weil die Menschenwürde zwar als unverfügbar gilt, das zu schützende Gut aber nicht klar bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund seien drei Axiome zu formulieren: Menschenwürdeschutz müsse sich als absolute Grenze des demokratisch legitimierten staatlichen Handlungsvermögens rechtfertigen lassen; Menschwürdeschutz müsse nicht nur besonders intensiver Schutz bedeutsamer menschlicher Belange und Interessen sein, sondern ein Grundrecht hinter den Grundrechten; und er dürfe niemals schon konkrete Bedingungen zur Absicherung des Selbstwertgefühls der Bevölkerung beinhalten. Würde sei als normative Konstruktion einer Eigenschaft des Menschen zu verstehen. Die Funktion von Art. 1 Abs. 1 GG bestehe darin, die Bedingungen zu schützen, die für die Wahrnehmung der eigenen Belange erforderlich sind.

In der anschließenden Diskussion wies der Philosoph Carl Friedrich Gethmann, Mitglied des Deutschen Ethikrates, unter anderem darauf hin, dass der Menschenwürdebegriff nur dann eine Rechtfertigungsfunktion für andere Normen haben könne, wenn er diese nicht bereits enthalte. Deshalb empfehle es sich, den Menschenwürdebegriff auf das kantische Instrumentalisierungsverbot zu beschränken, welches besagt, dass die Menschheit sowohl in der eigenen als auch in jeder anderen Person niemals bloß als Mittel gebraucht werden dürfe. Zudem sei Verletzlichkeit graduierbar und könne deshalb nicht konstitutiver Bestandteil von Würde als seinerseits nicht graduierbarem Merkmal sein.

Auch der Frage, was unter einem Grundrecht hinter den Grundrechten verstanden werden könne, wurde in der weiteren Diskussion nachgegangen. Dabei stellte sich heraus, dass es sich hierbei lediglich um eine Metapher handeln könne, da sich Art. 1 Abs. 1 GG in struktureller Hinsicht nicht von den anderen Grundrechten unterscheide. Dies zeige sich auch darin, dass andere Grundrechte, wie etwa das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG, Bedingung der Möglichkeit von Würdeansprüchen seien. Würdeverletzungen, so konkretisierte Wolfram Höfling, seien gar nicht denkbar, ohne gleichzeitig spezifische Freiheits- und Gleichheitsgarantien zu verletzen. Deshalb sei die primäre Funktion von Art. 1 Abs. 1 GG nicht, vor Verletzungen zu schützen, sondern vor einer spezifischen entwürdigenden Art der Verletzung.

Eingriffe in das Gehirn

In ihrer Einführung in den ersten im Zusammenhang mit der Menschenwürde beleuchteten Bereich neuer Technologien erläuterte die Neurowissenschaftlerin und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Katrin Amunts die Möglichkeiten, in das hochkomplexe menschliche Gehirn mit seinen bis zu 86 Milliarden Nervenzellen einzugreifen. Zu verstehen, wie die Organisation des Gehirns und Verhalten zusammenhängen, ist eine große Herausforderung, aber auch Voraussetzung, Erkrankungen des Gehirns wirksam zu behandeln. Eingriffe in das Gehirn bei Patienten mit Bewegungsstörungen können beispielsweise durch Interventionen wie die Tiefe Hirnstimulation erfolgen, deren Mechanismen und Auswirkungen Gegenstand von intensiver Forschung sein müssen. Möglichkeiten der Manipulation ergeben sich auch durch die Optimierung von Hirnfunktionen bei Gesunden (z.B. Neuroenhancement) oder im Zusammenhang von Big Data. Die "Eindringtiefe" als auch der "Grad der Berührung der Menschenwürde" variieren dabei.

Welche Eingriffe in das Gehirn sich ethisch legitimieren lassen, hängt auch nach Ansicht der Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert stark von der Art und dem Zweck des jeweiligen Eingriffs ab. Während sich Eingriffe, die auf Therapie bzw. Prävention von Krankheiten einerseits, und solche, die auf Kontrolle von Individuen durch Dritte andererseits, abzielen, nach jeweils "eher konservativen und konsensfähigen Kriterien individueller Anrechte auf Selbstbestimmung, Selbstachtung, Schadensvermeidung und Wohlergehen" bewerten ließen, sei die Beurteilung von Neuroenhancement-Interventionen schwieriger. Zum einen erbe der Begriff des Enhancements, verstanden als "Verbesserung von Leistungen und Eigenschaften bei Gesunden" die terminologischen Unschärfen des Gegensatzes zwischen Krankheit und Gesundheit; zum anderen stellten sich Fragen nach dem inhärenten Wert von Naturbelassenheit und nach dem normativen Status der Grenzen der Medizin. Schöne-Seifert plädierte für einen moderaten Liberalismus im Umgang mit Neuroenhancement, der den moralischen Status von Menschen nicht von deren angeblich unveränderlicher Natur abhängig macht, sondern sowohl therapeutische als auch Eingriffe des Enhancements danach beurteilt, inwiefern sie einen Beitrag zur Ermöglichung guten Lebens leisten. Diese Position genauer auszugestalten, sei ein Menschheitsprojekt mit offener Zukunft.

In einem ergänzenden Kommentar plädierte Rechtsphilosoph und Ratsmitglied Reinhard Merkel für die Einführung eines Rechts auf mentale Selbstbestimmung, das auch Eingang in die internationalen Menschen- bzw. Grundrechtskataloge finden sollte. Ein solches Recht umfasse sowohl ein "Abwehrrecht gegen jede von keiner Einwilligung gedeckte, hinreichend gewichtige und direkt auf das Gehirn einwirkende Intervention in die mentale Sphäre einer anderen Person" als auch ein "Gestaltungsrecht im Hinblick auf die autonome Verfügung über die eigenen Bewusstseinszustände." Dies ergebe sich aus den grundsätzlichen Aufgaben des Rechts, Menschen mit implantierten Neuroprothesen vor illegitimen Eingriffen durch Dritte sowie Personen allgemein vor unfreiwilligen Manipulationen und Enhancements zu schützen und bestimmte Grenzen der individuellen Selbstmanipulation zu erzwingen.

Amunts und Schöne-Seifert äußerten sich in der anschließenden Diskussion in Bezug auf die mentale Selbstbestimmung zwar grundsätzlich zustimmend, deuteten jedoch auch auf Probleme mit der Operationalisierung und Sanktionierung der entsprechenden Rechtsverletzungen hin. Außerdem müsse ein Recht auf mentale Selbstbestimmung auch auf subtilere Beeinflussungen mit ökonomischen Zwecken, wie es sie etwa in der Werbung gebe, anwendbar sein. Es sei ferner zu berücksichtigen, dass die Auswirkungen der Optimierung des Menschen auch Einfluss auf die Gesellschaft haben, weshalb man leicht in eine Wettkampfspirale geraten könne. Denn "wenn sich alle auf die Zehenspitzen stellen, sieht keiner besser", so Schöne-Seifert. Die Notwendigkeit zum ethisch reflektierten Handeln und Forschen wurde thematisiert sowie die Schwierigkeit mitunter festzustellen, ob Personen die Fähigkeit zur informierten und freiwilligen Einwilligung auch besitzen.

Eingriffe in das Genom

Die Diskussion darüber, ob und wie jüngste Fortschritte im Bereich der Gentechnik die Menschenwürde berühren, konzentriert sich seit einigen Jahren auf mögliche Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Deren künftige Machbarkeit erscheint wesentlich plausibler, seit Entwicklungen neuer Genome-Editing-Technologien wie der CRISPR/Cas-Methode, zunehmend schnellere, leichtere und präzisere Veränderungen im Genom möglich machen.

Seit der Deutsche Ethikrat dieses Thema auf seiner Jahrestagung 2016 zum ersten Mal breit diskutierte, haben Forscher in mehreren Experimenten genetische Eingriffe an menschlichen Embryonen durchgeführt. Sollten Keimbahneingriffe am Menschen eines Tages sicher möglich sein, sieht der Biologe Kevin Esvelt, der die wissenschaftlichen Grundlagen zum Thema vorstellte, ethische Herausforderungen eher auf der individuellen Ebene, da Entscheidungen über die Anwendung voraussichtlich in Einzelfallabwägungen getroffen würden und deren Folgen in erster Linie für die direkt betroffenen Familien relevant seien. Berührungen der Menschenwürde könnten sich aber auch im Zusammenhang mit Szenarien ergeben, bei denen nicht das menschliche Genom, sondern das von Tieren verändert wird.

Esvelt forscht an sogenannten Gene Drives, molekularen Mechanismen, die dafür sorgen, dass bestimmte Gensequenzen überdurchschnittlich häufig weitervererbt werden. Kombiniert mit Genome-Editing-Methoden wie dem CRISPR/Cas-System können gewünschte Genveränderungen rasch in einer Population wilder Organismen verbreitet werden, um beispielsweise krankheitsübertragende Insekten, Parasiten oder Agrarschädlinge harmlos zu machen oder gar auszurotten.

Sowohl die Anwendung einer solchen Technik als auch ihre Unterlassung könnten weitreichende Folgen für ein Ökosystem und die darin lebenden Menschen haben, betonte Esvelt: "Wenn wir eine Technik erst einmal haben, sind wir verantwortlich für deren Einsatz, aber auch für ihren Nicht-Einsatz." Sollte das Potenzial von Gene Drives, Malaria auszurotten, etwa aufgrund von vertrauenszerstörenden Fehlern in Wissenschaft oder Politik nicht verwirklicht werden, könne dies den Tod vieler Kinder nach sich ziehen, die andernfalls vielleicht hätten gerettet werden können. Angesichts der Tragweite von Freilandanwendungen sei es besonders wichtig, die potenziell Betroffenen von Anfang an in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Esvelt setzt sich daher für einen offeneren Wissenschaftsprozess ein, der sich durch Transparenz und Partizipation schon in der Planungsphase von Experimenten auszeichnen sollte.

Die Medizinethikerin und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Claudia Wiesemann lenkte den Fokus zurück auf mögliche Herausforderungen für die Menschenwürde durch Eingriffe in das menschliche Genom. Der Menschenwürdebegriff wurde bislang beispielsweise zur Ablehnung jeglicher Eingriffe in das Genom herangezogen, aber auch als Bezugspunkt für ein Instrumentalisierungsverbot, als Grundlage von Autonomie, Selbstachtung und Handlungsfähigkeit und sogar zur Begründung einer Gattungswürde, die durch Eingriffe in die "Naturwüchsigkeit" des Genoms verletzt werden könnte.

Nach Auffassung von Claudia Wiesemann ergibt sich aus keinem dieser Gesichtspunkte eine zwingende Ablehnung jeglicher Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Zwar ließen sich einige Eingriffe recht eindeutig als illegitim bewerten, weil sie etwa gegen das Instrumentalisierungsverbot verstoßen. Es gebe aber auch "einen großen Graubereich von Eingriffen, die sich nicht so leicht ausschließen lassen", über den, wie auch von Kevin Esvelt gefordert, ein breiter gesellschaftlicher Diskurs geführt werden müsse. Ob konkrete Anwendungen beispielsweise die Entwicklung eigener Wert- und Sinnperspektiven oder die Selbstachtung gefährdeten, eine nicht vertretbare Manipulation bedeuteten oder die Handlungsfähigkeit über Gebühr einschränkten, sind laut Wiesemann Fragen, "die von allen diskutiert werden müssen und nicht nur von Forschern, die solche Techniken in Laboren vorantreiben".

Einen solchen Diskussionsbeitrag lieferte anschließend Ethikratsmitglied Stephan Kruip in einem Kommentar aus Sicht eines Mukoviszidose-Patienten, in dem er allzu hohe Erwartungen an künftige Keimbahntherapien dämpfte. Jedenfalls bei Erkrankungen wie der Mukoviszidose, zu deren Vermeidung auch Alternativen wie die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Verfügung stünden, sei der Kreis derjenigen, die einen womöglich auch langfristig risikoreicheren Keimbahneingriff wählen würden, eher klein. Am ehesten wären dies Personen, für die eine PID aus Überzeugung oder aufgrund zu weniger geeigneter Eizellen nicht infrage kommt, oder die genetisch so betroffen sind, dass alle ihre Nachkommen die Krankheit sicher erben würden. Einen Verstoß gegen die Menschenwürde bedeuten Keimbahneingriffe für Kruip gleichwohl nicht - jedenfalls dann nicht, wenn ein solcher Eingriff aus der altruistischen Absicht der Eltern erfolgt, ihrem Kind schweres Leid zu ersparen.

In der anschließenden Diskussion herrschte unter den Referenten Einigkeit, dass künftige Entscheidungen über Genomeingriffe stets nur für das jeweilige Anwendungsszenario getroffen werden sollten, da Pauschalisierungen in diesem Bereich schnell an ihre Grenzen stoßen. Dies wurde auch in den Rückfragen aus dem Publikum deutlich, die sich unter anderem mit den wirtschaftlichen Interessen hinter neuen Gentechniken und der sogenannten Biohacker-Szene befassten.

Künstliche Intelligenz

Nach Beleuchtung der Möglichkeiten, technisch in biologische Systeme einzugreifen, wechselte der Fokus mit der dritten und letzten thematisierten Technologie zu den Möglichkeiten, so viel Rechenleistung und biologische Flexibilität in maschinelle Systeme einzubringen, dass künstliche Intelligenz entsteht. Der Informatiker Thomas G. Dietterich, der in die wissenschaftlichen Grundlagen des Themas einführte, definierte künstliche Intelligenz als "unterschiedliche Technologien, die kombiniert werden, um bestimmte intellektuelle Fähigkeiten des Menschen zu maschinisieren" - und zu erweitern. Maschinelles Lernen funktioniere bislang meistens mithilfe von Trainingsdatensätzen und Simulationen. So könnten Maschinen beispielsweise die Regeln eines Spiels erlernen oder Gesichter oder Fahrzeuge zuverlässig auf Bildern erkennen. Mögliche Anwendungen reichten derzeit von "smarten" Infrastrukturen über leistungsfähige Bildanalysen, z. B. in der Medizin, bis hin zu scheinbar autonom agierenden Maschinen wie selbststeuernden Autos und Pflegerobotern.

Schon jetzt werde die Menschenwürde durch die Möglichkeit zu engmaschiger Überwachung und die Verwendung fehlerhafter und Diskriminierungen enthaltender Trainingsdatensätze gefährdet, wie etwa das chinesische "Sozialkredit-System" zeige. Je komplexer und leistungsfähiger künstliche Intelligenz werde, desto eher stelle sich zudem die Frage, inwieweit die Grenze zwischen Mensch und Maschine angesichts von Versuchen, menschliche Empathie und moralische Handlungsfähigkeit maschinell zu simulieren, klar aufrechterhalten werden könne.

In ihrer anschließenden Analyse der Berührungspunkte zwischen Menschenwürde und künstlicher Intelligenz formulierte die britische Philosophin Paula Boddington ein klares Plädoyer dafür, schon gegenüber gegenwärtigen Anwendungen wachsam zu sein. Bemühungen von Konzernen und Regierungen, mithilfe lernender Algorithmen menschliche Kommunikation zu beeinflussen, statt Menschen zu ermuntern, ihre eigene intellektuelle und moralische Urteilskraft zu entwickeln, seien ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie künstliche Intelligenz nicht eingesetzt werden sollte. "Eine solche Verwendung künstlicher Intelligenz könnte die Menschenwürde bedrohen, indem sie unsere Fähigkeit, als moralisch verantwortliche Akteure zu handeln, schwächt", so Boddington.

Ethikratsmitglied Steffen Augsberg wandte in einem Kommentar aus juristischer Perspektive ein, dass nicht jede womöglich zu erwartende Einschränkung individueller Rechte durch Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz auch schon eine Verletzung der Menschenwürde bedeute, und warnte davor, sich auf den Schutz der Menschenwürde zu berufen, wenn andere Grundrechte berührt seien. In Übereinstimmung mit Boddington betonte Augsberg aber auch, dass die Diskussion zur künstlichen Intelligenz eine Gelegenheit sei, das Konzept der Menschenwürde überhaupt auf den Prüfstand zu stellen.

In der anschließenden Diskussion konzentrierten sich Referenten und Teilnehmer aus dem Publikum insbesondere auf den Umstand, dass Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz die Menschenwürde weniger direkt durch maschinelle Übergriffe auf einzelne Personen tangieren könnten, als vielmehr mittelbar durch Veränderungen im zwischenmenschlichen Miteinander.

Internationaler Kontext

Im letzten Teil der Tagung kamen fünf Vertreter europäischer Ethikräte, mit denen sich der Deutschen Ethikrat seit Jahren intensiv austauscht, auf einem von Peter Dabrock moderierten Podium zu Wort: der Philosoph David Archard vom britischen Nuffield Council on Bioethics, die Juristin Andrea Büchler von der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin in der Schweiz, die Juristin Christiane Druml von der österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, die Medizinethikerin Christiane Woopen von der European Group on Ethics in Science and New Technologies und der Philosoph Frédéric Worms vom französischen Comité consultatif national d'éthique.

Im Gespräch kristallisierte sich bald heraus, dass das Konzept der Menschenwürde - wie auch schon im Verlauf der Tagung mehrfach angeklungen - nicht nur facettenreich und mitunter schwer zu bestimmen ist, sondern dass seine Bedeutung und Interpretation auch international variiert und der Begriff gelegentlich zur Rechtfertigung sehr unterschiedlicher Positionen verwandt wird. Um seine Aushöhlung zu vermeiden, sei es wichtig, zurückhaltenden Gebrauch vom Konzept der Menschenwürde zu machen und es als Grundlage einer werteorientierten pluralen Gesellschaft hochzuhalten.

Ebenso herrschte Einigkeit, dass es in einer solchen Gesellschaft, gerade wenn sie sehr heterogen zusammengesetzt ist, nicht darum gehen kann, um jeden Preis einen Konsens zu finden, sondern Meinungsvielfalt auszuhalten, Multidimensionalität sichtbar und Positionen wie Argumente transparent zu machen. Hierzu könnten und sollten Ethikräte einen wichtigen Beitrag leisten. Dies gelte gerade auch mit Blick auf die Menschenwürde als Orientierungspunkt für die Bewertung der im Laufe der Tagung besprochenen neuen Technologien, so Peter Dabrock in seinem Schlusswort: "Diesseits der Richtigkeit des Instrumentalisierungsverbotes, des Nicht-demütigen-Sollens und mit Blick auf Technologien, die einerseits auf leisen Sohlen daherkommen und andererseits einen zunehmend starken Einfluss auf unser Leben gewinnen werden, ist deutlich geworden, dass man, gerade wenn man Menschenwürde als ein Achtungskonzept und Schutzkonzept begreifen möchte, es einbetten muss in eine Kultur der Achtung voreinander und in eine politische und demokratische Kultur." (He, Sc, Ga)


INFO

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Detaillierte Informationen zur Jahrestagung (Programm, Vorträge, Mitschnitte, Mitschrift, Fotos, Pressemitteilung, Tagungsmappe:
www.ethikrat.org/jahrestagungen/des-menschen-wuerde-in-unserer-hand-herausforderungen-durch-neue-technologien

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Quelle:
Infobrief Nr. 23 - Juli 2018 - 02/18, Seite 1 - 8
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2019

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