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ETHIK/1301: Jahrestagung "Pflege - Roboter - Ethik. Ethische Herausforderungen der Technisierung der Pflege" (Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 25 - Juli 2019 - 02/19

Jahrestagung
Pflege - Roboter - Ethik: Eine spannungsvolle Beziehung


Am 26. Juni hat der Deutsche Ethikrat seine diesjährige Jahrestagung zum Thema "Pflege - Roboter - Ethik. Ethische Herausforderungen der Technisierung der Pflege" in Berlin durchgeführt. Über 600 Anmeldungen zeugen von dem großen Interesse breiter Kreise der Öffentlichkeit an diesem Thema.


Betrachtet man die wachsende Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland und die Zukunftsprognosen, die davon ausgehen, dass um 2050 allein im Bereich der Altenpflege 5,3 Millionen Menschen pflegebedürftig sein werden, so ist dies ein Trend, der angesichts des zunehmenden Mangels an Pflegepersonal beunruhigt und Lösungen verlangt. Ob assistive Technologien, speziell aus den Bereichen Robotik und Künstliche Intelligenz, zu einer Verbesserung der Pflegesituation beitragen können, wurde unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jahrestagung kontrovers diskutiert.

Die Jahrestagung des Deutschen Ethikrates beschäftigte sich mit den komplexen ethischen Fragen, die der Einsatz von Robotertechnologien in der Pflege und insbesondere in der Altenpflege aufwirft. Zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Informatik, Medizin, Psychologie, Medizinethik, Rechtswissenschaft und Kulturanthropologie sowie Angehörigen von Senioren-Organisationen wurde darüber diskutiert, welche Chancen und Risiken mit der Nutzung robotischer Systeme in den verschiedenen Handlungskontexten der (Alten-)Pflege verbunden sind. Darüber hinaus bot die Tagung im Rahmen eines Praxisparcours Gelegenheit, einschlägige Forschungsprojekte im Bereich der assistiven Robotik kennenzulernen und diese einer ethischen Reflexion zu unterziehen. Die Inhalte der Foren und des Abschlusspodiums der Tagung wurden zudem mithilfe von Graphic Recordings dokumentiert.

In seiner Eröffnungsrede regte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Peter Dabrock dazu an, den Tagungstitel "Pflege - Roboter - Ethik" als Spannungsverhältnis zu lesen, in dem sich Verbindendes und Trennendes zeigt, das Widerständiges birgt, aber auch Chancen der Vermittlung enthält. Jene Beziehung auszuloten, sei Ziel der Tagung. Dabei sei in den Diskussionen um den Einsatz von Robotertechnologien zu bedenken, dass es in der Pflege zunächst um soziale Beziehungen, um Nähe und Zuwendung gehe. Die Sorge der Menschen vor der zunehmenden Vermenschlichung von Robotern und Künstlicher Intelligenz sei oft verbunden mit der fehlenden Anerkennung menschlicher Pflege und der Befürchtung, Roboter könnten von individuellen und sozialen Problemlagen ablenken oder sie kaschieren. Neue Assistenztechnologien, so Peter Dabrock, taugen nicht als einfache Problemlöser für den aktuellen Pflegenotstand und noch weniger als Ersatz für die sorgende Pflegekraft im stationären und häuslichen Kontext. Innovationsprozesse und Technologien könnten nur erfolgreich in der Gesellschaft eingesetzt werden, wenn sie mit den Menschen entwickelt würden und nicht gegen sie.

Einführungsvorträge

Daran anschließend betonte der Informatiker Sami Haddadin in seinem Eröffnungsvortrag, dass die Robotik ein Werkzeug des Menschen ist, das zu seinem Wohle und Nutzen eingesetzt werden sollte. Der Mensch habe heute die Möglichkeit, die Technik von morgen zu gestalten und dabei auch nach ethischen Gesichtspunkten zu formen. Es müsse darum gehen, jene Technologien langfristig für alle Menschen nutzbar und bezahlbar zu machen. Das von Haddadin geleitete Projekt Geriatronik ziele auf die Entwicklung altersgerechter Roboterhilfen, die zusammen mit Senioren partizipativ entwickelt und zukünftig in Pilotwohnungen in Garmisch-Partenkirchen erprobt werden sollen. Beispielhaft für einen robotischen Alltagshelfer präsentierte Haddadin zusammen mit seinem Team den humanoiden Assistenzroboter GARMI, der mittels einer multimodalen und multisensoriellen Telepräsenz-Station von medizinischem Personal oder Angehörigen gesteuert werden kann und so die (medizinische) Betreuung aus der Entfernung ermöglicht. Haddadin warnte davor, die Möglichkeiten der Robotik vorschnell abzulehnen. Man solle stattdessen die Potenziale für die Nutzerinnen und Nutzer von morgen im Blick behalten.

Die Informatikerin Elisabeth André, deren interdisziplinäre Forschung sich an der Schnittstelle von Psychologie und Technik bewegt, sprach über die Wirkung von sozial interagierenden Robotern, die eine bestimmte Funktion übernehmen und gleichzeitig mit den Nutzern in Anlehnung an die Formen zwischenmenschlicher Kommunikation interagieren und so zu einem gewissen Grad den menschlichen Ausdruck simulieren. André ging der Frage nach, inwieweit Roboter zu einer multimodalen sozialen Kommunikation fähig sind und ob dies, aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer, überhaupt wünschenswert sei. Sie machte darauf aufmerksam, dass Roboter bei älteren Menschen durchaus stimmungsaufhellend wirken könnten. So reagierten Demenzpatienten mit Interesse auf bestimmte "Roboter-Gefährten", auch wenn sie zögerten, sie zu berühren. Zudem zeigten Studien, dass ein emotionales Verhalten von Robotern zum Aufbau sozialer Beziehungen beitragen könne. Diese Entwicklungen seien aber auch kritisch zu betrachten. Gerade im Hinblick auf diversifizierende Faktoren wie das Geschlecht, lässt sich eine Fortschreibung und Verstetigung von Stereotypen beobachten. Es reichten schon minimale Schlüsselreize wie der Name oder die Stimme des Roboters, um Geschlechterstereotype in der Interaktion zu aktivieren. Hier müsse die zukünftige Forschung ansetzen, um eine geschlechtersensible bzw. geschlechterneutrale Technikentwicklung voranzutreiben. Zugleich plädierte André dafür, den Einfluss der wahrgenommenen Persönlichkeit von Robotern noch intensiver zu erforschen.

Der Vortrag der Bioethikerin Aimee van Wynsberghe beleuchtete die Voraussetzungen und Kriterien einer verantwortungsvollen Robotik. Es müsse überprüfbare Qualitätskriterien für Robotertechnologien geben, auf deren Grundlage die Nutzerinnen und Nutzer eine informierte Entscheidung treffen können. Zugleich, so Wynsberghe, dürfe die ethische Betrachtung der Technik nicht an letzter Stelle des Entwicklungsprozesses stehen, sondern müsse der Designentscheidung vorausgehen bzw. prozessbegleitend implementiert werden. Dem gehe allerdings noch ein weiterer Schritt voraus, denn prinzipiell sollte man sich immer fragen, ob die technische Lösung tatsächlich die erste Wahl darstellt, um zum Beispiel der zunehmenden Vereinzelung und Einsamkeit der Menschen im Alter zu begegnen. Nach van Wynsberghe müssten Künstliche Intelligenz und Robotik ganzheitlich orientiert sein. Eine auf Teilschritte und Aufgaben reduzierte Robotik, die die holistische Vision der Pflege ignoriert, führe nicht nur zu schlechten Roboterleistungen, sondern auch zu einer "Erosion der Werte". Um negativen Entwicklungen vorzubeugen, schlug van Wynsberghe vor, ein "pflege- und wertebasiertes Design" einzuführen, das für den jeweiligen Kontext der Pflege und unter Einbeziehung der betroffenen Akteure entwickelt werden müsse. Dabei sollten sich Ethiker als Gestalter dieses Interaktionsprozesses einbringen und zusammen mit den Technikern zu einer verantwortungsvollen Robotik beitragen.

In der von der Ethikerin Judith Simon moderierten Fragerunde wurde noch einmal deutlich, welche Herausforderungen der Einsatz von robotischen Systemen birgt. So kamen die Unterschiede in den verschiedenen Nutzungskontexten und die Tragweite der psychologischen Effekte in der Mensch-Maschine-Interaktion zur Sprache. Besonders die Präsenz sozial interagierender Roboter werfe Fragen nach deren ontologischer und rechtlicher Anerkennung auf. Der Roboter fungiere einerseits als sozialer Agent, zugleich betrachte man ihn als dienendes Werkzeug, das bestimmte soziale Bedürfnisse erfüllen soll. Die Referenten waren sich einig, dass sich dieser Widerspruch nicht einfach auflösen lässt. Stattdessen sollte man diesen Problemen evidenzbasiert nachgehen, sie im konkreten Kontext betrachten und dabei die Grenzen der Intimität für die Nutzerinnen und Nutzer nicht aus den Augen verlieren.

Praxisparcours

Im anschließenden Praxisparcours hatten die Besucherinnen und Besucher die Gelegenheit, Forschungsprojekte im Bereich der assistiven Robotik kennenzulernen und die damit einhergehenden Herausforderungen mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu diskutieren. Dabei wurde die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten deutlich und inspirierte zu tieferen kritischen Gesprächen. Präsentiert wurden Companion Robots wie Pepper und Tablet-basierte Lösungen, die in Pflegeeinrichtungen und im häuslichen Kontext unter anderem zur Aktivierung von demenziell erkrankten Personen eingesetzt werden (ARiA, I-CARE); Serviceroboter und integrierte Hebe- und Tragesysteme, die bei anstrengenden körperlichen Pflegetätigkeiten unterstützen (SeRoDi, STARC); Telepräsenzroboter, die Diagnosen und Hilfestellungen aus der Ferne ermöglichen und deren Vorteile derzeit vor allem im ländlichen Raum erprobt werden (RoboLand); feinfühlige humanoide Roboter, die als Alltagshelfer agieren (GARMI) sowie Rollstuhlassistenten, die motorisch eingeschränkte Menschen unterstützen sollen (SMiLE). Zugleich finden Assistenztechnologien auch in der Aus- und Weiterbildung von formellen und informellen Versorgern Anwendung (FORMAT). Neben dem persönlichen Austausch boten Feedbackwände den Besucherinnen und Besuchern die Gelegenheit, die Projekte nach ethischen Gesichtspunkten zu kommentieren.

Begleitend zur Technikpräsentation wurde die vom Institut für medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité - Universitätsmedizin Berlin in Kooperation mit dem Zentrum für Qualität in der Pflege durchgeführte Studie "Technik in der Pflege - Einstellung von professionell Pflegenden zu Chancen und Risiken neuer Technologien und technischer Assistenzsysteme" vorgestellt.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der folgenden parallelen Foren beleuchteten die Herausforderungen, die mit der Einführung von robotischen Pflegeassistenzsystemen einhergehen, aus verschiedenen Blickwinkeln. Neben den Anliegen von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen kamen anthropologische sowie arbeits- und rechtswissenschaftliche Aspekte zur Sprache.

Autonomie mit autonomen Systemen?

Im Forum I "Autonomie mit autonomen Systemen?", moderiert von der Medizinsoziologin und Gerontologin Adelheid Kuhlmey, nahmen die Vortragenden die Perspektive der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen in den Blick. Die Theologin Regina Ammicht Quinn wies zunächst darauf hin, dass jeder neuen Technologie immer schon Werte eingeschrieben seien. Diese stünden jedoch oft in Konflikt mit anderen Werten, die pflegebedürftige Personen und ihre Angehörigen schätzten. Häufig konfligiere etwa Sicherheit mit Privatheit, Unterstützung mit Autonomie oder Zuwendung mit Authentizität. Diese Wertkonflikte könne die Technik nicht lösen. Dies zu tun, sei Aufgabe der Gesellschaft und könne nur auf der Grundlage eines plausiblen Autonomiekonzepts erfolgen. Dafür sei jedoch ein Kulturwandel erforderlich, der mit einer veränderten Haltung gegenüber Schwäche und Hinfälligkeit einhergehen müsse. Anderenfalls bestehe die Gefahr gesellschaftlicher "Vergleichgültigung". Autonomie sei immer relational, also als "Freiheit in Abhängigkeit" zu verstehen. Davon ausgehend, müssten Wertkonflikte erkannt und in Ausgleich gebracht werden. Erst dann könnten ethische "Leitplanken" zum Umgang mit Technologien im Kontext der Pflege entwickelt werden.

Dennoch könne es auch mit Blick auf Menschen im Alter nicht eine Lösung für alle geben, betonte die Soziologin und Gerontologin Heidrun Mollenkopf. Ihre Bedingungen seien nicht weniger heterogen als die anderer Altersgruppen. Allerdings ließen sich hinsichtlich der Bedürfnisse von Menschen im Alter auch einige Gemeinsamkeiten ausfindig machen. Studien belegten, dass ältere Menschen in der Regel vor allem ein selbstbestimmtes Leben, Gesundheit, Sicherheit, soziale Kontakte und gesellschaftliche Teilhabe anstreben. Aus diesen Studien gehe zudem hervor, dass Menschen im Alter neuen Technologien nach anfänglicher Distanziertheit tendenziell aufgeschlossen gegenüberstehen, sofern sie ihren Nutzen erkennen und in der Lage sind, damit umzugehen. Neben rationalen, technischen und soziokulturellen Barrieren, seien jedoch auch Ängste im Umgang mit modernen Technologien Grund für eine Distanzierung. Man müsse diese Ängste berücksichtigen und gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen abbauen. Gleiches gelte für den Umgang mit robotischen Assistenzsystemen, auch wenn es hierfür bislang keine hinreichende Evidenz gebe.

Wie der Psychologe Hans-Werner Wahl zeigte, ist die Datenlage zur Wirksamkeit assistiver Systeme im Hinblick auf Erfahrungs- und klinisches Wissen - insbesondere auf lange Sicht - ebenso defizitär. Für eine profunde ethische Abwägung bedürfe es deshalb dringend besserer Daten. Existierende Studien legten jedoch nahe, dass zwar keine großen Effekte zu erwarten seien, Menschen im Alter jedoch durchschnittlich mehr Vor- als Nachteile in technischen Assistenzsystemen erkennen würden. Man müsse jedoch beachten, dass die Entscheidung zur Nutzung solcher Technologien mit Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten behaftet sei. Dies liege unter anderem daran, dass Autonomie grundsätzlich ein vielschichtiges und relationales Konstrukt sei. Deshalb bleibe die Nutzung von Technologien im hohen Alter ambivalent und äußerst komplex. Von Vereinfachungen und Aktionismus sowie von Optimierungswahn und Interventionismus müsse dringend Abstand genommen werden. In der dadurch verlangsamten Entwicklung von Technologien für diese Lebensphase könne jedoch auch eine Chance liegen, sie zu gestalten, ohne dabei die kritische Distanz zu verlieren.

Anthropologische Perspektiven

Unter der Leitung des Theologen Andreas Lob-Hüdepohl ging es in Forum II "Robotik und neue Altersbilder" um anthropologische Perspektiven. Die Psychologin Cordula Endter untersuchte, wie sich unsere Altersbilder auf die Entwicklung und die materielle Gestalt von Robotern auswirken und was dies wiederum für die Nutzung der Roboter bedeutet. Indem sie konsequent von Roboter*innen sprach und postulierte, dass auch diese "Fürsorge brauchen", irritierte sie zunächst Teile des Publikums, erreichte jedoch ihr Ziel, stärker zu hinterfragen, welche Annahmen und Bedürfnisse den Gestaltungs- und Diskussionsprozess rund um das Thema Robotik und Pflege bestimmten. Sie kritisierte insbesondere die Problemfixierung technischer Entwicklungsprozesse. Indem Alter(n) zu sehr als Problem betrachtet werde, das es mithilfe von Technik zu lösen gelte, entstehe ein zu stark defizitorientiertes Altersbild. Dies wiederum könne zu einer Technikentwicklung führen, die den Bedürfnissen der Gepflegten und Pflegenden nicht gerecht wird.

Der Anthropologe und Theologe Arne Manzeschke befasste sich näher mit der Frage, was Menschen begegnet, wenn sie mit Robotern interagieren. Das Angebot entwickle sich von rein industriellen Robotern über Serviceroboter zunehmend hin zu sozio-emotionalen Robotern, bei deren Nutzung Gefühle oder soziale Interaktion im Vordergrund stünden. Im Gegensatz zum Menschen, der sich als Lebewesen seine eigenen Zwecke setze, seien Roboter "unbelebte, variabel programmierbare Manipulatoren", deren Zwecksetzung von außen erfolge und die Lebewesen nur ähnelten. Wo Roboter für sozio-emotionale Zwecke eingesetzt würden, könne es nach Manzeschkes Ansicht zu Problemen kommen, wenn zum Beispiel der Mensch Anerkennung von Robotern erwartet, die diese so gar nicht zollen könnten. Auch den zunehmenden Einsatz maschinellen Lernens in der Robotik sah Manzeschke teilweise kritisch, da hier mitunter unbestimmt bleibe, was der Roboter tut und wie er es tut. Diese Freiheitslücke sei zugleich eine bisher nicht geklärte Verantwortungslücke.

Der Medizinethiker Mark Schweda lenkte den Blick zurück auf den Menschen und die Altersbilder. Er kritisierte, dass negative Altersbilder in Medizin und Gesundheitswesen vorherrschten und das Konzept des Alters in vielen visuellen Darstellungen, auf vergleichsweise junge und rüstige Senioren eingeengt werde. Da Altersbilder die Einstellungen und das Verhalten aller Beteiligten beeinflussten und damit auch die medizinische und pflegerische Versorgung älterer Menschen, sei es wichtig, sie angemessen zu differenzieren und ethisch zu reflektieren. Er plädierte für das Konzept einer "Lebensverlaufsperspektive", in der unterschiedliche Phasen des Lebens und auch des Alterns in ihrer je eigenen moralischen Bedeutung berücksichtigt würden. Damit könne man geeignete Maßstäbe guten Lebens in bestimmten Altersphasen herausarbeiten, die auf die jeweils unterschiedlichen Bedürfnisse und Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen eingingen, so Schwedas Fazit.

Arbeits- und rechtswissenschaftliche Perspektive

Das von der Medizinerin und Gerontologin Elisabeth Steinhagen-Thiessen moderierte Forum III beschäftige sich mit arbeits- und rechtswissenschaftlichen Fragen. Die Pflegewissenschaftlerin Helma Bleses diskutierte anhand des Projekts RoboLand die Wirkung von Telepräsenz-Systemen auf Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Wahrnehmung des technischen Systems im häuslichen Kontext und dessen Einfluss auf die Privatsphäre der Betroffenen. Bleses zufolge stellt der Einsatz robotischer Telepräsenzsysteme einen Eingriff in die Lebenswelt und damit in den privaten (Schutz-)Raum von Personen dar, die aufgrund einer Demenz unterschiedlich schwer kognitiv beeinträchtigt sind. Sie verwies auf die Gefahren des Kontrollverlustes und die damit einhergehende Überwachung des Alltags und der intimsten Verrichtungen. Zugleich hob Bleses die Chancen des Telepräsenzsystems hervor, die vor allem in der Wahrnehmungserweiterung lägen und der Teilhabe und Begegnung mit Familienangehörigen trotz der räumlichen Entfernung. Jede telepräsente Situation bedürfe aber zunächst eines ethischen Clearings, zum Beispiel in Form von Fallbesprechungen oder Familienkonferenzen, um den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht zu werden.

Der Jurist und Hauptgeschäftsführer der Bundesgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Stephan Brandenburg, präsentierte die Ergebnisse der Studie "Pflege 4.0" und nahm damit die Einstellung von Pflegekräften zum Einsatz digitaler Technologien in der Pflege und die konkreten versicherungsrechtlichen Fragen, die sich im Umgang mit Robotertechnologien stellen, in den Blick. Pflegekräfte stünden dem Einsatz von digitalen Technologien grundsätzlich positiv gegenüber, allerdings zeigten sich große Unterschiede hinsichtlich der Art der eingesetzten Technik. Während die elektronische Dokumentation und Kommunikation auf weitgehende Akzeptanz stoße, fänden Telecare/Telemedizin und Robotik weniger Anklang. Nicht zuletzt stünden Entwicklungen in diesen Feldern noch am Anfang. Die Akzeptanz, so Brandenburg, hänge vom Grad der Bekanntheit und Sicherheit ab, die Pflegekräfte im konkreten Arbeitsalltag mit den Technologien verbänden. Der Aus-, Fort- und Weiterbildungsbedarf im Bereich der Digitalisierung werde durchweg in allen Bereichen als sehr hoch bewertet. Auch in rechtlicher Hinsicht gebe es noch viele offene Fragen zu klären.

Diese Fragen suchte der Rechtswissenschaftler Gerhard Wagner zumindest für den Bereich des Haftungsrechts in der Pflege zu beantworten. Wagner stellte fest, dass eine Anwendung des "anthropozentrischen Sorgfaltsmaßstabs" auf autonome technische Systeme erfordere, dass diese erst eingeführt werden, wenn sie insgesamt weniger Schäden verursachten als ein Mensch. Jenseits dieser Schwelle bedürfe es eines "systembezogenen Sorgfaltsmaßstabs", der den steuernden Algorithmus in den Blick nimmt. Zugleich sei die Anwendung eines systembezogenen Fehlerbegriffs durch ein Gericht "schwierig oder führe zu dysfunktionalen Ergebnissen". Sofern durch einen fehlerhaft konstruierten Roboter ein Schaden entstünde, wäre derzeit zunächst der Hersteller haftungsrechtlich in der Pflicht. Daneben bestehe die Verschuldenshaftung des Anwenders für Fehlgebrauch, Missbrauch und mangelhafte Wartung autonomer technischer Systeme. Nach geltendem Recht gebe es keine Zurechnungsnorm für das Verhalten des Roboters. Ein Haftungsanspruch an den Roboter würde daher mit der Anerkennung des autonomen technischen Systems als Rechtssubjekt einhergehen (ePerson). Ontologisch gesehen, gelten aber nur Menschen als Rechtssubjekte, denn die Rechtsfähigkeit erfordert die Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung. Er hielt daher das derzeitige Haftungsrecht bezüglich der möglichen Schäden durch Roboter für ausreichend und plädierte gegen die Schaffung eines neuen "Roboterhaftungsrechtes".

Pflege - Roboter - Ethik: Die Zukunft verantwortlich gestalten

Gegenstand des dritten Tagungsblocks war die Zusammenführung der Diskussionen aus den Foren im Hauptsaal und die Podiumsdiskussion zum Thema "Pflege - Roboter - Ethik: Die Zukunft verantwortlich gestalten".

Zunächst präsentierten Adelheid Kuhlmey, Andreas Lob-Hüdepohl und Elisabeth Steinhagen-Thiessen die Schwerpunkte und Ergebnisse der einzelnen Foren, die von drei Grafikerinnen eindrucksvoll simultan visualisiert worden waren.

Die abschließende, von der Medizinethikerin und stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates Claudia Wiesemann moderierte Podiumsdiskussion war der Frage gewidmet, wie eine verantwortungsvolle Gestaltung neuer Pflegetechnologien aussehen sollte. Dabei wurden unterschiedliche Lösungsansätze gefunden. Der Psychologe und Gerontologe Andreas Kruse betonte gleich zu Beginn: "Wenn wir über die Technologien sprechen, müssen wir uns vor Augen führen, dass wir zentrale Dimensionen des Menschseins nicht vernachlässigen beziehungsweise dass wir den Blick auf einzelne Dimensionen des Menschseins nicht verengen". Viele Aspekte der Pflege, so Kruse, erhielten ihre Bedeutung erst durch die Berührung des anderen Menschen. Diese Einsicht sei nicht mit einer generellen Abkehr von der Technik verbunden. Die digitale Technologie könne die Pflege in hohem Maße bereichern, zum Beispiel im Bereich der neuronalen Diagnostik bei Schlaganfallpatienten. Auch bei demenziell erkrankten Menschen können derartige Technologien in lebendige soziale Kommunikationsstrukturen eingebettet werden und ein zusätzliches aktivierendes Moment darstellen. Aber keinesfalls, dies machte Kruse deutlich, sollte man der Vorstellung anheimfallen, dass man das Problem des Pflegekräftemangels mit einer forcierten Roboterentwicklung lösen könne. Dies wäre ethisch und anthropologisch höchst problematisch.

Die Theologin Regina Ammicht Quinn bezweifelte, dass die Verlagerung von Aufgaben, die mit Robotik möglich werden, und die damit einhergehende oft postulierte Zeitersparnis eine tatsächliche Entlastung der Pflegekräfte bedeute. Diesem Trugschluss sei man auch mit anderen Errungenschaften der technischen Moderne aufgesessen - denke man nur an die Einführung der Waschmaschine in den 50er-Jahren. Man müsse sich, so Ammicht Quinn, "heute für die Zukunft entscheiden, ob Pflege eine Arbeit ist, die ihren Wert hat oder eine Ware, die ihren Preis hat."

Helma Bleses ging auf die Frage nach dem Recht auf Mitbestimmung und den Möglichkeiten der Teilhabe von Pflegekräften und Pflegebedürftigen an der Entwicklung technischer Lösungen ein. Sie sprach sich sehr klar für die Einbindung aller an der Pflege Beteiligten in der Gestaltung der Technik aus. Gerade der universitäre Kontext würde dafür die Rahmenbedingungen bieten. Es müsse bei der Entwicklung neuer Anwendungen weniger um das Potenzial der Technik als vielmehr um das Potenzial der Patienten gehen. Besonders im Umgang mit vulnerablen Personen sei die Technik dazu da, vorhandene Ressourcen zu aktivieren und zu unterstützen. Vor allen technischen Überlegungen müsse die genaue Betrachtung und Evaluation des menschlichen Vermögens stehen.

Die Befähigung im Alter spielte auch in Mark Schwedas Beitrag eine zentrale Rolle. Schweda sah vor allem Altersstereotype am Werk, die die gesellschaftliche Perspektive auf die Technisierung der Pflege verengten. Er plädierte für eine "ehrliche, fundierte Auseinandersetzung mit diesen neuen Technologien". Dies könne nur geschehen, wenn man die betroffene Zielgruppe, das sogenannte vierte Alter, in den Blick nimmt. Die Technologien, so Schweda, dürften nicht zu einer Distanzierung führen. Vielmehr solle man die Technologien nutzen, um das vierte Alter "präsenter wahrzunehmen, es in die Gesellschaft und das öffentliche Bewusstsein zu bringen, und eine differenzierte Diskussion über seine Probleme, Möglichkeiten und Entwicklungspotenziale führen zu können".

Auch in der folgenden Diskussion wurde deutlich, dass man die Furcht und Sorgen älterer Menschen, als defizitär und unselbstständig zu gelten, ernst nehmen sollte. Der Einsatz von Robotertechnologien dürfe nicht dazu führen, diese Bedenken noch zu verstärken.

Zugleich betonten alle Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer die Bedeutung sozialer Abhängigkeiten und zwischenmenschlicher Beziehungen. Digitale Technologien müssten eingebettet sein in ein Netzwerk von guten sozialen Beziehungen, argumentierte Kruse. Unter dieser Voraussetzung könne man einen selbstbestimmten Umgang mit robotischen Hilfen ermöglichen. Es herrschte Einigkeit darüber, dass man sich zunächst darauf verständigen müsse, welche Pflegebereiche und -aufgaben durch Robotik gestaltet und entlastet werden sollen und welche nicht. Dies sei nicht zuletzt eine gesellschaftliche Aufgabe. Konsens bestand auch hinsichtlich der Frage nach der guten Pflege, die alle Beteiligten in der hinreichenden zwischenmenschlichen Betreuung und Zuwendung sahen. Robotertechnologien seien keine Lösung für den Pflegekräftemangel, sie könnten unterstützend wirken, Pflegekräfte aber nicht ersetzen.

Die Aussage, der Mensch müsse im Mittelpunkt stehen, habe, so der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Peter Dabrock in seinem Schlusswort, im Laufe der Tagung an Schärfe und auch an Zweideutigkeit gewonnen, bedenke man die Intensitäten, in denen die Technik in die körpernahen und somit intimsten Bereiche des Menschen vorzudringen vermag. Die Beiträge hätten gezeigt, dass die Chancen und Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, aber auch die Gefahren und Risiken, die sie beinhaltet, im Bereich der Pflege so einzusetzen sind, dass sie am Ende wirklich dem Menschen dient. Es gehe darum, die Potenziale des Menschen zu heben - bis ins hohe Alter.
(Si, He, Sc)

INFO

- QUELLE
Detaillierte Informationen zur Jahrestagung (Programm, Vorträge, Graphic Recordings, Mitschnitte, Mitschrift, Fotos, Pressemitteilung, Tagungsmappe):
https://www.ethikrat.org/jahrestagungen/pflege-roboter-ethik-ethische-herausforderungen-der-technisierung-der-pflege/

- STUDIE
Informationen zur Studie "Technik in der Pflege - Einstellungen von professionell Pflegenden zu Chancen und Risiken neuer Technologien und technischer Assistenzsysteme" finden Sie unter
https://www.zqp.de/wp-content/uploads/ZQP-Bericht-Technik-prof-Pflege.pdf und
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-58935-9_17.

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Quelle:
Infobrief Nr. 25 - Juli 2019 - 02/19, Seite 1 - 8
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2019

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