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ETHIK/1326: Also sprach der Zweite Senat ... "Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 134 - 2. Quartal 2020
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Also sprach der Zweite Senat

Von Stefan Rehder


Lange wurde es erwartet. Ausgerechnet am Aschermittwoch war es dann so weit. Zum Auftakt der Fastenzeit kassierte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts das vom Bundestag erlassene "Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" und erklärte den § 217 Strafgesetzbuch für nichtig. Einstimmig.

Wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende Richter des Zweiten Senats, Andreas Voßkuhle, bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe ausführte, schließe das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Staatsbürgers die "Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, (...) hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen." Friedrich Nietzsche lässt grüßen.

Unter "geschäftsmäßigem" Handeln verstehen Juristen "das nachhaltige (...) Betreiben oder Anbieten gegenüber Dritten mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht". Seit dem Urteil ist - wie schon vor 2015 - nicht nur der Suizid, sondern auch jede Form der Suizidbeihilfe wieder erlaubt. Sterbehilfevereine, wie der von Hamburgs ehemaligem Justizminister Roger Kusch gegründete Verein "Sterbehilfe Deutschland", können damit wieder ihrem todbringenden Geschäft nachgehen.

Das Urteil bedeutet allerdings nicht, dass Suizidwillige einen Anspruch auf Beihilfe zur Selbsttötung gegenüber Dritten geltend machen können "Niemand", heißt es im letzten der sechs dem Urteil vorangestellten Leitsätze, "kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten". Auch verpflichtet das Urteil Ärzte nicht, Suizidwilligen tödlich wirkende Präparate zu verschreiben. Verboten bleibt zudem die "Tötung auf Verlangen" (§ 216 StGB). Ferner verbietet das Urteil dem Gesetzgeber nicht, die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen künftig gesetzlich zu regulieren und dabei auch das Strafrecht in Anschlag zu bringen.

Ungefährlich macht dies das Urteil nach Ansicht seiner Kritiker nicht: "Dieses Urteil wird für viele Menschen, die mit Blick auf Selbsttötung unter großem Druck stehen, eine sehr gefährliche, teils tödliche Wirkung haben", erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand in einer ersten Reaktion. Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und einer der Hauptinitiatoren des Gesetzes sprach von einer "schweren Niederlage", welche "die Menschlichkeit in unserem Land" erlitten habe. "Es ist empirisch nachgewiesen, dass geschäftsmäßige Angebote zu mehr Suiziden führen, über die sehr kleine Zahl derer hinaus, die dies in voller Selbstbestimmung tun. Diese Nebenwirkung auf die vielen Menschen unter Druck bei dem Urteil billigend in Kauf zu nehmen, bedeutet eine neue und sehr beunruhigende Qualität. Ich halte das für falsch und gefährlich", so Brand. Der CDU-Politiker, der bei der Urteilsverkündigung in Karlsruhe selbst zugegen war, kündigte an, er und seine Mitstreiter würden "das Urteil jetzt genau daraufhin untersuchen, welche Möglichkeiten noch bestehen, Gefährdete und auch deren Selbstbestimmung tatsächlich zu schützen. Diese Menschen in Not, ob alt, schwach oder verzweifelt, sind eben nicht in Talkshows zu sehen, sie haben keine lautstarke Lobby und sie haben ganz offenbar bei diesem Urteil keine große Rolle gespielt."

Auch die christlichen Kirchen übten Kritik. In einer gemeinsamen Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, und des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, hieß es: "Mit großer Sorge haben wir zur Kenntnis genommen, dass das Bundesverfassungsgericht am heutigen Tag das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) aufgehoben hat. Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar."

Lebensrechtler zeigten sich "erschreckt" und "erschüttert", Die Vorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), Cornelia Kaminski, sprach von einem "Paradigmenwechsel für Deutschland", der aus christlicher Sicht abzulehnen sei: "Genauso wenig, wie der Mensch sich selbst ins Leben rufen kann, sollte eine Gesellschaft die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er sich dieses Leben selbst jederzeit nehmen kann." Besonders erschreckend sei, dass die Richter das "Recht auf Selbsttötung auf alle Lebensphasen und -situationen angewendet sehen" wollten. Das bedeute, "jeder hat das Recht auf Selbsttötung, unabhängig von Alter und Krankheit", so Kaminski.

Die Lebensrechtlerin kritisierte ferner, dass der assistierte Suizid "als humaner, selbstbestimmter Ausstieg aus einer Situation, die als bedrohlich empfunden wird", gepriesen werde. "Wie wenig selbstbestimmt der sogenannte assistierte Suizid tatsächlich ist, zeigen die Erfahrungen aus anderen Ländern: In den Niederlanden hat die zunehmende Tötung demenzkranker, also nicht selbstbestimmt handelnder Patienten bereits zum Rücktritt eines Mitglieds einer Euthanasiekommission geführt. Eine dieser Patientinnen musste von der Familie festgehalten werden, damit der Arzt das Tötungsmittel verabreichen konnte" aus Kanada berichteten Ärzte, "dass Patienten sich dem Druck der Familie beugen und um Tötung bitten". Eine "humane Gesellschaft" sei dadurch gekennzeichnet, "dass sie ihre Fürsorgepflicht für jeden Einzelnen ernst nimmt und ihr nachkommt". Aufgabe sei es, "Leiden so zu lindern, dass es nicht als unerträglich angesehen wird. Dazu gehört ein Ausbau und eine stetige Verbesserung der Palliativversorgung - sowohl in medizinischer als auch in pflegerischer Hinsicht."

Der Vorsitzende der Ärzte für das Leben (ÄfdL), Paul Cullen, erklärte: "Die Ärzte für das Leben sind durch den Inhalt, aber auch durch den Ton dieses Urteils erschüttert." Das Gericht begründe sein Urteil unter anderem mit der bislang "geringen Bereitschaft" von Ärzten, "Suizidhilfe zu leisten". Solange diese Situation fortbestehe, schaffe sie einen tatsächlichen Bedarf nach geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidhilfe, kritisierte Cullen eine Pressemitteilung des Gerichts. Ferner heiße es in der Mitteilung, "dem Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, [muss] auch faktisch hinreichender Raum zur Entfaltung und Umsetzung belassen werden. Das erfordert nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts." "Einen offeneren Angriff auf die Gewissensfreiheit der Ärzte habe ich seit langem nicht mehr gesehen. Insgesamt liest sich die Pressemeldung, als ob eine der Sterbehilfeorganisationen sie dem Gericht in die Feder diktiert hätte", so Cullen.

Die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), Mechthild Löhr, sprach in einer Erklärung von "einer der dunkelsten Stunden deutscher Rechtsprechung". Mit seinem Urteil habe das Bundesverfassungsgericht nicht nur ein "Recht auf Selbsttötung", sondern auch ein Recht auf "Suizidhilfe" verankert. Der Gesetzgeber könne die Suizidbeihilfe nach Ansicht der Richter zwar regulieren, sei aber verpflichtet, "hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung" für die Entscheidung zur Selbsttötung zu gewährleisten. Damit stelle das Gericht "eindeutig einen Anspruch auf Suizidbeihilfe" her. "Dies kann als radikale Abkehr vom bisherigen Rechtsverständnis des Suizids gewertet werden. Seit Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 war in Deutschland Konsens, dass es kein lebensunwertes Leben gibt", so Löhr.

Dass das höchste deutsche Gericht die Würde des Menschen verwirklicht sehe, wenn ein Leben mit Hilfe Dritter professionell beendet werde, sei "mehr als schockierend". "Es ist beklemmend für uns alle, denn es eröffnet für viele Menschen, deren Leben belastet und schwierig ist, eine nunmehr höchstrichterlich anerkannte und geförderte neue Exit-Strategie in den jederzeitigen Tod." Die CDL-Bundesvorsitzende prophezeite, dass das, was von Einzelnen nun als Recht erstritten worden sei, sich im weiteren Verlauf "als unverhandelbare, 'soziale Pflicht' für die Gesamtheit der Schwachen, Kranken und Alten etablieren" werde. Das belegten die Entwicklungen in den Niederlanden und Belgien.

Befürworter des Suizids und der Suizidhilfe feierten das Urteil dagegen als "Lehrstunde in Sachen Grundrechte". So erklärte die FDP-Bundestagsabgeordnete Katrin Helling-Plahr, Autorin eines Eckpunktepapiers "für ein liberales Sterbehilfegesetz", das sich die FDP-Fraktion im vergangenen November zu eigen machte, auf Twitter: "Heute ist ein guter Tag. Das @BVerfG hat entschieden: § 217 StGB ist nichtig! Es gibt ein grundgesetzlich garantiertes Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Einen gegen die Autonomie gerichteten Lebensschutz kann es nicht geben."

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Dieter Birnbacher, erklärte: "Die DGHS fühlt sich in ihrer Rechtsauffassung bestätigt, dass die grundgesetzlich geschützte freie Entfaltung der Persönlichkeit auch ein Recht auf Wahlfreiheit am Lebensende einschließt." Schwerkranke müssten die Wahl haben, ob sie die Angebote der Palliativmedizin in Anspruch nähmen oder ihr Leben "an der Hand eines fachkundigen Sterbehelfers" beendeten. "Die vom Gericht angemahnten Bestimmungen zum Schutz der Patientenselbstbestimmung sollten zügig auf die politische Agenda", so Birnbacher.

Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS), Michael Schmidt-Salomon, wertete das Urteil gar als "Lehrstunde in Sachen Grundrechte". "Nie zuvor" habe sich ein deutsches Gericht so klar zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über sein eigenes Leben und Sterben bekannt. Mit dem "historischen Urteil" habe "der scheidende BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sich und seinen KollegInnen auf der Richterbank ein Denkmal gesetzt", so Schmidt-Salomon.

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Zwischenruf

Die Lektüre des 96-seitigen Urteils, mit dem das Bundesverfassungsgericht das "Verbot der Förderung der Selbsttötung" für "verfassungswidrig" und den § 217 StGB für "nichtig" erklärte, lohnt. Schon, weil nur der, der das Urteil liest, auch den Mut - oder treffender - die Verwegenheit würdigen kann, mit dem der Zweite Senat dabei zu Werke ging.

Denn wie anders als "tollkühn" lässt sich bezeichnen, dass die Richter in ihm die Rechtsauffassung derart heterogener Gebilde wie der katholischen und evangelischen Kirche, des Zentralrats der Juden, des Deutschen Bundestags, der Bundesärztekammer und der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes und des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe sowie der Deutschen Stiftung Patientenschutz verwarfen und sich - im Wesentlichen - der Rechtsauffassung der Beschwerde führenden Suizidwilligen und zur Suizidhilfe bereitstehenden Vereine und Ärzte anschlossen?

Wie, wenn nicht "forsch", soll man nennen, dass die Richter in ihrem Urteil kaum verholen beklagen, dass die "Mehrheit der Ärzte" die "Bereitschaft zur Suizidhilfe verneint", obwohl sie "den eigenen Berufsstand [dafür] für besonders geeignet" halte? Wie, wenn nicht "draufgängerisch", soll man nennen, dass die Richter zwar den rapiden Anstieg von Suiziden in der Schweiz, Belgien und den Niederlanden mit geradezu buchhalterischer Akribie ausweisen, um anschließend den Gesetzgeber darauf zu vewveisen, ihm stehe ein "breites Spektrum" an Regulierungsinstrumenten offen, um einer solchen Entwicklung in Deutschland zu wehren?

Die Lektüre des Urteils lohnt aber auch, weil man in ihm Friedrich Nietzsche, Galionsfigur vieler "Freidenker", durchzuhören können glaubt, der seinen Zarathustra sagen ließ: "Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will." Wie der Zweite Senat ausführt, erwachse aus dem "allgemeinen Persönlichkeitsrecht" als "Ausdruck persönlicher Autonomie" ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben". Das dem Grundgesetz zugrunde liegende Menschenbild verlange "die Entscheidung des Einzelnen, entsprechend seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz dem Leben ein Ende zu setzen", als "Akt autonomer Selbstbestimmung anzuerkennen".

Daran ist so gut wie alles falsch. Denn Selbstbestimmung setzt notwendig ein Selbst voraus, das bestimmt werden kann. Die Vernichtung dieses Selbst kann daher unmöglich als Akt der Bestimmung dieses Selbst gedacht werden, sondern allenfalls als Verzicht darauf, sich selbst länger zu bestimmen.

Mehr noch: Genau genommen lässt sich die Nichtexistenz, die der Suizidwillige daher allenfalls scheinbar erstrebt, nicht einmal denken. Denn jeder Gedanke, und sei er noch so einfältig, hat etwas zum Inhalt. Das Nichts ist aber nicht etwas, sondern nichts. Es liegt außerhalb des Denkbaren. Was sich aber nicht denken lässt, lässt sich auch nicht wünschen und schon gar nicht als "Gut" erstreben.

Falsch ist auch, dass die Richter das "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" mit dem auf Behandlungsverzicht gleichsetzen. Etwas nicht erleiden zu wollen - zum Beispiel eine Chemotherapie - ist kategorial etwas anderes, als jemanden zu bitten, sich den vermeintlichen Wunsch, nicht mehr zu sein, zu eigen zu machen. Weil das so ist, spricht nichts für Nietzsche, aber viel für Arthur Schopenhauer, dessen Vater sich ertränkte und der in seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" schrieb: "Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden." An diesen wollen und können Sterbehilfevereine nichts ändern. Das kann nur eine solidarische Gesellschaft, die Suizidalität für heilbar und die Fiktion eines selbstbestimmten Sterbens für das hält, was sie in Wahrheit ist: Schlechte Metaphysik tollkühner Richter.

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 134, 2. Quartal 2020, S. 24 - 27
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2020

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